Neva beantwortet die Frage: „Wie wäre Gris, wenn es darin Action gegeben hätte?“
Ein Schneesturm für Studio Ghiblis Ohngesicht.
„Mit Sicherheit wäre Gris 2 eine gute Geschäftsidee gewesen. Doch aus kreativer Sicht wäre es mein Tod gewesen.“ So spricht Conrad Roset, einer der Gründer von Nomada Studio, als die spanischen Entwickler eben nicht Gris 2 vorstellen, sondern das Spiel, was stattdessen ihr zweites geworden ist: der actionreiche Plattformer Neva.
Moment mal: actionreich? Wie kommen die Entwickler eines Abenteuers, das aus recht einfachem Laufen und Springen – sowie einer bezaubernden Art zu schwimmen – bestand, zu einem Plattformer, den sie selbst als „Gris mit Action“ beschreiben? Ganz einfach: indem sie auf die Kritik an ihrem Erstlingswerk reagieren und mit Neva unter anderem beweisen wollen, dass bezaubernde Kulissen und eine emotionale Geschichte nicht alles sind, was sie auf dem Kasten haben.
Ich habe Neva schon gespielt. Fast zwei der vier Kapitel, die das komplette Erlebnis umfassen wird, enthielt eine spezielle Demo, und dort begann ich nicht nur eine wundervolle Reise, sondern kämpfte mich auch durch einen angenehm fordernden Plattformer mit einfallsreichen Überraschungen, ein paar cleveren Rätseln und ebenso dynamischen wie manchmal fordernden Gefechten gegen die fiesen Unholde einer traumhaft schönen Fabelwelt.
Keine Angst: Wer Neva als interaktive Erzählung erleben will, der kann das auf dem einfachen der zwei Schwierigkeitsgrade tun. Immerhin dürfte es sich schon wegen seiner Geschichte lohnen, dem Abenteuer um Alba zu folgen, die mit der jungen Wölfin Neva unterwegs ist, nachdem deren Mutter von finsteren Wesen getötet wurde. Im handgezeichneten Prolog sah man nämlich, wie Vögel vom Himmel fielen und zu schwarzen Blüten verwelkten, bevor eine Wolke schwarzer Kreaturen über die ungewöhnliche Familie herfiel.
Vier Jahreszeiten erlebt man daraufhin mit Alba an der Seite der Wölfin, die mit jedem Kapitel ein Stück größer wird, um am Ende ein ausgewachsenes Raubtier zu sein. Denn nachdem er selbst Vater geworden ist, wollte Roset die Geschichte einer intimen Verbindung erzählen, deren Protagonistin zunächst ein Kind beschützen muss, bevor ihr Zögling so erwachsen ist, dass er selbst Beschützer sein kann. „Jeder kann eine Verbindung dazu herstellen“, sagt Roset über diese veränderliche Dynamik, denn entweder habe man selbst Kinder oder sei das Kind von Eltern, gegenüber denen man das Heranwachsen erlebt hat.
Auf jeden Fall lässt er diese Vision in einer Welt Wirklichkeit werden, die mich ausnehmend stark an die Filme von Studio Ghibli erinnert. Ganz besonders meine ich damit Prinzessin Mononoke, denn zum einen trauert Alba so sehr um den Tod der Wolfsmutter, dass es mir scheint, als sei sie ähnlich wie Mononoke unter Wölfen groß geworden. Zum anderen sind alle Tiere dermaßen groß, dass sie wie Fabelwesen erscheinen – mal ganz abgesehen davon, dass Neva schon im zweiten Kapitel wie eine geisterhafte Erscheinung mitunter verschwindet und ganz woanders wieder auftaucht. Ob Roset ebenfalls vom Ende einer Ära und dem Beginn einer neuen erzählt? Auch das würde schließlich zum Kontext des Generationenwechsels passen.
Außerdem ist da noch eine große Prise Chihiros Reise ins Zauberland, denn schon bald tauchen Kreaturen auf, die frappierende Ähnlichkeit mit dem Ohngesicht aufweisen. Das sind, in den ersten zwei Jahreszeiten zumindest, Albas Gegner, wenn sie nach ihr greifen oder als übergroße Fratzen von der Decke hängen und ihr dadurch den Weg versperren. Manchmal braucht man deshalb Geschick und Einfallsreichtum, sie zu zerschlagen, bevor es weitergeht.
Und man sollte flink sein, wenn man gegen sie kämpft, da einige von ihnen mit Steinen werfen, andere Säulen aus dem Boden sprießen lassen und manche schnell das Weite suchen, sobald sie attackiert werden. Ein paar von ihnen fliegen, andere rumpeln wie große Bulldozer durchs Bild und sogar Bosskämpfe erlebt man, die im Kleinen eine durchaus anständige Herausforderung an Albas Akrobatik darstellen.
Man muss das alles in Bewegung sehen! Wenn die gefiederten „Ohngesichter“ etwa ihre Flügel zu riesigen „Pranken“ aufplustern, um nach Alba zu schlagen. Oder wenn sich Neva ab dem zweiten Kapitel im Nacken mancher Angreifer festbeißt und sie so am Boden festhält. Ihr Name erinnert an das spanische Verb für schneien, erklärt Roset mir als dem Spanischen nicht Mächtigen - wobei sich Nevas Gegner spätestens im letzten Kapitel so fühlen dürften, als würden sie von einem ausgewachsenen Schneesturm überrannt werden!
Überhaupt agiert die Wölfin erstaunlich autark; ist mal plötzlich verschwunden, attackiert im Kampf weitgehend selbstständig – muss durch aktives Rufen aber auch zu Sprüngen über tiefe Abgründe überredet werden. Und anschließend könnte Alba sie sogar in den Arm nehmen. Diese Dynamik aus Interaktion und eigenständigem Verhalten zwischen der Protagonistin und ihrer titelgebenden Begleitung scheinen die Entwickler um Roset richtig gut hinzubekommen. Ohne natürlich trotz offensichtlicher Anliehen The Last Guardian nachzuahmen.
Ihr Spiel ist zudem weder Metroidvania noch richtet es sich an technisch extrem versierte Gamepad-Kämpfer. Es ist einfach ein angenehm forderndes Spiel, in dem man mitunter sogar über hohe Plattformen springt und klettert, und wo man recht bald auf Bauten stößt, die an jene aus Gris erinnern. Und deren leicht vertrackte Funktionsweise man erst entschlüsseln muss, bevor Alba und Neva weiterziehen können.
Die Reise durch die Jahreszeiten führt sie an pittoresken Panoramen vorbei, während die Kamera weit herausfährt, um Rosets „Pinsel“striche angemessen einzufangen. Jede Situation ist eine besondere, jeder Kampf eine neue Herausforderung und in der Tat fühlt sich Neva über weite Strecken wie Gris mit Action an. So wie Nomada Studio es angekündigt hat.
Ich habe Gris geliebt. Und ich freue sehr auf seinen geistigen Nachfolger, der im kommenden Monat schon, am 15. Oktober, sowohl für PC als auch auf PlayStation 5, Nintendo Switch und Xbox Series X/S erscheint.