Sherlock Holmes: Crimes and Punishments - Test
Ohne Krimi geht der Grimmi nie ins Bett.
0:00 - Meine Stunde Null mit Sherlock Holmes. Ich bekomme eine Mail von Martin. Ob ich Lust hätte, Sherlock Holmes: Crimes and Punishments zu testen. Eigentlich nicht. Ich stehe gerade vor den letzten beiden Bossen im aktuellen Dark-Souls-2-DLC. Da passt mir so was gar nicht in den Kram. Außerdem habe ich zwar so beinahe jedes Adventure der letzten Jahre gespielt, allerdings noch nie eines der Sherlock-Holmes-Reihe. Zu spröde, zu sperrig, zu bieder kamen sie mir immer vor. Doch ich erinnere mich, wie ein Kollege, auf dessen Sachverstand ich mich in der Regel verlassen kann, mir über den vorherigen Teil mal erzählte, wie überrascht er war, unter der rauen Oberfläche einen faszinierend funkelnden Kern vorgefunden zu haben. Also gut, ich gebe dem Spiel eine Chance...
1:47 - Meine Güte, 7,1 GB bringt dieser Sherlock Holmes auf die Waage. Das ist ja schwerer als Samson aus der Sesamstraße. Apropos schwer: Die Dark-Souls-2-DLC-Bosse sind verflixt noch mal bockschwer. Ich freue mich daher nun richtig, sie für eine Weile ruhen zu lassen zugunsten etwas geruhsamerer Adventure-Betätigung. Knappe zwei Stunden hat Steam gebraucht, um die Daten auf meinen Rechner zu schaufeln. Es kann losgehen, ich bin bereit...
1:52 Wow, was ist das denn?! Das Spiel beginnt in Sherlock Holmes' Zimmer. Ein Raum, der in feinstem Unreal-Engine-3D vor überbordenden kleinen Details schier aus allen Nähten zu platzen scheint. Bilder an den Wänden, Briefe, die aus Schubladen quellen, das Kaffeeservice auf dem Beistelltischchen, irrlichternde Staubflocken im warmen Sonnenlicht und und und... Das ist wahrscheinlich die beste Grafik, die ich je in einem Adventure gesehen habe! Na gut, die Animationen der Charaktere wirken mitunter so ungelenk wie die der animatronischen Puppen in der Geisterbahn, aber das ist ja auch kein L.A. Noire hier. Dafür sind sie mustergültig detailliert gezeichnet - jede Hautpore, jeder Bartstoppel ist zu erkennen. Wunderbar, ich bin beeindruckt.
1:58 - Der Fall beginnt. Ein Mord, draußen auf dem Land. In seiner Gartenhütte wurde ein alter Seebär auf grausame Weise mit einer Harpune an die Wand genagelt. Als erstes befrage ich die Witwe. Doch bevor ich das tue, besehe ich sie mir in typischer Holmes-Manier genauestens, lasse meinen analytischen Blick über sie gleiten, registriere unscheinbare Details, die sich jedoch schließlich zu einem Gesamtbild zusammenfügen: Schmuck, Gesichtsausdruck, Flecken auf der Kleidung, so was eben. So erfahre ich, dass die ältere Dame offenbar streng katholisch ist und in ihrer Jugend auf dem Jakobsweg pilgerte - ein Hinweis, den ich in der nun folgenden Befragung nutze, um ihr weitere Informationen zu entlocken.
2:04 - Nun geht es zur Inspektion des Tatorts, wo ich weitere der ungewöhnlichen Spielmechaniken von Sherlock Holmes: Crimes and Punishments kennenlerne. Die „Sherlock Vision" etwa: Dabei schalte ich in eine Art Fokusmodus, in dem Holmes' Sinne bis aufs Äußerste gespannt sind und ihm Kleinigkeiten auffallen, die einem unter normalen Umständen womöglich entgehen. So entdecke ich auf einem Regal einen Flecken im Staub, der darauf hindeutet, dass hier bis vor kurzem eine Schatulle gestanden haben muss, die nun entwendet wurde. Ein Raubmord also? Im Gemüsebeet finde ich außerdem Fußabdrücke, die offensichtlich nicht zu den Stiefeln des Opfers passen. Ist es also wie beim Aschenputtel - wem der Schuh passt, der zieht ihn an? Nur dass ihm nicht die Hochzeit mit dem Prinzen, sondern lebenslanges Kittchen winkt.
2:37 - Fragen über Fragen, ich bin gespannt, was ich als Nächstes herausfinden werde. „Sherlock Holmes" hat mich allmählich am Haken. Dies hier ist kein klassischen Point-n-Click, es gibt im Grunde kein Inventar und keine Kombinationsrätsel. Sherlock Holmes: Crimes and Punishments ist ein richtiges Detektivspiel. Ich muss Informationen sammeln, Spuren deuten, Zeugen befragen, Hinweisen nachgehen, Schlüsse ziehen. Das zentrale Spielfeature dazu: eine Art Mindmap, in der ich gewonnene Erkenntnisse miteinander in Bezug bringe, Schlussfolgerungen ziehe und wiederum mit anderen Informationen verknüpfe. Auf diese Weise bildet sich nach und nach ein Muster heraus, ergibt sich ein Netz aus Tatsachen, Hinweisen und Spekulationen, die ein verästeltes Etwas aufspannen, ähnlich den Synapsen im Gehirn. Ob es am Ende die richtige Lösung ausspucken wird?
2:48 - Der erste Verdächtige ist gefunden. Ich kann ihm nachweisen, dass er sich am Tatort aufgehalten hat, dass er ein Motiv für den Mord hatte, doch bleibe ich skeptisch. Zum einen ist in einer Kriminalgeschichte selten der erstbeste Verdächtige auch wirklich der Täter, zum anderen ist der junge Mann nicht kräftig genug, um einen gestandenen Seemann mit einer Harpune zu durchbohren. Und außerdem gibt es ja noch diesen mysteriösen Gärtner. Und am Ende ist es doch immer der Gärtner, oder?
3:13 - Wiggins kommt ins Spiel, dieser Straßenjunge, der direkt einem Charles-Dickens-Roman entsprungen scheint und zusammen mit seiner Bande von Straßenkindern auf Informationsbeschaffung geschickt wird. Er stöbert für mich einen Verdächtigen in einer Hafenkneipe auf, eine verkommene Spelunke, in der Seefahrer ihr weniges Geld in Alkohol auflösen. Hier fällt mir erstmals so richtig auf, wie tief Crimes and Punishments in diese Zeit eintaucht, eine untergegangene Epoche wieder zum Leben erweckt. Nicht wie seine aktuellen Artverwandten aus der modernisierten BBC-Serie oder die Rock-n-Roll-Variante der Filme von Guy Ritchie, nein, dieses Spiel verströmt völlig unaufdringlich, ganz nebenbei und dadurch unglaublich und jederzeit präsent das Flair dieser Zeit am Ende des 19. Jahrhunderts. Eine Zeit, in der sich das ehemalige Weltreich im Umbruch zur Industrienation befindet, in der die Schere zwischen völlig verarmt und Pomp and Circumstance so groß war wie nie zuvor. Kein Problem, er kenne jemanden, der lesen könne, erwähnt Wiggins beispielsweise, als ihm Holmes gedankenlos eine To-Do-Liste überreicht. Ein kleiner Nebensatz, der aber so viel aussagt, über die Person, die Epoche, die Gesellschaft...
3:19 - Minispiele. Auch diese Unsitte gibt es in Sherlock Holmes: Crimes and Punishments. Jedoch - huch! - entgegen ihres Rufs als einfallsloser Lückenfüller machen sie mir hier richtig Spaß. Das 3D-Puzzle, bei dem ich Linien im Raum so drehen und wenden muss, dass sie das Bild eines Schiffes ergeben, ist auf angenehme Weise verblüffend, das Armdrücken in der Hafenspelunke, bei dem ich zwischen Vorpreschen und Abwehren stets meine Ausdauer im Blick haben muss, erinnert - um mal kurz wieder den Bogen zum Anfang zu spannen - sogar ein klein wenig an einen Bosskampf in Dark Souls. Um einen mit unsichtbarer Tinte geschriebenen Brief zu entziffern, muss ich verschiedenfarbige Chemikalien in der richtigen Reihenfolge mischen. Hübsches Logikrätsel, alles nichts Besonderes, aber niemals störend, sondern auflockernd, abwechslungsreich, so wie Minispiele sein sollten.
3:47 - Das erste Kapitel nähert sich dem Ende. Wie seine Vorgänger erzählt Crimes and Punishments keine durchgehende Geschichte, sondern kleine abgeschlossene Episoden, an deren Ende ich mit dem Finger auf den Täter zeigen soll. Eine folgenschwere Entscheidung, also jetzt keinen Fehler machen! Im Grunde habe ich eine ziemlich eindeutige Ahnung, doch kann ich ihr wirklich sicher sein? Auf der Mindmap gehe ich nochmal alle Hinweise durch, prüfe, ob ich nicht irgendetwas übersehen, etwas falsch eingestuft habe oder einer falschen Fährte aufgesessen bin. Drei Verdächtige stehen zur Auswahl, alle hatten eine Gelegenheit und ein Motiv, aber nur einer kann der Schuldige sein. Meine Verknüpfungen deuten ganz klar in eine Richtung, doch dann knüpfe ich sie alle wieder auf, bewerte gewisse Situationen anders, komme zu einem unterschiedlichen Ergebnis. Nein, das passt nicht. Ich vertraue meinem ersten Bauchgefühl und liege richtig. Nun stellt mich das Spiel sogar noch vor eine moralische Entscheidung: Will ich den Täter der Polizei und damit der vollen Härte des Gesetzes übergeben? Oder deute ich seine Tat als Notwehr, habe Mitleid und lasse ihn davonkommen? Wie bei The Walking Dead verrät mir das Spiel im Anschluss an meine Entscheidung, wie sich andere Spieler in dieser Situation verhalten haben.
3:52 - Sherlock Holmes: Crimes and Punishments hat mich angefixt. Ja, die Geschichte der ersten Episode war wenig originell, mehr ein Krimi aus der Retorte als ein raffiniert gesponnenes Verwirrspiel, formelhaft entworfenes Konstrukt nach dem Muster einer ZDF-Vorabendserie. Aber das ist nicht schlimm, denn es erfüllt seinen Zweck: Es stellt mir ein Rätsel, das nicht aus der Kombination von Angelrute mit Suppenkelle besteht, sondern mich eins werden lässt mit dem Ermittler einer Arthur-Conan-Doyle-Figur. In dem es darum geht, geistig Schritt zu halten mit dem größten Detektiv aller Zeiten. In dem Gegenstände untersucht und nicht gehortet werden, in dem Dialoge nicht gelangweilt weggeklickt, sondern aufmerksam nach Hinweisen durchforstet werden.
5:47 - Das zweite Kapitel ist geschafft. Diesmal ging es um einen mysteriösen Zug, der sich vor den Augen von Holmes und Watson scheinbar in Luft auflöst. Doch wie kann so etwas sein? Nun, das werde ich euch natürlich nicht verraten. Die Lösung ist jedenfalls auf eine angenehme Weise albern bis versponnen, wie es auch die frühen Fälle der seligen drei ??? einst waren.
7:13 - Kapitel Drei drehte sich um einen Mord in einer römischen Therme, dem antiken Pendant einer Sauna, und endet in etwas krudem Okkultismuskitsch. Mittlerweile zeigen sich leider deutliche Abnutzungserscheinungen beim Spielprinzip. Die verschiedenen Spielmechaniken werden zur Fließbandroutine, die Personenanalysen tragen nur selten Erhellendes bei, die Minispiele verlieren an Einfallsreichtum. Vor allem der praktisch nicht vorhandene Schwierigkeitsgrad fällt zunehmend negativ ins Gewicht. Im Grunde ist zu jeder Zeit klar, was als Nächstes zu tun ist, und falls nicht, kaut es mir das Spiel ratzfatz vor, per Tagebucheintrag oder Einblendung. Das Spiel verhindert derart zwar Frust und Konfusion, nimmt mir aber auch die Herausforderung. „Sherlock Holmes: Das Spiel" wird so beinahe schon zu „Sherlock Holmes: Das Buch", nur dass ich etwas enger eingebunden bin und am Ende selbst den Täter benennen darf. Klicken statt Umblättern, gewissermaßen. Ich beginne, meine Dark-Souls-Bosse zu vermissen...
7:59 - Gruften, Mumien, Schalter, Zahnräder, Mechanismen - eine Passage, die wie ein Fremdkörper wirkt und besser einem Tomb Raider gestanden hätte als „Sherlock Holmes". Doch immerhin wird es für einen Augenblick mal einen Tick schwieriger. Am Ende muss ich zugegebenermaßen den Täter mehr raten als wirklich entlarven. Entweder ist mir etwas Entscheidendes entgangen, oder das Spiel belässt es bewusst bei Andeutungen, um den niedrigen Härtegrad künstlich zu verschleiern. Nun gut, drei Kapitel kommen noch. Mal sehen, ob am Ende mein lachendes oder weinendes Auge obsiegen wird. Ich schalte mal eben auf Schnellvorlauf...
Sherlock Holmes: Crimes and Punishments ist kein klassisches Point-n-Click der gehorteten Inventargegenstände und gelangweilt weggeklickten Dialoge. Es ist ein richtiges Detektivspiel, in dem ich Zeugen befrage, Spuren folge, Hinweise deute und Zusammenhänge herstelle, um am Ende hoffentlich den richtigen Schuldigen zu entlarven. Das ist spannend wie ein Krimi, aber zumeist leider auch ähnlich anspruchslos: durchklicken statt umblättern.
Der kaum vorhandene Schwierigkeitsgrad schmälert das Erfolgserlebnis erheblich. Zumal die Geschichten zwar abwechslungsreich und bisweilen gar pfiffig erdacht sind, aber stets vom Hauch der Zweckmäßigkeit umweht werden, als Logikrätsel und weniger als raffinierte Dramaturgie konstruiert sind. Mit etwa zwölf Stunden Spielzeit verfügt Sherlock Holmes dennoch über eine deutlich längere Spielzeit als die meisten Adventures der Benutze-Suppenkelle-mit-Angelrute-Gattung - zwölf Stunden, von denen keine Minute langweilt. Das muss man auch erstmal hinkriegen.