The Last Guardian - Test
Und wir haben uns gefragt, was da so lange dauert…
Der Impuls war da. Fast hätte ich Team Ico - oder besser "Gen Design", wie Fumito Uedas Trupp mittlerweile heißt - Bequemlichkeit bei der Wahl ihres Empathie-Erzeugers vorgeworfen. Wenn die Abermillionen Katzenvideos auf Youtube schließlich eines beweisen, dann dass es ein Leichtes ist, durch Tierinteraktionen eine Gefühlsregung im Zuschauer zu erzeugen. Die schlimmste Szene in einem Spielfilm ist immer die, in der der Hund stirbt, bestenfalls nach einer letzten Heldentat, die die menschlichen Protagonisten vor Schlimmerem bewahrt. Für diese Art dramaturgisches Mittel müssen sich selbst weniger talentierte Erzähler nicht allzu weit strecken.
Je länger ich am Wochenende darüber nachdachte, ob sich The Last Guardian meine ehrlich und tief empfundenen Emotionen im Verlauf der etwa zehn Stunden also wirklich verdient hatte, umso klarer wurde mir: Gerade, weil wir Tiere auf einem so instinktiven Level kennen und begreifen, ist dieses Spiel ein Triumph. Für mich als Hundebesitzer vergeht kein Tag, an dem ich nicht zwei Schlappohren sich gegenseitig am Hinterteil schnüffeln sehe, eine freudig demütige Begrüßung mit gesenktem runden Kopf, einen schweren Schockzustand mit angelegten Ohren, weil mal wieder ein leerer Schuhkarton unerwarteterweise von der Bettkante purzelte. Ich lese die Körpersprache meines Tieres wie ein offenes Buch und ich bin mir sicher, Katzenfreunden geht es genauso (obwohl die Armen freilich der falschen Spezies anhängen).
Worauf ich hinaus will: Ihre Bewegungen und Verhaltensweisen sind uns so vertraut, dass Katzen und Hunde in Videospielen für uns noch künstlicher und unechter wirken als die Automaten, die uns die entsprechenden Spiele als Menschen verkaufen wollen. Das gewaltige Trico, mit dessen Hilfe der Junge aus The Last Guardian seinen langen Weg nach Hause antreten will, ist eine komplette Fantasieschöpfung und doch ist man sich sicher, es mit einem lebenden, atmenden und hochentwickelten Organismus zu tun zu haben, dessen offensichtliche Säugetierqualitäten zu keinem Zeitpunkt im Widerspruch zu seinem Federkleid und seinen Stummelflügeln zu stehen scheinen. Was für eine Leistung das doch ist. Trico - oder wie der Junge es immer wieder herzig ruft: "Törricööööö!" - verblüfft die komplette Dauer der Reise hindurch mit großen und kleinen Bewegungen, einer schwere und trotzdem Anmut in seinen niemals abgehackten Bewegungen.
Das Leben Tricos steckt vor allem auch in seinen Unvollkommenheiten. In seinen tollpatschigen Versuchen, eine Kette oder ein Fass mit Nahrung mit seinen überdimensionierten Hühnerklauen zu greifen. Die Federn wehen wüst im Wind, einige stehen imperfekt aus seinem Kleid hervor. Fast möchte man wetten, dass es ein bisschen streng riecht und regelmäßig bekommt man bei einer Kameradrehung sogar seinen alles andere als glamourösen Hinterausgang zu Gesicht. Details wie die feuchten Augen, die tief runtergezogenen Tränenkanäle, die langen Borsten, die aus den Beinen sprießen, die Schrammen und Blutflecken im Pelz - all das kommt zu einem Wesen zusammen, das durch und durch fantastisch, aber doch aus Fleisch und Blut ist.
Sein zu guten Teilen autonomes Erkunden der Umgebungen, während ihr als der Junge nach dem weiteren Weg forscht, ist beinahe verschwenderisch schön animiert. Es ist fast schade, sich allein auf die Suche nach einem Schlupfloch in den uralten Gemäuern zu machen, hinter dem ein Hebel das Stahltor öffnet, das den Weg versperrt und dergleichen. Man befürchtet immer, irgendwas zu verpassen, was natürlich Quatsch ist, denn dieses Biest hat so viele Bewegungen und Eigenschaften in petto, dass man fast nicht von Animationen sprechen möchte, weil man damit immer bestimmte, sich stets wiederholende Bewegungen verbindet, die am Computer entstanden. Was hier passiert ist schlicht schieres Leben, ein unentwegtes Sich-Ausdrücken, wenn Trico mal wieder mit den Ohren schlackert, weil es nicht versteht, was ich von ihm will, oder wenn es neugierig und störrisch seinen Kopf mal wieder durch eine viel zu kleine Öffnung steckt. Wenn es die Drohgebärden auspackt, fährt einem das in Mark und Bein, selbst wenn man man nicht Ziel der Aggression ist.
Überhaupt ist es auch das Miteinander des Jungen und seines gefiederten Freundes. Die ewigen Diskussionen darüber, ob nun der Kleine oder das Tier am Ende es Zeitliche segnet, entlarvt dieses Spiel ein Stück weit als emotionale Kleingeistigkeit Außenstehender. Ueda ist sich längst bewusst, dass man Gefühle nicht nur durch Tod und Verlust erzeugen kann, eine Lektion, die viele andere Spielemacher noch lernen müssen, die wieder und wieder zu Extremen langen. The Last Guardian dagegen gelingen nicht nur die großen dramatischen Augenblicke, sondern auch die kleinen Momente der Zärtlichkeit, Fürsorge und Aufopferung so selbstverständlich, dass einem dieses ungleiche Duo schnell ans Herz wachsen muss. Wie oft ertappt man sich bei einem Schmunzler, weil einem mal wieder warm ums Herz wird, dabei, dass man Szenenapplaus für eine spezielle Rettungstat geben möchte oder dass man mit versteinerter Miene und schwitzenden Fingern nach einer Lösung für die aktuelle Bredouille des nicht ganz so sanften Riesen sucht.
Allein das Leben, das Gen Design Trico und auch dem Jungen einflößte, der sich mit sympathisch hampeligen Kindsbewegungen richtiggehend abkämpft, während er diese unwirtliche Umgebung durchkraxelt, macht schon klar, was hier so lange gedauert hat. Aber es ist auch das, was das Team dann mit diesen beiden machte, was an diesem Titel so unglaublich ambitioniert und schwierig gewesen sein muss. Im Herzen ist das hier ein normales Erkundungs- und Kletterspiel, fast wie das erste Tomb Raider pirscht man durch verfallene Gemäuer. Im Grunde gibt es nur einen Weg, die Herausforderung besteht darin, ihn zu finden. Gelegentlich endet man an Orten, wo man eigentlich nicht hinsollte, gerade zu Anfang probiert man einige Sprünge, die so nicht vorgesehen waren. Das Spiel hält sich komplett mit Hilfestellungen zurück und bewahrt sich so zu jeder Zeit sein Mysterium. Das klingt sicher nicht besonders knifflig oder fortschrittlich im Design, eigentlich sogar archaisch. Bis man begreift, dass Trico nicht nur ein freundschaftlicher Begleiter und Beschützer ist, sondern auch eine Plattform, die ihr erklimmt und benutzt - und damit ein zu gewissen Teilen autonomer, frei beweglicher Teil der Spielumgebung.
Lasst das Biest eine Schlucht überspringen, um auf die andere Seite zu kommen, befehlt ihm, sich auf die Hinterbeine zu stellen, um eine höhere Ebene zu erreichen, setzt seinen schier endlosen Schwanz als Strickleiter ein, und und und. Trico gehorcht, wenngleich nicht immer sofort, aber so ist das eben, wenn man mit einem Tier arbeitet, das seinen eigenen Kopf hat. Das resultiert in einem deutlich organischeren Ablauf und Aufbau, als wenn man mal wieder nur nach der nächsten schimmernden Kante Ausschau hält. Was für eine Arbeit das gewesen sein muss: In jedem einzelnen Gewölbe musste Gen Design Trico erneut einbläuen, wie es sich zu verhalten hat. In Echtzeit wohlgemerkt, denn wenn hier Skriptszenen zum Einsatz kamen, habe ich sie nicht als solche wahrgenommen. Ein beweglicher, lebendiger KI-Begleiter als Teil der Levelarchitektur - ich verstehe immer besser, weshalb wir eineinhalb PlayStation-Generationen auf diesen Titel warten mussten.
Und doch bleiben ein paar Probleme. Die Bildrate wackelt zum Beispiel, doch das ist nicht unbedingt das größte Ärgernis, denn dieses Spiel verlangt keine schnellen Reaktionen. Gelegentlich zur Weißglut trieben mich doch eher die Steuerungs- und Kameramacken, die auch die Team-ICO-Spiele schon immer hatten. Alle Lektionen, die das Studio seit ICO und Shadow of the Colossus gelernt hat, wischt ein Monster von der Größe zweier aufeinandergestapelter Schulbusse nun mal mühelos weg, sobald man sich mit ihm einen vergleichsweise engen Raum oder Korridor teilen muss. Das Klettern an Trico empor krankt einmal mehr daran, dass links nicht immer links und oben nicht immer oben ist, sobald man sich auf der jeweils anderen Seite seines fedrigen Freundes entlang hangelt oder sich mit dem Gesicht nach unten an ihn krallt. Und sobald man sich selbst ein wenig umschauen will, fühlt sich das Justieren der Perspektive verdächtig nach einem Armdrücken mit einem erstaunlich gut trainierten Lastwagenfahrer an. In seinen schlimmsten Szenen wird The Last Guardian so ein wenig anstrengend zu spielen, doch ab der Mitte hatte ich mich damit arrangiert.
Müsste ich inhaltlich kritteln, würde ich anführen, dass ich nicht sicher bin, ob ich das Pacing für durchgängig geglückt halte. Im Einzelnen ist so gut wieder jeder Moment zwischen Trico und dem namenlosen Jungen herzerwärmend, dramatisch und schlichtweg schön. Aber auf ganzer Länge gesehen summieren sich die aufopferungsvollen Rettungssprünge in letzter Sekunde, die Kragenschnapper Millimeter vor dem Absturz und die heldenhaften Wegfreiräumaktionen doch ganz ordentlich. Gewisse Dinge fühlen sich irgendwann nicht mehr bedrohlich oder gefährlich an, wenn man irgendwann weiß: Einer von beiden findet gleich eine Lösung, dass es doch noch weitergehen kann. Zusammen. Zum Finale hin wirken die beiden durch ihre Erlebnisse schon so gestählt und unzerstörbar, dass man fast nicht damit rechnet, noch um sie bangen zu müssen.
Dass man das letzten Endes doch tut, und zwar nicht zu knapp, spricht Bände darüber, mit welcher Eleganz und Poesie Gen Design die Beschwerlichkeiten dieser beiden und die Schlüsselmomente ihrer Mensch-Trico-Interaktion inszeniert. Die vereinzelten, angesprochenen Irritationen sind zweifelsohne Begleiterscheinungen einer langen und problematischen Entwicklung. Ohne die wäre jedoch die Vision, die vor so langer Zeit mit diesem fabelhaften und die Fantasie über Jahre beflügelnden Trailer präsentiert wurde, niemals derartig greifbare Wirklichkeit geworden. Insofern nehme ich sie ohne zu Murren in Kauf.
Wichtig ist doch letztlich, dieses Spiel ist genau das, was wir uns erträumten, als wir die ersten Bilder sahen. Pure Bildschirmmagie, ein beflügelnder, wahr gewordener Jugendtraum, ein Abenteuer mit schwerem Herz und viel, viel Köpfchen. Zu keinem Moment begreift man The Last Guardian als Ansammlung von Systemen und Regeln, sondern als Geschichte zweier ungleicher Freunde, und das ist vermutlich sein größter Verdienst und das schönste Kompliment an dieses Spiel.
Es ist schon länger nicht mehr vorgekommen, dass ein Spiel für mich so sehr in die Realität überschwappte wie dieses. Aber wenn mir nun am Hermannplatz eine graue Feder vor die Füße weht, denke ich nicht mehr an Tauben, sondern an Trico.
Entwickler/Publisher: Gen Design/Sony - Erscheint für: PlayStation 4 - Preis: ca. 60 Euro - Erscheint am: 7. Dezember - Sprache: Deutsch, Englisch und andere - Mikrotransaktionen: Nein