Guild Wars 2 - Test
Einen Monat hinein und die Frage drängt sich auf: Ist ArenaNets Meisterstück gar der lange erwartete Thronfolger des MMO-Genres?
"Du spielst schon wieder Guild Wars 2? Ich dachte, du hast schon drüber geschrieben?"
"Ja, einen Ersteindruck. Der war zwar sehr umfangreich, aber der finale Test steht noch aus."
Und das aus gutem Grund. Manche MMOs machen einem über Monate oder Jahre Spaß. Andere sind schon nach zwei Wochen ausgelutscht wie ein billiger Kaugummi. Zu welcher Sorte ein Kandidat gehört, lässt sich oft erst mit etwas zeitlichem Abstand zum Release beurteilen.
"Hm. Und danach ist fürs Erste Schluss mit Guild Wars?"
"Nein, auf keinen Fall. Ich ... äh ... muss dann natürlich am Ball bleiben. Du weißt schon - regelmäßige Events, neuer Content, Patches und so. Da sollte ich schon täglich mal nach dem Rechten sehen. Und ich hab auch noch nicht alle Völker bis zum Ende durch. Außerdem gibt's da ein paar Flecken auf der Karte, die ich gerne noch gern erforschen würde. Nicht dass ArenaNet irgendwann ein Update rausbringt und ich kenn mich nicht aus."
Klingt nach einer Ausrede? Tja. Was soll ich sagen? Dass ich während der vergangenen 30 Tage seit meinem Ersteindruck in jeder freien Minute Tyria durchstreifte, hat viele Gründe. Zum Beispiel, dass Guild Wars 2 endlich mal wieder ein echtes MMO ist - was zunächst ein wenig paradox klingen mag. Was sind denn dann die anderen Spiele, die sich selbst so bezeichnen?
"Massively" und "Multiplayer" verkommen heutzutage immer häufiger zur sinnfreien Marketing-Phrase. Da stellen sich Entwickler und Publisher ans Pult, preisen die zahlreichen Community-Features ihrer Spiele, doch in der Praxis beschränkt sich das produktive Mehrspieler-Erlebnis auf Raids, ein Auktionshaus, den Chat und etwas PvP. Mit gutem Willen sucht man sich vielleicht noch eine aktive Gilde. Aber ist das wirklich schon genug? Sollte ein MMO nicht mehr zu bieten haben?
Es kommt noch schlimmer. In vielen aktuellen MMOs fühle ich mich geradezu belästigt von anderen Spielern. Bestenfalls nerven sie mich nur. Und das liegt nicht an irgendwelchen Sozialphobien meinerseits, sondern am Gameplay dieser Titel. Da werden alle Anwesenden bestraft, sobald einmal mehr als zehn Spieler gleichzeitig in einem Gebiet herumlaufen. Einander helfen, obwohl man nicht in der gleichen Gruppe ist? Dumme Idee. Stattdessen stelle ich mir Fragen, die in einem MMO eigentlich keinen Platz haben sollten:
'Warum stören die mich jetzt beim Questen?' 'Ich brauch' doch nur noch 15 von den Viechern. Kann ich die Typen ignorieren?' 'Moment! Nimmt der mir etwa die Mobs weg?' 'Argh! Warum muss der mit seinem hochstufigen Kraftprotz gerade jetzt sämtliche Viecher per AoE ziehen?' 'Ich bekomm doch weder Beute noch Erfahrung, wenn ich nicht den ersten Schlag lande.' 'Und was soll das jetzt? Lockt der Honk da vorne etwa den Boss in meine Richtung? Nein! Geh weg!'
Guild Wars 2 macht hingegen nicht trotz sondern wegen der anderen Spieler Spaß. Da wirken einige kluge Designentscheidungen zusammen. Im Wesentlichen sind es drei zentrale Konzepte.
Erstens: Ich bekomme für jedes Monster Beute und Erfahrung, auch wenn ich nur einen einzigen Pfeil drauf abgeschossen habe. Statt sich aus Futterneid gegenseitig die Kills zu klauen, hilft man einander. Das passiert ganz nebenbei, völlig ohne Gruppenzwang und Druck.
Zweitens: die dynamischen Events. Ich kann gar nicht oft genug betonen, wie genial das funktioniert. Ohne auch nur mit einem einzigen NPC geredet zu haben, kann ich mich an Quests in der Spielwelt beteiligen - und das so oft ich will. Je mehr Spieler dazu stoßen, desto zahlreicher und härter werden die Monster und Bosse. Das Resultat: Ich renne nicht länger mit Scheuklappen durch die Welt und hake stur meine eigenen Aufträge ab. Stattdessen werde ich ermuntert, mich an immer neuen Aufgaben gemeinsam mit anderen Spielern zu versuchen - ganz egal, welches Volk, welche Klasse oder welche Stufe sie haben. Dass die Quests außerdem sehr abwechslungsreich ausfallen, kommt noch als Kirsche oben auf die Sahnehaube. Daran hat sich seit meinem Ersteindruck kein Iota geändert.
Drittens: Mein Level wird dem jeweiligen Gebiet angepasst, wobei ich aber im Verhältnis adäquate Erfahrungspunkte und Belohnungen erhalte. Mein Held gewinnt linear an Erfahrung, anstatt irgendwann an einem exponentiell steilen Berg zu verzweifeln. Außerdem wird man auf diese Weise stets gefordert. Bin ich mit Stufe 50 in einem Gebiet der Stufe vier unterwegs, kann ich nicht einfach mit einem einzigen Zauber sämtliche Gegner ausradieren. Ich kämpfe Seite an Seite mit Anfängern oder Veteranen und wir alle profitieren gleichermaßen. Es kann mir sogar passieren, dass ich wegen eines unbedachten Manövers das Zeitliche segne und von einem Einsteiger wiederbelebt werden muss. Da sag' einer mal, Gleichberechtigung wäre nicht machbar. Außerdem darf ich unabhängig von meiner Herkunft in die Startgebiete und Hauptstädte der anderen Völker reisen und als "Fremder" die Aufgaben der örtlichen NPCs erledigen. Gibt es eine elegantere Methode, das Angebot an Quests für alle Spieler zu vervielfachen?
Ich habe in einigen MMOs der jüngeren Vergangenheit Ansätze solchen Gameplays gesehen - zum Beispiel in Rift oder The Secret World - doch erst im Zusammenspiel all dieser Konzepte entfaltet sich deren wahres Potenzial. Allein dafür sollte die Branche den Machern bei ArenaNet die Ringe küssen. Im Vergleich dazu nehmen sich die anderen Stärken von Guild Wars 2 fast schon trivial aus. Trotzdem zeigt das MMO der Konkurrenz auch hier, wo der Hammer gefälligst zu hängen hat.
Die Spielwelt? Gigantisch. Ein Garten Eden für Wanderlustige. Hinter jeder Biegung neue Highlights - landschaftlich wie architektonisch - mit unzähligen Kreaturen und Einwohnern, die sogar miteinander interagieren. Grafisch rangiert Guild Wars 2 sowieso am oberen Ende der Nahrungskette. Viel eindrucksvoller fand ich jedoch die wahnwitzigen Designkonzepte zwischen High-Fantasy, Steampunk, Dschungel und Piratensaga. Die Städte, die Völker, die Kreaturen und die Landschaften unterscheiden sich extrem voneinander und man kann sich kaum an ihnen sattsehen.
Die Charr leben in einer Welt aus Metall, Rost und Öl, ihre Hauptstadt ist eine Labyrinth-artige Kugel aus Eisen. Die Asura sind Meister der magischen Technik und lieben geometrische Formen und strahlende Lichter. Die Sylvari gedeihen in einem herrlich grünen Utopia und tragen Kleidung, die aus ihren Körpern wächst. Die Norn hausen in einem eisigen Gebirge, bauen gigantische Holzkuppeln im Wikinger-Stil und verehren heilige Tiergeister. Die Menschen wohnen in beschaulichen Dörfern und gewaltigen mittelalterlichen Städten, verwinkelter und gewagter als alles, was Peter Jackson in drei Teilen "Der-Herr-der-Ringe" auf die Leinwand gezaubert hat. Dann gibt es Orte wie Löwenstein, jene freie Handelsstadt im Zentrum der Weltkarte, die einst von Piraten komplett aus alten Schiffs-Wracks zusammengenagelt wurde. Muss ich noch mehr sagen? Die visuelle Abwechslung der Schauplätze ist eindrucksvoll, alle zehn Minuten möchte man stehen bleiben und ein Screenshot für seinen Desktop-Hintergrund schießen.
Dazu warten Hunderte versteckte Höhlen, Rätsel, Aussichtspunkte und kleine Geschichten auf euch. Selbst wenn ich nicht mit Erfahrungspunkten für jede Entdeckung belohnt würde und bei der vollständigen Aufdeckung aller Hotspots eines Gebietes eine Schatztruhe bekäme - mein Forscherdrang würde sich alleine schon wegen der tollen Erlebnisse bezahlt machen, die einem bei den Reisen durch Tyria unterkommen.
Neulich war ich zum Beispiel in Löwenstein bei Tokks Sägewerk unterwegs, um dort einen Aussichtspunkt zu besuchen. Da staunte ich nicht schlecht, als ich in der Nähe eine Höhle fand, und nach einem unbedachten Schritt in das gemeine Grotten-Labyrinth eines Geister-Hauptmanns namens Weyandt stürzte. Dass einen dieses Gespenst auf dem Irrweg nach draußen entweder als leuchtende Kugel oder als hämische Stimme aus dem Off begleitet, ist noch vergleichsweise harmlos. Seine Fallen und Illusionen waren freilich weniger spaßig. Da gab es Sprung-Einlagen bei verlöschendem Licht, einen Irrgarten mit falschen Wänden, heimtückische Speer-Fallen und am Ende der Odyssee eine Rätselfrage, um den richtigen Ausgang zu finden. Indiana Jones hätte da seine helle Freude gehabt. Unterwegs traf ich einen anderen Spieler, der ebenfalls unbeabsichtigt in die Höhle getappt war. Gemeinsam arbeiteten wir uns mit Ach und Krach zurück an die Oberfläche, erbeuteten Weyandts Schatz und fanden seinen ersten Maat Shane, der uns als geschäftstüchtiger Geist einige interessante Items zum Kauf anbot. Die Belohnungen waren jedoch mickrig, verglichen mit der spannenden Zitterpartie, die wir gerade hinter uns hatten.
Ich finde es bemerkenswert, dass die Designer bei ArenaNet solche Abenteuer einfach so, ohne explizite Quest oder prominente Hinweise in die Spielwelt einbauen. Ich kenne kein anderes aktuelles MMO, das derart den Entdecker in mir hervorkitzelt. Kein Wunder, dass ich meine Charakter-Story einige Tage komplett links liegen lies, und mich ganz der Erforschung der Spielwelt widmete.
Die persönliche Geschichte, basierend auf eurem Volk und diversen Entscheidungen bei der Erstellung eures Charakters, hinterlässt nicht ganz den umfangreichen Eindruck wie ein Star Wars: The Old Republic. Trotzdem hält sie einen lange bei Laune. Vor allem die Sylvari und die Asura fand ich hier sehr spannend und stimmig erzählt. Bemerkenswert finde ich, wie wenig sich der vermeintliche Haupt-Plot in den Vordergrund drängt. In anderen MMOs mit starker Geschichte kann man leicht den Eindruck bekommen, dass die Entwickler links und rechts dieses - mehr oder weniger linearen - Pfades nachlässig werden. Darum verlieren diese Titel auch schnell an Reiz, sobald man die Story hinter sich gebracht hat und andere Elemente an deren Platz rücken sollten.
Bei Guild Wars 2 ist die Geschichte eures Charakters hingegen eher ein freundliches Angebot. Ihr könnt euch an diesem roten Faden entlang bewegen, müsst es aber nicht. Wer zuerst sein Glück im unbekannten Terrain, in dynamischen Events oder gar in PvP-Inhalten sucht, kann dies problemlos durchziehen und die Handlung viel später wieder aufgreifen. Eure Stufe wird dann den kleinen Story-Instanzen angepasst, damit es nicht zu einfach wird.
Was einen zusätzlich motiviert, sich regelmäßig eine kleine Dosis Guild Wars 2 zu gönnen, sind die täglichen und monatlichen Erfolge, die ihr neben einer großen Anzahl diverser Achievements absolvieren könnt. Wenn man zum Beispiel jeden Tag eine bestimmte Summe unterschiedlicher Feinde unter die Erde bringt, Rohmaterialien sammelt und Events abschließt, erhält man zur Belohnung eine Truhe mit Erfahrung und diversen Schätzen. Klar - eigentlich ein billiger Trick, mich zum Einloggen zu motivieren - aber nichtsdestotrotz eine nette, kleine Geste, zumal man hier auch Preise erhält, die man normalerweise über den In-Game-Shop mit angeschlossenem Auktionshaus namens "Schwarzlöwen-Handelsgesellschaft" für Echtgeld-Edelsteine kaufen müsste.
Auch hier leistet sich ArenaNet keine Blöße. Transmutationssteine, um das Aussehen meines Equipments mit den Eigenschaften eines anderen zu kombinieren, gibt es ebenso wie diverse Booster, Stadt-Outfits, Mini-Pets und Komfort-Gegenstände. Nichts, was das Balancing ruinieren würde. Zusätzlich darf ich In-Game-Geld gegen die Premiumwährung Edelsteine eintauschen. Das nenne ich fair.
Ein Element, dem ich erst relativ spät meine Aufmerksamkeit zuwandte, waren die beiden PvP-Modi. Hier bietet Guild Wars 2 ein klassisches Arena-PvP-System (strukturiertes PvP), bei dem euer Charakter automatisch auf die Maximalstufe von 80 angehoben wird, alle Fertigkeiten erhält und unabhängig vom Hauptspiel Ausrüstung kaufen kann. Alternativ gibt es einen Welt-gegen-Welt-Modus, bei dem die Spieler dreier verschiedener Server auf einer großen Karte um die Vorherrschaft streiten. Hier tretet ihr mit eurem normalen Charakter aus dem Hauptspiel an, wobei ihr zwar auch auf Stufe 80 gehievt werdet, jedoch nur mit eurer normalen Ausrüstung und den aktuell erlernten Skills unterwegs seid.
Das strukturierte PvP-System fand für den Einstieg recht nützlich, weil sich hier wunderbar alle Skills meiner Klasse ausprobieren ließen. Bislang gibt es nur einen Eroberungsmodus (Conquest), bei dem ihr Felder auf einer Karte erobern müsst, wofür ihr Punkte erhaltet. Wessen Team davon zuerst 500 beisammenhat, gewinnt die Runde und erhält Ruhm, mit dem sich bessere Ausrüstung kaufen lässt. Außer diesen zufällig zusammengewürfelten Partien könnt ihr noch an Turnieren mit Fünfer-Teams teilnehmen, bei denen besondere Schmankerl als Preise winken. Mal sehen, was ArenaNet in Zukunft noch alles einfällt.
Das Welt-gegen-Welt-PvP ist prinzipiell eine spannende Angelegenheit, in der es um die Eroberung strategisch wichtiger Punkte auf einer großen Map geht. Da müssen Stützpunkte belagert, Burgen verteidigt, Tore zerstört und Nachschub erobert werden. Wessen Server die Nase vorn hat, erhält im Spiel zusätzliche Boni, die zum Beispiel das Crafting verbessern. Klingt soweit nicht übel, wurde aber bisweilen zum Grinden von Erfahrungspunkten missbraucht, indem sich die verfeindeten Parteien untereinander absprachen. Dann rannten zwei oder gar drei große Rotten im Uhrzeigersinn von Stützpunkt zu Stützpunkt, eroberten und töteten abwechselnd die dortigen NPCs und kassierten Erfahrungspunkte. Es gab aber während meiner Tests aber auch Scharmützel, die wie ursprünglich vorgesehen vonstattengingen. Da verteidigte eine kleine Gruppe verbissen die Zinnen ihrer Burg, während unser Trupp mit schweren Geschützen das Tor bearbeitete und erst in letzter Minute durch einen Überraschungsangriff in unsere Flanke gestoppt wurden und den Rückzug antreten mussten. Mit einer fähigen Gilde im Rücken können solche Gefechte vermutlich auch über Tage spannend bleiben.
Ist Guild Wars 2 nun der Genre-Messias, auf den alle so sehnsüchtig warten? Das vielleicht nicht. Aber auf jeden Fall ist es das erste MMO seit Jahren, das der Bezeichnung "Massively Multiplayer" in jeder Hinsicht gerecht wird. ArenaNet hat eine riesige, lebendige Welt für Entdecker geschaffen, unzählige Geschichten und Figuren eingewoben und das Ganze mit einem Gameplay-Konzept versehen, das allen Spielern eine gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht, unabhängig von Level, Klasse, Quest oder Gruppenzugehörigkeit. Und dies ist nur der Grundstock.
Dazu kommen noch eine wunderschöne Grafik mit liebevoll gestalteten Designs, ein modernes und intuitives Kampfsystem, ein solides Handwerkssystem, motivierende Erfolge, der faire Cash-Shop und die, auch langfristig vielversprechenden, PvP-Modi. All das, ohne monatliche Gebühren, für einen einmaligen Obolus von grob 50 Euro. Was kann man mehr verlangen? So gesehen kann ich mir in Zukunft die Ausreden sparen - ich habe mehr als genug gute Gründe, Guild Wars 2 auch weiterhin mit Freuden meine knappe Freizeit zu opfern.