Wildstar - Test
Den Headstart im Rückspiegel und noch lange nicht am Ziel
Anderthalb Stunden hab ich Samstag früh einem Hamster beim Zuckeln im Laufrad zugeschaut. Nein, ich war weder im Zoofachhandel noch auf Youtube. Probleme mit den Login-Servern und eine zeitgleich stattfindende DDOS-Attacke hatten den Headstart von Carbines Wildstar ausgebremst, weshalb die Vorbesteller statt des Charaktereditors nur einen Nagetier-Sanduhrersatz zu sehen bekamen. Die Mitarbeiter des Carbine Community Teams nahmen es mit Humor und spendierten dem "Chompacabra" genannten Hamster einen eigenen Twitter-Account. Ab halb Elf normalisierte sich die Lage zusehends, die ersten Spieler betraten die Server oder landeten in der Warteschlange. Bis zum Abend war der Hamster wieder größtenteils arbeitslos. Das Aufatmen bei Carbine konnte ich bis in mein Büro hören. Hätte schlimmer kommen können.
Natürlich holpert es auch bei Wildstars Vorabzugang noch ein bisschen. Bei mir spielten ein paar der deutschen Soundfiles während der Zwischensequenzen falsch ab oder waren erst gar nicht zu hören. Zweimal crashte der Client zum Desktop, als ich mich in eine andere Instanz teleportieren wollte. Gelegentlich schwankte die Performance oder die Bildwiederholraten brachen ein. Nichts dramatisches. Der erste Hotfix wurde wenige Stunden später aufgespielt und beseitigte die Abstürze. Seitdem läuft Wildstar bei mir kugelrund.
Man merkt dem Titel an, dass Carbine lange daran gefeilt hat. Das Interface beispielsweise wurde zum Ende der Beta hin nochmals überarbeitet und kommt jetzt minimalistischer, aber übersichtlicher daher, lässt sich vorbildlich anpassen und durch Addons seitens der Community erweitern. Wer andere MMOs kennt, wird kaum Schwierigkeiten bekommen und Neulinge freuen sich über die sanft steigende Lernkurve während der Tutorial-Abschnitte.
Zu Wildstars Pixar-Gedenk-Optik ist schon viel geschrieben worden. Mag man oder nicht. Die Gebiete sind weitläufig und so manches Panorama würde ich mir gerne direkt an die Wand hängen. In den Siedlungen und Außenposten haben es die Designer sogar manchmal ein wenig zu gut in Sachen Deko gemeint und schrammen hart an die Grenze zur Überfrachtung. Passt aber wiederum in das Sci-Fi-Wildwest-Szenario mit improvisationsfreudigen Siedlern, fremdartigen Alienkulturen und der extrem abwechslungsreichen Flora und Fauna des Planeten Nexus.
Auch die Harten mögen diesen Garten
Vor allen Dingen will Wildstar ein MMO für den Hardcore-Fan des Genres sein. Kurz umrissen, falls ihr nicht bereits unsere diversen Vorschauen gelesen habt: Es gibt zwei Fraktionen, sechs Klassen mit unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten von der Glaskanone bis zum Supertank, ein umfangreiches Handwerkssystem (elf Berufe) sowie vier so genannte Pfade (Kundschafter, Siedler, Wissenschaftler, Soldat), die zur Nebenbeschäftigung eures Charakters dienen. Ganz klassisch klappert ihr NPCs für Quests ab, erledigt spontane Herausforderungen nebenbei oder folgt den Aufgaben eures Pfades. Oder ihr richtet euch ein Haus samt Grundstück mit dem überaus mächtigen Editor ein, der sogar Sims-Veteranen ein anerkennendes Nicken abtrotzt.
Mit der Handlung haben sich die Macher bewusst zurückgenommen. Die Questtexte in den Sprechblasen sind selten länger als 160 Zeichen und wurden nicht vertont. Wer mehr über die Hintergründe wissen will, muss ins Logbuch schauen. Alle anderen folgen dem typischen Questtracker am Bildrand.
Es kommen übrigens auch Phasen zum Einsatz - allerdings fallen die weit weniger unangenehm auf wie unlängst bei Elder Scrolls Online. Habt ihr die Einsätze in einem Abschnitt erledigt, werden die dortigen Roboter plötzlich handzahm oder die räuberischen Banden stellen ihre Überfälle ein. Was ich trotzdem nicht sah, waren Spieler, die hinter unsichtbaren Gegnern herrannten. Doch selbst wenn, wäre das vermutlich nicht weiter störend gewesen: Wildstars Immersion lebt eh nicht von der Handlung - dazu trägt der Titel all seine Spielmechaniken viel zu deutlich an der Oberfläche. Interesse wecken die schrulligen Charaktere und ihre Geschichten trotzdem, ob man nun alleine oder im Team unterwegs ist.
Neben Soloinstanzen und typischen Dungeons (fünf Spieler) gibt es Abenteuer (fünf Spieler, unterschiedliche Questpfade), so genannte Schiffsjungenmissionen (instanzierte Kurzdungeons für 1-5 Spieler) oder die richtig harten Raids für 20 und 40 Spieler. Weltbosse und Events dürfen natürlich auch nicht fehlen und wer sich lieber mit menschlichen Gegnern anlegt, kann sich auf Open-world-pvp-Servern einloggen oder Gebiete besuchen, in denen sich die Fraktionen offen bekriegen. Daneben gibt es Schlachtfelder (10 Spieler pro Seite), Arenen (2v2, 3v3, 5v5 Spieler) oder die sauteuren aber spannenden Warplots (Mischung aus MOBA und Castle Defense in einem Spiel 40 gegen 40). Das meiste von diesem Zauber bekommt man allerdings erst im Endgame zu sehen.
Drück Zahlen und beweg Dich!
Eine Besonderheit von Wildstar ist das Kampfsystem, das euch konstant auf Trab hält und ausgiebig Gebrauch von so genannten "Telegrafen" macht - Markierungen am Boden, wo die nächste Attacke landet. Deren Bandbreite reicht vom harmlosen Kreis bis hin zu "WTF?! Sind wir hier bei Ikaruga?!" Darüber hinaus steuern sich die Charaktere betont dynamisch, beherrschen Doppelsprünge und Rettungsrollen. Dank der grundsoliden Steuerung fühlen sich Bewegung und Kämpfe akrobatisch-frisch an und machen auch ganz ohne Gegner Spaß. Nicht umsonst wählte ich als Pfad den "Kundschafter", dessen Nebenmissionen vor allem Sprungrätsel und Schnitzeljagden beinhalten.
Die Punkte in euren Klassenfertigkeiten dürft ihr nach Belieben jederzeit neu zuteilen und euch verschiedene Builds für die Schnellleiste zurecht legen (übrigens mit Global Cooldown). Letztere ist mit acht plus vier frei belegbaren Slots etwas umfangreicher geraten als bei anderen Genrevertretern der jüngeren Zeit, zwingt euch aber trotzdem zur überlegten Auswahl eurer aktiven Fertigkeiten. Wer das Optimum aus seinen Builds holen will, muss außerdem seine Ausrüstung entsprechend wählen und die so genannten VIP-Punkte (fixe passive Boni) geschickt verteilen.
Die Bandbreite an Telegrafen reicht vom harmlosen Kreis bis hin zu "WTF?! Sind wir hier bei Ikaruga?!"
Daneben gibt es noch eine Menge Kleinig- und Nettigkeiten, die bislang bei der Berichterstattung ein wenig unterm Scheffel liegen blieben. Zum Beispiel Waffen, die bei Erreichen von bestimmten Voraussetzungen neue Eigenschaften (Imbuements) erhalten, etwa wenn ihr einen vorgegebenen Boss erledigt habt. Oder Reittiere, die man durch verschiedene Slots optisch anpassen darf. Oder ein Mentorensystem, durch das erfahrene Spieler ihr Level auf die Stufe eines Anfänger-Schützlings heruntersetzen und dadurch Prestigepunkte für besondere Belohnungen verdienen können. Oder Kostümslots und die Möglichkeit, eure Klamotten zu färben. Wie wäre es mit Runensets, um eure Ausrüstung zu verbessern? Oder Ahnengemmen, die ihr nach dem Erreichen des Level-Caps für Erfahrungspunkte verdient und die ihr gegen wertvolle Ausrüstung eintauschen dürft. Neben derartigen Bonbons der Sorte: "Haben wir auch schon" dürfen natürlich auch Gilden, ein Auktionshaus und eine Warenbörse nicht fehlen. Und dann wäre da noch das C.R.E.D.D.-System.
Dabei handelt es sich um eine Premiumwährung, die man an andere Spieler für Spielgeld in der Warenbörse verkaufen kann. Der Clou ist dabei, laut Carbine, dass sich mit C.R.E.D.D. auch Spielzeit kaufen lässt. So könne jemand, der viel spielt, aber kein Abo abschließen möchte, sein Gold in die Premiumwährung und damit in neue Spielzeit umtauschen, während sich ein Spieler mit dickem Geldbeutel dank der Premiumwährung begehrte Ausrüstungsstücke oder Einrichtungsgegenstände für sein Haus kaufen kann. Quasi ein Win-Win-Geschäft, durch das die Goldfarmer das Nachsehen haben sollen, denn der Kurs für C.R.E.D.D. werde ausschließlich durch Angebot und Nachfrage - und damit durch die Community - bestimmt.
Wie sich dieser Markt in der Praxis entwickelt, werde ich mit die nächsten Tage genauer ansehen. Wie auch alles andere, was der Titel so bietet und was ich hier nur ankratzen konnte. Wildstar perlt derzeit sehr angenehm vor sich hin. Stufe 14 und damit das eigene Haus waren in wenigen Stunden erreicht, schon warten die nächsten Attraktionen des großen Vergnügungsparks Nexus auf mich und damit neue Stufen, neue Ausrüstung, neue Fertigkeiten und neue Ziele.
Gestern gab es übrigens eine (mehr oder weniger große) Überraschung zum Nachmittagstee: Die ersten Spieler haben bereits die Maximalstufe 50 erklommen. An dieser Stelle ein Gruß an Carbines Art Director Matt Mocarski, der mir gegenüber noch zwischen 75 und 100 Stunden geschätzt hatte, als ich neulich wissen wollte, wie lange wohl die Spieler bis zum Level-Cap brauchen würden. Ich werde mir jedenfalls mehr Zeit nehmen, um die Welt von Wildstar und das Drumherum besser kennen zu lernen.
Die umfangreiche Featureliste und mein bisheriger Eindruck sprechen dafür, dass Carbine mit Wildstar das gelingt, was sich die MMO-Fans von einem zeitgemäßen Tripple-A-Titel wünschen: Dass die Macher auf bewährte Spielmechaniken aufbauen und sie mit Sachverstand weiterentwickeln, anstatt den gleichen Murks zu wiederholen, den die Konkurrenz schon vor Jahren ad acta gelegt hatte. Das Rad neu erfinden wollte Carbine sicher nicht. Aber sie packen ein paar überaus schicke Felgen an den Karren. Und binden ihn hinten ans Spaceshuttle dran. Ich hab mich während des Headstarts jedenfalls auf Nexus pudelwohl gefühlt. Richtig Butter bei die Fische gibt es freilich erst ab Dienstag, wenn das MMO in den Regelbetrieb wechselt. Ob der Titel auch nach dem inkludierten Probemonat die Abogebühren zwischen zehn und 13 Euro wert ist, lest ihr dann demnächst an dieser Stelle in meinem Testbericht samt Wertung.