Antichamber - Test
Ein Labyrinth, das eure Gehirnwindungen als Hüpfburg benutzt und aussieht wie der Drogentrip eines außerirdischen Synästhetikers.
Vor ein paar Jahren. Es war Sonntagabend. Es war heiß. Ich stand unter der Dusche. Da ging die Lampe im Badezimmer kaputt.
Heute. Ich spiele Antichamber. Ich betrete einen schwarzen Raum. Gerade zirpten noch Grillen. Plötzlich ändern sich die Geräusche. Ist das ein Plätschern? Und da ist sie wieder, die Erinnerung an die Duschkabine in absoluter Dunkelheit. Weitere Bilder erscheinen vor meinem inneren Auge. Das Badezimmer. Meine alte Wohnung. Dieser irrsinnig heiße Sommer. Und plötzlich fühle ich mich ruhig. Konzentriert. Ich sehe einen leuchtenden Pfeil, der mir vorher entgangen war. Oder war der vorher noch nicht da? Wie ist der dahin gekommen? Was habe ich jetzt wieder für einen unsichtbaren Schalter gedrückt?
Sekunden später laufe ich durch einen völlig weißen Gang. Ich höre sphärische Klänge, dann Wind, der über Felder streicht. Plötzlich ein Dröhnen. Ich betrete einen Raum. An der Decke ein Schild. Die Warnung: Schau nicht nach unten. Ich schaue nach unten. Der Boden verschwindet und ich falle. Bunte Lichter. Ein Kaleidoskop aus farbigen Linien umhüllt mich. Dazu das Brausen eines Sturms. Donner. Plötzlich ist es vorbei. Ich bin in einem weiteren Raum mit weißen Wänden gelandet. Meine Schritte hören sich an, als würde ich auf Sand laufen. Ein Schild prangt an der Wand mit einer Katze vor einem Stromkabel. Die warnende Aufschrift: "Too much curiosity can get the best of us." Na toll. Ich nehme einen blau leuchtenden Aufzug ein paar Schritte weiter. Fahre nach oben, komme wieder in den Raum mit dem Schild an der Decke. Diesmal bleibt mein Blick oben. Nichts passiert. Wohin soll ich? Wieder zur gleichen Tür hinaus. Diese ist aber nicht mehr dieselbe Tür. Ein neuer Raum, ein neues Schild heißt mich willkommen. Die Katze und ein erhobener Zeigefinger. Der Hinweis: "Signs may be helping you more than you realize". Ein guter Rat, wenn man die Rätsel in diesem Spiel lösen möchte.
Wieso, weshalb, warum? Ach, was soll's?
So ist Antichamber. Kein Shooter von der Stange. Soviel ist klar. Optisch und akustisch ein Trip, bei dem selbst M.C. Escher und Stanley Kubrick schwindelig werden würde. Ein Spiel, das in jedem Museum für moderne Kunst ausgestellt werden könnte - und garantiert ein Besuchermagnet wäre.
Ursprünglich ist es als Mod für Unreal Tournament 3 entwickelt worden. Sein Schöpfer, Alexander Bruce stellte eine frühe Fassung 2009 auf der Tokyo Game Show vor, damals unter dem Titel "Hazard: The Journey Of Life". Als später das Unreal Development Kit erschien, machte sich Bruce an die Entwicklung eines eigenständigen Spiels. Seitdem räumt der Titel regelmäßig Preise ab. Make Something Unreal, PAX, IndieCade, Independent Games Festival - hier erntete Bruce viel Lob und gewann zusätzliche Unterstützer für das Projekt. Im Juli 2011 wurde das Spiel dann offiziell Antichamber getauft. Seit Anfang Februar kann man es bei Steam für nicht ganz 20 Euro kaufen.
Die meisten Wände in diesem Labyrinth sind Weiß. Manchmal aber auch Rot, Blau, Grün, Gelb, Purpur oder schwarz - oft steckt ein tieferer Sinn dahinter. Viele Rätsel werden über die Farben gelöst. Manchmal führen sie euch auch in die Irre oder lassen euch schwindelig werden. Reizüberflutung. Sinnesentzug. Orientierungslosigkeit. Dazu Geräusche, die euch ständig in wechselnde Stimmungen versetzen - die Spannung erhöhen, beruhigen, die Konzentration fördern, stören, warnen, eure falschen Entscheidungen verspotten (mann, kann das Krächzen einer Krähe am Ego nagen) und eure kleinen Siege belohnen, wenn ihr ein Rätsel geknackt habt. Und natürlich Assoziationen wecken. Die Zahnräder im Gehirn zum Rotieren bringen.
Alexander Bruce selbst beschreibt die Spielwelt mit dem Ausdruck "Nicht euklidische Geometrie". Doch keine Sorge - man braucht kein Mathematiker zu sein, um in Antichamber klarzukommen. Das Labyrinth ist komplex, ja, stellenweise bizarr. Räume verändern sich zum Beispiel ohne Vorwarnung, kaum dass man sich umdreht. Verzierte Fenster dienen als Portale, die man nicht durchschreiten muss. Stattdessen steht ihr plötzlich in einem anderen Raum. Wände verschwinden, sobald man sie lange genug anstarrt oder dagegen läuft. Wild fliegende Bälle zersetzen den Boden unter euren Füßen. Treppen entstehen aus dem Nichts und tragen euch nach Oben. Plattformen lassen sich wie Trampoline benutzen. Manchmal müsst ihr rückwärtsgehen, um vorwärtszukommen. Mehr als einmal bleibt euch nur der Sprung ins Ungewisse. Und trotzdem: Das Labyrinth ist vielleicht komplex und wirkt stellenweise bizarr, folgt jedoch klaren Regeln.
Mehr als einmal bleibt euch nur der Sprung ins Ungewisse. Und trotzdem: Das Labyrinth ist vielleicht komplex und wirkt stellenweise bizarr, folgt jedoch klaren Regeln.
Anfangs rennt man noch verwirrt in jede Falle, löst Mechanismen aus, ohne sie zu verstehen, stolpert in Abgründe, rennt in Sackgassen, muss von vorn beginnen. Doch man lernt. Jeder "falsche" Schritt wird zur Lektion. Überall finden sich Hinweise - Schilder an den Wänden mit einem Comic-Panel, die beim Klick einen mehr oder weniger weisen Spruch offenbaren. Es gab Momente, da haben mich diese Sätze amüsiert. Nicht selten gaben sie den entscheidenden Hinweis. Manchmal schienen sie aber auch so kryptisch, dass ich frustriert auf die Escape-Taste hämmerte, was einen zurück in den Eingangsraum teleportiert.
Hier könnt ihr euch über eine Karte an der Wand in jeden besuchten Raum teleportieren lassen. Dabei werden auch die Rätsel zurückgesetzt. Außerdem werden im Eingangsraum eure Hinweise gesammelt und ihr könnt verschiedene Optionen wie die Bildschirm-Auflösung oder die Mausempfindlichkeit justieren. Ein Countdown an der Wand tickt kontinuierlich gen null. Was passiert, sobald er abläuft, will ich an dieser Stelle nicht verraten.
Das Half-Life-Portal-Minecraft-Metroid
Will man Antichamber mit anderen Spielen vergleichen, stößt man schnell an Grenzen. Es steuert sich wie ein konventioneller Ego-Shooter auf Unreal-Engine-Basis. Ihr könnt laufen, springen, langsam gehen. Mehr jedoch nicht. Am ehesten drängt sich ein Vergleich mit Portal auf. Nur sind die Rätsel verworrener. Ein Labyrinth, dessen Gänge, Wände und Kammern nie das sind, was sie zu sein scheinen.
Es gibt Momente, in denen erinnert Antichamber an Half Life. Zum Beispiel, wenn ihr durch ein Fenster einen Blick auf eine mysteriös flüsternde schwarze Wolke erhascht, die eine Weile auf der Stelle schwebt und dann durch eine Tür verschwindet. Ist sie eine Bedrohung? Oder flüchtet sie vor mir? Werde ich gegen sie kämpfen müssen? Vor ihr davon laufen? Das alles hat ein bisschen was von einer Lost-Folge.
Und dann seht ihr hinter einer transparenten Mauer eine futuristische Pistole schweben. Nach einiger Knobelei haltet ihr sie in den Händen. Mit diesem Werkzeug sammelt und platziert ihr von da an verschiedenfarbige Würfel nach dem Minecraft-Prinzip. Die blaue Pistole ist dabei die simpelste Variante: Ein Rechtsklick sammelt den Block und speichert ihn in der Pistole, ein Linksklick platziert ihn.
Die Würfel sind praktisch - sie blockieren Lichtschranken und Türen, ihr könnt auf sie treten und dadurch erhöhte Plattformen erreichen oder Abgründe überwinden. Auf ihnen basieren zig Schalterrätsel und Knobelaufgaben, mit denen ihr die meisten Türen öffnet. Unterschiedliche Würfelfarben stehen für unterschiedliches Verhalten. Es ist an Euch, die Tricks und Kniffe dahinter zu erlernen. Später findet ihr dazu passende Pistolen in neuen Farben - jede erweitert das blaue Standardwerkzeug um bestimmte Funktionen. Dadurch meistert ihr scheinbar unüberwindbare Hindernisse und betretet neue Bereiche. Sackgassen werden durchgängig. Zuvor unlösbare Türschlösser lassen sich plötzlich knacken. Das ist der Metroid-Part von Antichamber. Man kehrt immer wieder in bekannte Räume zurück und entdeckt neue Pfade.
Würfel sind praktisch - sie blockieren Lichtschranken und Türen, ihr könnt auf sie treten und dadurch erhöhte Plattformen erreichen oder Abgründe überwinden.
Den Machern ist es dabei gelungen, die Lernkurve angenehm zu halten. Die Rätsel wurden sehr geschickt platziert und bringen euch die notwendigen Fähigkeiten bei, um die Möglichkeiten eurer Werkzeuge voll auszuschöpfen. Bei jedem weiteren Schritt zieht der Schwierigkeitsgrad an. Die Rätsel werden komplexer, bleiben aber immer fair. Manche der Puzzles sind vielleicht etwas zu simpel geraten, andere fordern euch hingegen umso mehr. Irgendwann kombiniert ihr die verschiedenen Techniken, setzt eure Umgebung, die vorhandenen Würfel und ihre Eigenschaften zu eurem Vorteil ein. Da bleibt es nicht aus, dass man ein Rätsel knackt und über sich und seine Fortschritte staunt. Selten habe ich derart bewusst wahrgenommen, wie meine Fähigkeiten mit jeder Minute wachsen, wie ich mich an die Umgebung und ihre Gesetze anpasse, wie ich sie manipuliere und schließlich Hürden überwinde, die eigentlich unmöglich schienen.
Das letzte Drittel des Spiels verlangt eurem Hirnschmalz einiges ab. Allerdings hatte ich trotzdem das Gefühl, viel zu schnell am Ende angelangt zu sein. Ich wünschte mir noch mehr Rätsel und vertracktere Wege. Der Höhepunkt von Antichamber enttäuschte mich sogar ein wenig im Vergleich zum Rest des Irrgartens. Auch hier möchte ich nicht zu viel verraten. Im Falle von Antichamber gilt auf jeden Fall die alte Weisheit: "Der Weg ist das Ziel."
Und selbst wenn man das etwas abrupte Finale gesehen hat, gibt es noch diverse Easter-Eggs zu entdecken. Alexander Bruce hat mehrere Räume versteckt, in denen man zum Beispiel Konzeptzeichnungen, Screenshots früherer Versionen von Antichamber oder eine Karte des gesamten Labyrinths findet. Außerdem kann man sich auf die Suche nach verpassten Hinweisschildern machen. Einmal kam ich sogar an eine verschlossene Tür, über der das Schild "under construction" hing. Das lässt auf zukünftige Erweiterungen hoffen.
Antichamber ist nichts für Action-Junkies und Rätsel-Verächter. Wer "MoMA" für eine Käsemarke hält und schon beim Gedanken an ein multidimensionales Labyrinth Schweißausbrüche bekommt, wird ebenfalls nichts damit anfangen können. Sobald man sich mit Augen, Ohren und grauen Zellen auf dieses Spiel einlässt, ist das Werk von Alexander Bruce aber eine grandiose Erfahrung. Genialeres wurde lange nicht mehr mit der Unreal Engine angestellt. Es ist kein Portal, aber mindestens so innovativ. Der Look des Spiels ist absolut einzigartig. Aber auch handwerklich stimmt alles: Das Level- und Rätseldesign ist gelungen, das Interface ist minimalistisch elegant. Die Würfel-Pistole ist einfach zu bedienen, erlaubt jedoch erstaunlich komplexe Strategien zur Lösung der Rätsel. Und es macht unheimlich Spaß, immer neue Möglichkeiten herauszufinden und schwierige Hindernisse zu überwinden.
Ja, die Spielzeit könnte etwas länger sein. Aber obwohl ein geübter Knobelfan den Titel locker an einem Wochenende durchhaben dürfte, sollte das Erlebnis sein (günstiges) Geld wert sein. Und sei es nur wegen der psychedelischen Bilder, der merkwürdigen Geräusche und wegen der unzähligen Assoziationen, Fragen und Ideen, die Antichamber im Spieler weckt. Duschen, kaputte Glühbirnen oder heiße Sommer inklusive.