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Anno 2205 - Test

Futuristischer Neo-Liberalismus als Zen-Garten der Zukunft

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Aufbau, Handel und sogar Kampf in völliger Harmonie und Balance sind das Ziel des sehr runden, nur etwas zu einfachen Strategie-Vergnügens.

Eine gute Runde Anno 2205 zu beobachten, ist recht ähnlich der Beobachtung eines dieser Deko-Objekte, die perfekt ausbalanciert auf einem einzelnen Punkt ruhen, all ihr Gewicht so verteilt, dass das Zentrum genau definiert ist. Es ist das ideale Gleichgewicht. Und auch wenn es so aussieht, als würde ein kleiner Schubser alles ruinieren... Nein, nichts passiert, es pendelt sich schnell wieder ein, die Ordnung ist wiederhergestellt und alles wie zuvor. Das hat etwas Beruhigendes. Die Frage ist: Ist es das, was ihr von einem Aufbau-Handels-Strategiespiel erwartet?

Sollte dauernde Action euer Ding sein, ihr braucht eine aggressive KI, die euch ständig in Schwung hält, dann ist das hier so gar nicht euer Spiel. Anno 2205 ruht noch mehr in sich selbst als seine Vorgänger es taten und solltet ihr nicht zu hektisch starten, dann könnt ihr praktisch nicht verlieren. In diesem Punkt ähnelt es sehr dem Städtebau-Hit Cities: Skylines oder eben dem Klassiker Sim City. Hier ist es der Aufbau eines futuristischen Super-Konzerns, was den Bau einer Stadt miteinschließt.

Das Paradies auf Erden...

Es beginnt denkbar harmlos. Zieht ein paar Straßen, setzt ein paar Bauflächen, die ersten Arbeiter kommen und dann beginnen die Forderungen. Erst wollen sie Wasser, dann was zu essen, dann ein wenig Unterhaltung. Ihr baut die entsprechenden Fabriken und das essenzielle Wesen des Spiels zeigt sich: Arbeiter bringen Geld ein, je mehr ihr habt, desto mehr verdient ihr, aber desto mehr Ansprüche haben sie auch. Diese zu erfüllen, kostet euch Geld. Baut ihr also mit Bedacht und habt immer ein Auge auf diese Balance, kann euch gar nichts passieren. Sind die Grundbedürfnisse der Arbeiter zu hundert Prozent befriedigt, könnt ihr sie befördern. Sie bringen mehr Geld, wollen aber auch schönere Sachen haben, also baut ihr weiter.

... versorgt die Kältezone und wird von ihr versorgt ...

Das geht so für ein Weilchen, bis ihr genug Material habt, um euren Raumhafen auszubauen. Darum geht bei der ganzen Aktion: Bringt eure Firma auf den Mond. Erst mal aber an die Arktis, wo ihr einige Dinge wie Quenten-Computer bauen könnt, was in anderen Klimazonen nicht möglich ist. Auf der Übersichtskarte werden mit vier Mausklicks bequem Handelsrouten erstellt, damit die Sachen auch dort landen, wo sie gebraucht werden. Die ganze Zeit über geht es weiter darum, die Balance zu halten, die Bedürfnisse der neuen Kolonie zu befriedigen und weiter zu wachsen, um schließlich den Schritt auf den Mond zu machen. Beide Kolonien funktionieren im Prinzip genau wie das Terrain in der gemäßigten Klimazone. Ihr baut Behausungen, dann Fabriken, dann baut ihr beides aus. Die Besonderheiten, die alles etwas komplizierter machen, sind die Temperaturen in der Arktis, wo Wohngebäude nur in einem kleinen Radius um wärmende Fabriken gebaut werden können. Auf dem Mond sind es dann Meteoritenschauer, gegen die ihr Schutzschilde baut, die dann die Baugrenzen markieren. Abgesehen von diesen Einschränkungen und dass in der Regel an solchen Orten alles sehr viel teurer ist, ändert sich am Ablauf herzlich wenig. Ihr baut, achtet auf die Bedürfnisse, erfüllt sie und expandiert weiter.

...und beide holen den Strom vom Mond.

Es entsteht ein immer komplexeres Netzwerk an Handelsrouten, die einzige echte Limitation der jeweiligen Gebiete sind die Zahlen an See- und Berg-Baustellen, die eine Art natürliche Wachstumsgrenze bilden. Es macht eine ganz eigene Art von Freude dem Entstehen, Vernetzen und Expandieren eures Konzern-Gebildes zu folgen, etwas in der Richtung eines Computerspiele-Zens, vergleichbar mit einem solchen Sandgarten. Damit sind wir auch beim größten Problem des Spiels, eines, das es mit Cities: Skylines teilt: Es ist zu einfach, habt ihr einmal verstanden, dass ihr gerade zum Start nicht Hals über Kopf expandieren dürft. Haltet ihr euch daran und seht zu, dass die Balance gewahrt ist, bevor ihr weitermacht, dann haben selbst die hohen Schwierigkeitsgrade mit weniger Ressourcen und höheren Preisen wenig in Richtung einer echten, harten Herausforderung zu bieten. Das an sich ist bei dieser Art von Spiel nicht so schlimm, der Spielspaß entsteht aus der Expansion heraus, aber nehmt es als eine Warnung, falls ihr es sonst gewohnt seid von einer KI im eigenen Territorium ständig bedrängt zu werden. Das passiert hier nicht.

Verknüpft ist alles über diesen Screen, der alle Gebiete anzeigt und immer das lädt, zu dem ihr gerade müsst.

Anno 2205 ist auch extrem geschickt darin, Wartezeiten zu überbrücken und euch immer etwas zu tun zu geben. Der umfangreichste Aspekt dessen, der auch einen wichtigen Spielzweck hat, sind die zwei Gebiete, in denen ihr in Echtzeitstrategie-Manier mit eurer See-Flotte ein Gebiet von Mond-Terroristen befreit. Ja, es gibt einen Gegner, aber er ist denkbar passiv, solange ihr nicht in diese Kampfgebiete geht. Selbst auf dem Mond war im normalen Spielverlauf nichts von ihnen zu sehen. Ihr zieht aus dem gleichen Grund in die Schlacht, aus dem die meisten Kriege geführt werden: Es gibt dort Ressourcen, die ihr haben wollt und nur dort bekommt. Diese Abschnitte sind wie das eigentliche Spiel dann extrem einfach, wenn ihr langsam und überlegt handelt. Bewegt ihr eure Schiffe immer vorsichtig durch das Terrain, dann habt ihr es immer nur mit kleinen, harmlosen Mengen an Feinden zu tun. Selbst auf dem höchsten der drei Schwierigkeitsgrade ist dies die goldene Regel, die immer funktioniert, vor allem, wenn ihr die Extra-Waffen wie Reparatur, Mini-Atomschläge oder Unterstützungsflotten im richtigen Moment nutzt. Wie gesagt. RTS-Pros werden sich nicht mal die Mühe machen, die Nase zu rümpfen. Als kleine Abwechslung funktioniert es allerdings ganz gut, vor allem, weil es ab einem gewissen Punkt weitestgehend optional ist.

Besagte Spezial-Ressourcen bekommt ihr auch bei Händlern oder in Form von Mini-Quests, die immer auf allen Karten verfügbar sind. Für diese nehmt ihr eure Corporate-Luxus-Jacht als einziges direkt zu steuerndes Element und macht, was man euch sagt. Holt ein havariertes Schiff in den Hafen, besorgt ein paar Kisten von Sonstwas, nehmt eine kleine Drohne ins Schlepp, die ihr dann zu ein paar zu zerstörenden Irgendwassen zieht. Das ist alles denkbar primitiv, verkürzt aber Wartezeiten ganz angenehm. Jedes Gebiet hat auch noch eine eigene Groß-Quest, die aus zahlreichen dieser kleinen Aufgaben besteht. Als Belohnung erhaltet dann eine schick verpackte Variante - alte Arche, große Statue auf Insel, sieht alles ganz hübsch aus - eines Dauerproduzenten einer seltenen Ressource.

Rand-Ereignisse spielen keine so große Rolle, seien es die Seeschlachten...

Und so spielt ihr dann und spielt, schickt gefrorene Fische auf den Mond, der sich dann mit unlimitiertere Fusions-Energie bedankt, während ihr guckt, dass die Fruchtsaftproduktion an anderer Stelle wieder richtig läuft. Es gibt eine theoretische Konkurrenz in Form von ein paar anderen Konzernen, die aber eher eine Art Leaderboard für ein wenig Extra-Ansporn darstellen und eine Konzils-Wahl, deren Einfluss auf das Spiel so relevant ist wie Bürgerentscheidungen in dieser Zukunftsvision. Überhaupt ist das Gesellschaftsbild dieses Spiels sehr interessant. Es ist der feuchte Neo-Liberale Traum einer Profitoptimierten, wohl geordneten und durch und durch strukturierten Welt, die am Ende auf den Gewinn abzielt, aber das Glück und die Zufriedenheit der Angestellten als essenziell ansieht, weil glückliche Arbeiter nun mal meistens besser arbeiten. Im Grunde könnt ihr es euch so vorstellen, als würden Google oder Apple zig Mal größer sein und die Welt nach ihren Konzernvorstellungen glattschleifen. Ob das für euch wie Utopia oder ein kompletter Albtraum klingt, bleibt euch überlassen. Das Spiel hält sich nicht mit einem sozialen Kommentar dazu auf, das überlässt es cineastischen Titanen wie Demolition Man.

Der Wiederspielwert ein weiteres Thema. Der Ablauf aller Runden ist relativ ähnlich und in einer lange laufenden Runde kauft ihr irgendwann die immer weiteren Gebiete, die ihr nicht als Start-Territorium gewählt habt, dazu und besiedelt sie wie gewohnt. Damit werden auch ihre „Wunder" zum Teil dieser einen Runde. Da diese eine Runde bei mir aber immer noch läuft und mittlerweile fast 30 Stunden auf der Uhr stehen, bin ich mir gar nicht so sicher, ob das irgendwie ein Problem ist. Wenn ich dann in weiteren 20 oder so Stunden alles besiedelt habe, die Firma läuft und alles erreicht ist, würde ich sagen, dass ich einen mehr als soliden Gegenwert in Spielzeit für mein Geld bekommen habe, unabhängig davon ob ich es jemals erneut starte.

...oder die gelegentliche Wahl der Weltregierung. Es ist aber trotzdem insoweit eine Bereicherung, da es für Abwechslung sorgt und Wartezeiten elegant überbrückt.

Technisch gibt es ein paar Haken und Ösen. Ihr braucht erst mal nicht online zu sein, um zu spielen, habt dann aber auch keinen Zugriff auf den nicht so relevanten irrelevanten Welthandel und die kaum wichtigere Wahl der "Weltregierung". Kann man locker verschmerzen. Anno 2205 braucht nicht unbedingt die dickste Grafikkarte, aber einen sehr solide ausgestatteten PC. Je mehr CPU-Leistung und RAM vorhanden sind, umso besser, eine schnelle Festplatte kann auch nicht schaden. Als die Framerate bei maximalen Details gerade mal die 20 erreichte, schaltete ich ein paar Grafikoptions-Gänge zurück, aber das änderte wenig. Die aktuelle 6GB RAM sind hier der Flaschenhals und als ich die auf 12 aufstockte, lief das Spiel auch gleich deutlich besser. Am Ende ist die Framerate relativ egal, da es nie auf einen Action-Klick ankommt, aber flüssiger ist hübscher, insoweit seid ihr gewarnt. Im Gegenzug sieht das Spiel extrem gut und lebendig aus. Überall ist was los, überall kreuzen Schiffe, ziehen Hovercars ihre Runden, die glücklichen Angestellten tummeln sich auf den hohen Zoomstufen in den Parks und zahlreiche animierte Elemente an den Gebäuden zeigen ein Bild, das nicht so schnell langweilig wird. Meine einzigen Wünsche hier: weiter herauszoomen zu dürfen und mehr Abwechslung vor allem bei den Wohngebäuden. Das Bild zu kippen und zu drehen ist fein und schafft auch bei den Anzeigen für Mängel über den Gebäuden mehr Übersicht, aber eine Art Satellitenübersicht wäre nett. Spielerisch ist es dank der Mini-Map und besagter Kameraschwenks jedoch kein Mangel.

Und auch wenn es längst so aussieht, man selbst weiß, dass es immer etwas zu optimieren gibt. Nur eine halbe Stunde noch, nur hier noch ein wenig was gerade ziehen, nur... und schon ist die Nacht weit vorgerückt.

Anno 2205 ist das perfekte Wohlfühlspiel. Nicht nur, dass es wirklich gut aussieht, es lässt euch einfach vor euch Hinspielen, bedrängt euch nicht, lässt euch in eurem eigenen Tempo euer Ding machen. Und es funktioniert. Fantastisch sogar. Hier ein wenig expandieren, dort die Balance aus Nachfrage und Produktion zurechtrücken, dann mal eine Kampfmission dazwischen und weiter geht die Expansion an anderer Stelle. Stellt ihr euch selbst kein Bein, wird es das Spiel auch nicht tun. Das ist vielleicht auch der größte Mangel, denn strategische Meisterschaft ist hier sicher nicht gefragt. Das kann den einen oder anderen schlicht unterfordern. Andere schätzen genau das, insoweit ist das eine Frage, die ihr nur selbst beantworten könnt. Ich selbst genieße so ein Spiel von Zeit zu Zeit und Anno 2205 ist eines der Besten seiner Art. Das merke ich schon daran, dass ich hier weit mehr Zeit investierte, als es für den Test nötig gewesen wäre und ich immer noch nicht damit fertig bin, Fischkonserven auf den Mond zu schicken. Alles zum Wohle des Konzerns, in einem utopisch verklärten Weltbild der perfekten, unverrückbaren Ordnung... Wenn Computerspiele eine Realitätsflucht aus einer immer komplexeren, sich wandelnden Welt sein sollen, dann ist Anno 2205s absolute Stabilität vielleicht das ideale Konzept.

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