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Ride to Hell: Retribution - Test

Aus dem Nichts an die Spitze seiner eigenen Klasse.

Ich muss schon sagen: Dass ich wirklich fasziniert vor einem Spiel saß, das ist schon ein wenig her. Begeistert, erschüttert, genervt, bewundernd, das und vieles mehr kommt immer wieder mal vor. Aber hier war es mehr die schiere Neugier und Faszination, die ein Wissenschaftler spüren muss, wenn er ein völlig neues Phänomen entdeckt oder eine neue Spezies. Es ist einfach etwas, das man so vorher noch nicht kannte und erst mal gar nicht so richtig weiß, was man damit anfangen soll. Es ist im Falle von Ride to Hell eine ausgesprochen unerfreuliche Entdeckung. So etwas in der Richtung von „Wow, das entsteht also in meinem Kühlschrank, wenn man ein Sandwich ein paar Jahre allein lässt!", soviel sei gleich vorweggenommen. Aber der Grad der Fertigstellung, in dem das Spiel veröffentlicht wurde, ist anders als alle anderen. Doch dazu gleich mehr.

Erst mal ein klein wenig Vorgeschichte. 2008 kündigten Deep Silver Vienna und Eutechnyx ein Open-World-Spiel mit Bikern im Westen der USA der 60er Jahre an. Solide Idee, brauchbare Prämisse, hätte was werden können. Dann verschwand das Projekt und wurde 2010 für gecancelt erklärt, tauchte jedoch im März 2013 ohne die Beteiligung der inzwischen geschlossenen Deep-Silver-Vienna-Studios aus dem Nichts wieder auf. Nur wenige Monate später haben wir jetzt ein Spiel, das anders ist.

Ein Blick auf was hätte sein können.

Der Biker-Part blieb erhalten, auch das mit den Sixties und dem US-Westen. Der Open-World-Teil jedoch wich einer um einen Hub - ein von den meisten spielerischen Möglichkeiten befreites Kaff irgendwo im westlichen Nirgendwo - arrangierten Struktur vollkommen linearer Missionen. Und egal wie ich es betrachte, dieses Spiel ist trotz dieser Reduktion auf das Nötigste nicht fertig. Nur, dass es eben doch fertig ist.

Eine gute Sache hat es zu bieten. Immerhin.

Ride to Hell schafft das Wunder, wie eine Alpha-Version auszusehen und sich wie ein erstes Proof of Concept zu spielen, ohne jedoch nur ein einziges Mal abzustürzen, sich in Missionstriggern aufzuhängen oder sonst wie zu verhindern, dass ich es durchspielte. Ernsthaft, so was gab es noch nicht. Spiele, die sich in diesem Zustand befinden, laufen nicht so stabil, das ist vollkommen anormal. Es ist leider auch der einzige positive Aspekt.

Der Rest des Spiels ist nicht weniger faszinierend, wenn auch aus den üblichen Gründen, aus denen Spiele normalerweise so richtig schlecht sind. Nur, dass sie hier alle in einem Einzigen verdichtet vorhanden sind. Statt einer Open-World-Umgebung wechselt das Spiel aberwitzig schlechte Fahrsequenzen mit atemberaubend schlechten Prügeleinlagen, gefolgt von irrsinnig schlechten Shoot-Outs ab. Und als würde das nicht reichen, quetschte man noch in einem Verhältnis von zwei zu eins absurd desaströse Dialoge und die unerotischsten Sex-Einlagen dazwischen, die je irgendein Screen sah. Letztere sind eine ganz eigene Art des unfreiwilligen Humors. Da sich in dem Spiel niemand die Mühe macht, auch nur die Hose runterzulassen, kommt ihr so in den Genuss der ersten vollkommen bekleideten Orgie in einem Videospiel. Einer musste mal den Anfang machen. Wäre es nicht so absurd, wäre es sexistisch und abstoßend in der Art, wie es zu den regelmäßig im Halbstundentakt auftauchenden Szenen kommt. So ist es einfach nur extrem armselig und meist sehr lustig.

Blut und Monsterpranken. Eine echte Leistung, dass es trotzdem so langweilig ist.

Aber nicht nur die Nackt-Modelle fehlen, große Teile der Dialoge offensichtlich auch. Ständig wirken einzelne Sequenzen, als hätten noch ein paar Worte gesagt werden sollen, sei es zur Einleitung oder im Nachgang, aber da ist nichts. Nur der nächste Ladebildschirm, der teilweise Tipps und Ratschläge gibt, die in der ursprünglichen Version des Spiels vielleicht einen Sinn ergeben hätten. Aber im jetzigen Ride to Hell gibt es keinen Gesucht-Level, keine Polizei und auch keine Zivilisten, die ich erschießen kann, um ersteren zu steigern, damit mich dann die besagten Cops jagen. Nach so wertvollen Ratschlägen geht es sofort und nahtlos meist an einem komplett anderen Ort und - sogar innerhalb einer einzelnen Verfolgungsjagd - zu einer anderen Tageszeit weiter. Gut, dass die Handlung sehr einfach gestrickt ist. Einer Komplexeren hätte man so nur schwer folgen können.

Ihr seid der ältere Bruder Jake, der aus Vietnam zurückkommt - zumindest war das mal ursprünglich so gedacht, hier fällt es weitestgehend unter den Tisch -, kurzes Familienglück genießt und dann den noch in der ersten Nacht getöteten Bruder rächen muss. So absolviert ihr dann eine Mission nach der anderen, um alle der Biker der schuldigen Devils-Hand-Gang einzeln abzuservieren und ihren mysteriösen Hintermann zu finden.

Was von der offenen Welt übrig blieb.

"Das Deckungssystem schafft eine eigene Bandbreite von kaputt über unwirksam bis hin zu inkompetent."

Meist geht erst zuerst auf das Bike. Die Straßen in den 60ern waren chaotischer als heute und das, obwohl unzerstörbare Leitplanken alles auf dem Weg halten. So sicher sogar, dass ihr nicht einmal wenden könnt. Es geht nur nach vorn, versucht ihr es doch, dreht euch das Spiel wieder in die richtige Richtung. Vom reinen Ansehen her könnte man sogar glauben, dass es mal ein Open-Worlder werden sollte. Ständig gehen unbenutzbare Straßen zur Seite weg und die Fernsicht ist zwar nur selten schön, lässt aber erahnen, was das mal für ein großes Spiel werden sollte. Mit versteifter Lenkung geht es also geradeaus, wobei euch meist Biker willkürlich und wie Fliegen attackieren. Abgewehrt wird stumpf mit einem Quick-Time-Button und irgendwann seid ihr da. Bald begann ich aus purer Langeweile zu testen, wie weit Jake mit dem Bike seitlich rutschen kann - eigentlich gedacht, um unter Hindernissen durchzukommen - oder wie lange er einen Wheelie-Fahren kann. Letzteres 2 Kilometer, bei ersterem rutsche ich über die Zielgerade, womit er mir nicht mehr anzeigte, wie weit ich kam. Mindestens 2 Kilometer. Erwähnte ich bereits, dass es kein mit der Realität verknüpftes Fahrmodell gibt?

In Momenten sieht es für ein paar Sekunden immer wieder so aus, als würde man ein besseres Spiel spielen.

In jeder zweiten Mission kommt nun der Teil, in dem ihr einer oder mehreren Frauen aus einer relativ harmlosen Notsituation helft und sie anschließend zum Dank mit eurem Super-Biker ins Bett steigt. Nicht dankbar genug jedoch, um zuzulassen, dass sich einer auszieht, ein Teil der Würde ist also gerettet. Eine beschämende Sequenz später wird normalerweise geprügelt oder geballert. Das Nahkampf-„System" besteht aus Deckung, Schlag und zweitem Schlag um die Deckung zu brechen. Es ist monoton, einfach und schlicht sterbenslangweilig. Selbst gegen ein halbes Dutzend Gegner bleibt es einfacher als die ersten Assassin's Creeds und ich war jedes einzelne Mal froh, wenn es vorbei war. Egal, wie viel pixeliges Blut sie dazu kippten, das ist stumpfester Anti-Spaß.

"Dass Ride to Hell nicht abstürzte, heißt nicht, dass es frei von jeder Menge anderer Ausrutscher war."

Ich wünschte mir den Nahkampf auch erst dann zurück, wenn es in die Schießereien ging. Das Deckungssystem des reinen Third-Person-Spiels schafft eine eigene Bandbreite von kaputt über unwirksam bis hin zu inkompetent. Mal springt Jake auf eine Kiste, statt sich dahinter zu hocken, dann sind Deckungen wieder durchlässig, wobei es zu inkonsistent ist, um sicher zu sagen, ob das so sein soll und schließlich streckt er immer wieder große Teile seines Körpers gut sichtbar nach außen, um dem Elend ein Ende zu bereiten. Nobles Unterfangen, zugegeben, aber dafür müsste die dämliche KI erst mal irgendwas treffen. Das Trefferfeedback auf eurer Seite ist nicht vorhanden und das Schadensmodell scheint binär zu sein: Kopftreffer, sofort tot, alles andere könnt ihr so lange beballern, wie ihr wollt. Was manchmal sehr unterhaltsam ist, wenn ein Gegner ein Geländer für eine Deckung hält und ihr ihm zehn Schuss in den Hintern verpassen könnt, ohne dass er sich rührt. Ich wage mit einiger Sicherheit zu behaupten, dass dies der schlechteste Shooter der letzten zehn oder mehr Jahre ist, ganz sicher ist er es im kommerziellen Bereich. Nicht einmal Spiele, die schlechte Shooter parodieren wollten, waren so schlecht. Wie gesagt, ich hätte genervt oder frustriert davorsitzen sollen, aber ich war einfach nur ob des Gebotenen fasziniert.

Nur weil es nicht abstützt, ist es keine gute Software.

Daran war sicher auch die Technik nicht unbeteiligt. Dass Ride to Hell nicht abstürzte, heißt nicht, dass es frei von jeder Menge anderer Ausrutscher war. Auf den Straßen wurde scheinbar die KI vergessen und so lieferten sich die eigentlich unbeteiligten Autos des normalen Verkehrs, sobald sie sich in die Quere kamen, sehenswerte Todes-Crash-Rennen. Reifenspuren ziehen regelmäßig mehrere Meter neben den dazugehörigen Reifen ihre Bahnen und die Hände aller Akteure würden höchstens zu Modellen passen, die doppelt so groß sein müssten. Dazu kommen Texturen und Polygon-Modelle, die einer ersten Alpha in 2008 gut zu Gesicht gestanden hätten, aber sicher keinem angeblich fertigen Spiel in 2013. Oder 2008. Oder 2005. Abgerundet wird es durch Sprecher, die meist sogar eher harmlos, mitunter aber auch mal massiv gelangweilt bis humoristisch wertvoll - einer der Bösen versucht scheinbar Cockney-Australisch, ohne jemals das eine oder andere gehört zu haben - ihr Werk verrichten. Die Musik klingt erst nett, bis ihr merkt, dass ihr nach einer halben Stunde praktisch alles gehört habt. Aber trotzdem, in diesem Chaos der offensichtlichen Unfertigkeiten ist sie noch das kleinste aller Probleme.

Ok, es war ein guter Witz. Was haben wir gelacht. Könnte jetzt jemand das echte Ride to Hell veröffentlichen?

Die größte Frage ist sicher, warum Ride to Hell überhaupt veröffentlicht wurde. Es wirkt wie das, was es aller Wahrscheinlichkeit nach ist: Das irgendwie und auf Teufel komm raus zusammengeschusterte Endergebnis, das man aus den unfertigen Dateien eines viel spannenderen, aber eben nie vollendeten Open-World-Titels aneinander tackern konnte. Es wirkt an keiner Stelle wie ein abgeschlossen entwickeltes Spiel. Die Kämpfe scheinen Platzhalter für die irgendwann mal erdachten Mechaniken zu sein, es gibt keine Fein-Balance und manchmal nicht mal eine Grob-Balance, egal ob es KI, Treffer- oder Fahr-Verhalten betrifft. Nichts hier rechtfertigt in irgendeiner Weise die geforderten 40 Euro, denn es ist kein fertiges Spiel. Nur eine Art obskurster Resteverwertung.

Ist es so trashig, dass es dies wenigstens für Fans dessen reizvoll sein könnte? Bedingt. Die lustig deformierten Figuren, die Tonnen an schlechtem Pixelblut, die abgehackten, unsinnigen Dialoge und surrealen Sex-Szenen haben schon einen gewissen Charme, der in diese Richtung geht. Hier gibt es ein paar gute, unfreiwillige Lacher. Aber selbst mit diesem „Humor" und nur weil Ride to Hell nicht abstürzt, heißt das nicht, das auch nur eine einzige Minute Spaß machen würde, es zu spielen. Über ein paar Momente der KI könnt ihr euch amüsieren, dann verfällt es wieder in die endlose Monotonie der Langeweile unausgereiften Designs. Es waren 6 oder 8 Stunden, vielleicht auch mehr, ich verlor irgendwann das Zeitgefühl, aber das ist ein Fall, wo Umfang kein Bonus, sondern nur eine Bürde war.

Vielleicht ist es ein würdiges Trash-Spiel für euch, wenn ihr es wirklich günstig bekommt und Filme wie Manos und Co. immer wieder gucken könnt. Solltet ihr jedoch zumindest auch nur ein Minimum an Spielspaß erwarten oder euch nicht die wissenschaftliche Neugier an einer neuen Art von Schlecht reizen, dann nehmt Abstand von Ride to Hell. Ganz, ganz viel Abstand.

2 / 10

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Martin Woger Avatar
Martin Woger: Chefredakteur seit 2011, Gamer seit 1984, Mensch seit 1975, mag PC-Engines und alles sonst, was nicht FIFA oder RTS heißt.

Informationen zu unserer Test-Philosophie findest du unter "So testen wir".

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Ride to Hell

PS3, Xbox 360, PC

Ride to Hell: Route 666

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