Another Lost Phone: Laura's Story - das Smartphone als Flaschenpost
Ein Blick in ein fremdes Leben ...
Ich habe neulich eine Diskussion über die Serie Black Mirror verfolgt, in der die eine Seite sie misanthropisch nannte, während die andere versuchte, sie als Ansammlung von Zukunftsvisionen darzustellen, die die Menschheit durchaus angemessen charakterisieren. Und obwohl ich durchaus der Meinung bin, dass Black Mirror hier und da etwas kulturpessimistisch wirkt, glaube ich, dass einige der in der Serie gezeigten Zukunftstechnologien nur die logische Weiterentwicklung dessen sind, was wir heute so haben. Und ich meine da gar nicht VR- oder AR-Brillen, sondern ganz normale Smartphones. Wer es schafft, das einer fremden Person in die Hand zu bekommen, könnte sich oft ein relativ genaues Bild des Menschen machen, dem es gehört - Überwindung der Handysperre vorausgesetzt. Eben diese Tatsache hat es dem Entwickler Accidental Queens jetzt schon zum zweiten Mal erlaubt, ein Spiel zu entwickeln, bei dem es nur darum geht, sich durch die Menüs einer Handysimulation zu tippen.
Wenn ihr das Spiel zum ersten Mal startet ist es, als hätte der Eigentümer des Smartphones es gerade erst verloren. Sogar die Musik-App läuft noch. Wie schon im Vorgänger A Normal Lost Phone hat auch das Handy in Another Lost Phone wieder vieles von dem, was auch ein echtes Smartphone enthält: Eine kleine Musikbibliothek, Bildergalerie, Messenger-Apps, einen Kalender und andere Apps, die die Eigentümerin installiert hat, weil sie zu ihren Bedürfnissen passen oder zumindest einmal gepasst haben. Zu Beginn müsst ihr erst aus ein paar gespeicherten SMS das WLAN-Passwort erschließen - danach eröffnen sich nach und nach weitere ehemals verschlüsselte Bereiche auf dem Smartphone. Mehr und mehr fügt sich so eine Geschichte zusammen. Wisst ihr am Anfang noch nicht, was auf den gespeicherten Fotos zu sehen ist, passen sie im Verlauf der Geschichte plötzlich zu bestimmten Nachrichten und fügen sich wie Puzzleteile in die Geschichte ein.
Während es im ersten Teil hauptsächlich um die Geschlechtsidentität des Protagonisten ging, thematisiert Another Lost Phone etwas gänzlich anderes, nämlich psychische und körperliche Gewalt in Beziehungen. Was genau sich rund um die Protagonistin Laura herum abspielt, findet ihr am besten selbst heraus. Nur so viel: Ihr werdet es vermutlich nicht in der gleichen Reihenfolge erleben wie ich. Welcher Teil der Geschichte sich euch zuerst erschließt, ist stark davon abhängig, welche Nachrichten ihr zuerst lest und welche App euch am meisten interessiert. Gut möglich, dass ihr bis zum Ende des Spiels sogar einen Handlungsstrang ganz verpasst, weil ihr nicht jede der zunächst nebensächlich erscheinenden Nachrichten lesen wolltet.
Auf der anderen Seite haben die Entwickler es geschafft, dass ihr auch dann nie zu viel auf einmal erfahrt, wenn ihr wirklich jede einzelne Nachricht aufmerksam durchlest. Das Spiel erfordert das sogar manchmal - um Zugang zum Messenger zu bekommen, müsst ihr zunächst eine Reihe von Personen namentlich identifizieren, über die ihr nur aus E-Mails und SMS etwas erfahren könnt. Der ein oder andere Spitzname erschwert die Identifikation zusätzlich - aber die Entwickler zwingen euch auf diese Weise, euch mit Lauras sozialem Umfeld auseinanderzusetzen. Nach ein bisschen Zeit kommen euch all diese Personen vertraut vor - die beste Freundin, der Ex-Freund, der Neue von der Luftfahrtmesse. Im eurem Kopf entsteht ein Netz aus Beziehungen und Verflechtungen. Ihr wisst irgendwann, dass viele von Lauras Freunden ganz heiß auf ihre gefüllten Zucchini sind und ihr kennt ihr aktuelles Verhältnis zu ihrem ersten Freund.
Als besonders beeindruckend empfand ich, wie die Geschichte sich so Schicht für Schicht entfaltet. Am Anfang wirkt es noch, als führte Laura ein ganz normales Leben, hätte nur kleinere Problemchen mit ihrem Job. Dann erfahrt ihr immer mehr Details, Laura will plötzlich nicht mehr zur Arbeit gehen und bricht zu immer mehr Freunden den Kontakt ab. Neue Story-Details wirken auch deshalb besonders eindringlich, weil ihr sie nicht chronologisch erlebt. Ihr erfahrt also etwa im späteren Spielverlauf, dass zu einem Zeitpunkt, zu dem Laura noch den schönen Schein aufrecht erhalten wollte, längst nicht mehr alles in Ordnung war.
Der Entwickler schafft es auf behutsame Weise, sehr ernste Geschichten so zu erzählen, dass sie wirklich wie aus dem Leben gegriffen wirken. Tatsächliche Belanglosigkeiten in den Nachrichten mischen sich mit Andeutungen, die euch zunächst nur ahnen lassen, dass sich mehr hinter der ein oder anderen menschlichen Fassade verbirgt. Für die Rätsel müsst ihr zwar teilweise ganz schön um die Ecke denken oder wahllos in einem Haufen Nachrichten nach Hinweisen wühlen - aber eben diese Andeutungen sind es, die euch neugierig machen. Nicht nur neugierig im Hinblick auf den Fortgang der Geschichte, sondern durchaus auch in einem voyeuristischen Sinne. Denn nach kurzer Zeit fühlt sich Another Lost Phone wirklich an wie ein echtes Smartphone. Mehr als einmal habe ich den Home Button gedrückt, um zurück zum Home Screen zu kommen - aber zu Lauras natürlich, nicht zu meinem. Wie schon der Vorgänger spielt sich Another Lost Phone daher auf einem tatsächlichen Telefon ganz besonders immersiv, obwohl die PC-Fassung der App inhaltlich natürlich in nichts nachsteht.
Wie schon sein Vorgänger ist auch Another Lost Phone keine besonders große, epische Erzählung und auch kein wirklich vollwertiges Adventure. Das Spiel konzentriert sich auf ein Schicksal, wie es auch das eurer Nachbarn sein könnte oder der Leute, denen ihr in der U-Bahn begegnet. Another Lost Phone erzählt eine Alltagsgeschichte. Und ja, um sie ganz zu verstehen, müsst ihr zahlreiche Nachrichten lesen, animierte Szenen oder gar Filmsequenzen gibt es hier nicht. Wenn ihr aber auf Text-Adventures und aussagekräftige, kleine Geschichten steht, könnt ihr hier für kleines Geld bedenkenlos zugreifen - am besten auf dem Smartphone.
Entwickler/Publisher: Accidental Queens/Playdius, Plug In Digital - Erscheint für: PC, iOS, Android - Preis: etwa 3 Euro - Erscheint am: erhältlich - Getestete Version: iOS - Sprache: deutsch - Mikrotransaktionen: Nein