Chaos auf Deponia - Test
Vom Türsteher bis zur Zeitschleife hangelt ihr euch durchs klassische Rätsel-Repertoire und stellt dabei trotzdem viele Adventure-Klischees auf den Kopf.
Hach, Daedalic Entertainment. Hier singt der Chef noch selbst. Genauer gesagt intoniert kein geringerer als Mitbegründer und Creative Director Jan Müller-Michaelis die Zwischensequenzen und Gesangseinlagen in Chaos auf Deponia, dem zweiten Teil der Adventure-Reihe um einen bedrohten Müll-Planeten.
Und Müller-Michaelis klampft sogar Selbstkritisches über den Vorgänger Deponia: "… mal ehrlich, das Ende des ersten Teils hatte eh niemandem gefall'n." Stimmt. Auch ich fand den Schluss in meinem Test zu melancholisch. Sieben Monate ist das jetzt her. Das Finale von Deponia wollte so gar nicht zum restlichen Gag-Gestöber passen und am liebsten hätte ich meinem tragischen Helden Rufus beim Abspann gleich noch ein Päckchen Taschentücher zugesteckt.
Nun hat Daedalic die Reihe von vornherein als Trilogie geplant. Lose Enden waren somit unvermeidlich. Trotzdem fand ich es allzu harsch, den Spielern gleich mit dem ersten Teil einen derartig nachdenklichen Cliffhanger um die Ohren zu hauen.
Wie zur Antwort verspricht der musikalische Müller-Michaelis zwei Akkorde nach seiner Selbstkritik ein potenzielles Happy End "mit Saufen und allem". Na also. Bitte alle Rotzfahnen entsorgen die Mäuse zur Hand nehmen. Rufus' Reise geht jetzt erst richtig los.
Gemütlich hat man das selbstironisch kurze Tutorial hinter sich geklickt, da flimmert schon eine Rückblende im schwarz-weißen Schmalfilm-Look über euren Schirm - komplett mit live gedrehtem Papp-Planeten am Bindfaden, Silvester-Böller-Detonation und pathetischer Stimme aus dem Off. Sehr hübsch gemacht, doch nichts gegen die anschließende spielbare Einleitung, die sich nahtlos an die letzten Momente des ersten Teils anfügt. Keine fünf Minuten braucht euer chaotischer Schützling Rufus darin, um die Küche einer Oma in Schutt und Asche zu legen, ihr Klo zu überfluten, ihren Kanarienvogel zu meucheln und seinen Mentor Doc beinahe mittels Guillotine zu enthaupten. Doch lasst euch vom hohen Einstiegs-Tempo nicht täuschen, Chaos auf Deponia ist alles andere als hingeschluderte Rätsel-Ware für Eilige.
Die Kritik am ersten Deponia haben sich die Macher nämlich brav zu Herzen genommen. Diesmal bleibt mehr Zeit, die Haupt- und Nebenfiguren kennenzulernen. Daedalic hat die Charakterzüge der Protagonisten jetzt merklich besser im Griff. Ich fand beispielsweise, dass Rufus Pointen viel sicherer zündeten, weil die Autoren auf den übertriebenen Gebrauch des Holzhammers bei seiner Charakterisierung verzichteten. Er ist noch immer ein Katastrophen-Magnet, gnadenlos überheblich und schwerer von Begriff als zehn Homer Simpsons. Doch diese Züge werden diesmal viel stärker im Zusammenspiel mit Personen oder der Umgebung definiert und weniger durch gestelzte Selbstgespräche. Dadurch gewinnt Rufus stärker an Kontur als im ersten Deponia. Gleichzeitig lernt man nebenbei seine Weggefährten und Widersacher besser kennen. Vor allem die angebetete Goal macht bei der Charakterzeichnung einen extremen Sprung nach vorn. Oder besser gesagt: drei extreme Sprünge in drei extremst unterschiedliche Richtungen. Aber ich will nicht zu viel von der Handlung verraten.
Was mir ebenfalls besser gefiel als im Vorgänger: Die Erzählung zieht sich gegen Ende nicht unnötig in die Länge. Außerdem bleibt das Rätsel-Niveau über die gesamte Spieldauer konstant, fair und (abgedreht) logisch. Zufalls-Treffer und nervige "Probier-alles-mit-allem-Verzweiflungsakte" waren diesmal nicht nötig. Chaos auf Deponia lässt sich bequem mit Hirnschmalz, Geduld und einer kussfreudigen Muse bewältigen. So konnte ich das Abenteuer nach einem exzessiven 12-Stunden-Marathon frustfrei abschließen, wobei Otto-Normal-Rätsler noch länger Spaß mit dem Titel haben dürfte.
Mehr als einmal gelingt es Daedalic dabei, die Grenzen der üblichen Adventure-Knobelei um ein kleines, feines Stück zu erweitern. Ich rede jetzt nicht nur von überraschend eingeflochtenen Dialogrätseln oder dem brillanten Einsatz von Teleportern und Wurmlöchern. Sagen wir es mal so: Rätsel von Typen, die hinter einer Tür mit Sichtschlitz stehen, markierten schon immer die Höhepunkte des Adventure-Genres. Man denke nur an Leisure Suit Larry in the Land of the Lounge Lizards oder Monkey Island 2: LeChuck's Revenge. Doch Chaos auf Deponia übertrumpft die Urahnen hier spielend. Sobald ihr euch das erste Mal erfolgreich am Türsteher der geheimen Rebellenbasis vorbei geklopft habt, wisst ihr, was ich meine.
Bei eher alltäglichen Adventure-Rätseln hilft die praktische Hotspot-Funktion, mit der man auf Knopfdruck alle Interaktionsmöglichkeiten hervorhebt. Außerdem kommt Einsteigern und Ungeduldigen zugute, dass zahlreiche Minispiele und Puzzle-Einlagen übersprungen werden dürfen, sollte man nicht weiter kommen. Alternativ ist es sehr hilfreich, Gegenstände mit Personen zu kombinieren und den folgenden Dialogen oder Rufus' Selbstgesprächen aufmerksam zuzuhören.
Man muss in Chaos auf Deponia häufiger zwischen den Schauplätzen wechseln als im ersten Teil - was aber niemals in nervige Gewaltmärsche ausartet. Grund sind einige kluge Designentscheidungen. Erstens kann ich per Doppelklick auf die pfeilförmigen Übergangs-Symbole zwischen den Abschnitten die Lauf-Animation überspringen. Zweitens haben die Macher euren Haupt-Einsatzort "schwimmender Schwarzmarkt" mit Karten-Schildern gepflastert, die euch schnell zwischen den Bezirken wechseln lassen. Drittens sind die späteren Schauplätze, wenn ihr zwischen verschiedenen Inseln hin- und hertuckert, angenehm überschaubar.
Der Wortwitz in Chaos auf Deponia trainiert die Lachmuskeln noch ausgiebiger als im ersten Teil und spart nicht mit popkulturellen Anspielungen und Anzüglichkeiten für Erwachsene. Selbstredend wurden die Texte wieder komplett mit deutschen Sprechern vertont. Kindern würde ich das Spiel nicht in die Hand drücken - trotz seiner USK-Freigabe ab 6 Jahren. Dafür wird zu viel geflucht und es gibt sogar den einen oder anderen Exitus - dabei reicht die Bandbreite von zeichentrick-lustig über kaltblütig-realistisch bis hin zu britisch-schwarz.
Schräger, schwarzer Humor ist sowieso das Stichwort, will man Chaos auf Deponia beschreiben. Die dreckverkrustete Bevölkerung des Schrottplaneten setzt sich zusammen aus MacGyver-Mutanten mit merkwürdigem Modegeschmack, geräuschempfindlichen Anglern, exzentrischen armen Poeten, Cyber-Hunden, Jukebox-Liliputanern, gewaltbereiten Signorinas, Ladenbesitzer-Kampfrobotern, unorganisierten Verbrechern, Rebellen mit Klopfzeichen-Fetisch, bewaffneten Delfinen, Ex-Wahrsagern und einem übertrieben sicherheitsbewussten venezianischen Gondoliere. Und das ist nur die Spitze des Müllbergs. Herrje - die örtliche Burger-Braterei serviert Schnabeltiere und der Besitzer hält bei Sonderwünschen Rücksprache mit dem Fürst der Finsternis.
Wenn eine Hauptfigur angesichts solcher Kapriolen nicht hoffnungslos blass aussehen soll, muss man sich als Autor schon einiges einfallen lassen. Daedalic gelingt das Kunststück, indem sie die Helden in noch skurrilere Situationen stürzen lassen als im Vorgänger. Rufus macht nicht einmal vor Manipulationen des Raum-Zeit-Kontinuums halt und zieht während eines Rätsels die ganze Paradoxon-Vermeidungs-Nummer derart konsequent durch, dass Doc Brown aus "Zurück in die Zukunft" Applaus klatschen würde. Die Quasi-Heldin Goal entwickelt sich von der farblosen Prinzessin-in-Not zum genialen Gag-Kathalysator und gewinnt - ich übertreibe nicht - unheimlich an Persönlichkeit. Mann, würd' ich euch jetzt gern die Handlung spoilern … Nein. Aus! Böse! Ich bleibe standhaft.
Daedalic hat bei Chaos auf Deponia alle Klippen umschifft, die schon so manchen zweiten Teil einer Trilogie gnadenlos absaufen ließen. Besonders bei gewitzten Rätseln und schrägen Gags haben die Macher ein paar Scheite zugelegt. Hier schafft es die Hamburger Adventure-Schmiede, Akzente zu setzen und jene Kritiker Lügen zu strafen, die seit dem Ende der Neunziger das Totenglöcklein für klassische Point-and-Click Adventures bimmeln hören. Schwieriger als üblich sind die Rätsel dabei nicht, aber pfiffiger. Ansonsten hat man den Eindruck, dass die Autoren den Müllplaneten und seine Bewohner besser im Griff haben als zuvor. Jede Knobelei, jeder Dialog, jede Pointe, jeder gezeichnete Hintergrund, jede Figur wird durchdrungen von einer charmanten Verschrobenheit, die bereits im ersten Deponia anklang, aber sich erst jetzt zur vollen Blüte entfaltet. Zudem gelingt den Machern die schwierige Gratwanderung zwischen einem befriedigenden Ende und dem obligatorischen Cliffhanger für den nächsten Teil. Auf das Finale bin ich schon jetzt gespannt.