Déraciné - Test: Ghost Souls
… oder: Wenn From Software ein Adventure macht
Déraciné ist französisch und bedeutet soviel wie entwurzelt. Und entwurzelt, das seid ihr in From Softwares VR-Abenteuer wirklich, von Raum und Zeit nämlich. Ihr steuert einen körperlosen Geist, der in der englischen Sprachversion interessanterweise kein Geist ist, sondern eine Faerie, eine Fee also.
Es spielt aber ohnehin nur am Rande eine Rolle, was genau ihr seid, viel wichtiger ist die Umgebung, in der ihr euch bewegt. Déraciné spielt in einem alten Internat und zwar in einem ganz bestimmten, stillstehenden Punkt in der Zeit. Lediglich schemenhafte Echos aus der Vergangenheit verraten euch, was hier passiert sein könnte. Und ihr? Ihr spukt nun im Internat herum und lasst die Schüler wissen, dass ihr existiert - mit mal mehr, mal weniger Erfolg.
Als VR-Titel bewegt sich Déraciné auf gewohnten Pfaden, wobei die Entwickler euch diesmal keine Möglichkeiten geben, die Steuerung anzupassen. Ihr seid also darauf angewiesen, mit zwei Move-Controllern zu spielen, wobei ihr euch per Tastendruck schrittweise im Raum drehen und teleportieren könnt. Eine freie Bewegung ist nicht vorgesehen, aber die habe ich nach kurzer Zeit auch nicht mehr vermisst. Tatsächlich dauert es nicht lang, bis ihr euch mit der Sprungmechanik hüpfend wie ein Kaninchen durch das Haus fortbewegt. Übelkeit kam bei mir zu keinem Zeitpunkt auf. Spielerisch betrachtet, ist Déraciné am ehesten mit einem klassischen Point-and-Click-Adventure vergleichbar. Ihr findet hier einen Schlüssel, um dort eine kleine Kiste zu öffnen oder ihr verwendet einen Stock, um das gleiche mit einem Fenster zu machen. Neue Mechaniken erwarten euch hier also nicht.
Interessant wird's vor allem, weil eure Handlungen Auswirkungen auf die Figuren im Spiel haben. So sehr ihr nur einen Moment in der Zeit von ihnen wahrnehmt, so sehr nehmen die Schülerinnen und Schüler euch in diesem Moment auch wahr, wenn ihr ihnen beispielsweise den Hut vom Kopf nehmt. Besonders erschrocken sind sie nicht, denn aus irgendeinem Grund gehen sie schon davon aus, dass sich in ihrem Internat ein gutmütiger Geist herumtreibt. Spannend ist die Einbindung zweier Ringe, von denen ihr jeweils einen an jeder Hand tragt. Die erlauben es nämlich, lebenden Dingen ihre Lebenszeit auszusaugen und sie an anderer Stelle wieder einzusetzen - beispielsweise von einem Stück Obst, dass dann in euren Händen verfault zu einer Blume, die dann in euren Händen wieder aufblüht. Das Spiel verwendet das als interessantes Bild dafür, dass es im Auge des Betrachters liegt, ob ihr ein guter Geist seid oder nicht. Leider kommt gerade diese Mechanik aber viel zu selten vor.
Nun ist Déraciné ein Spiel von From Software, naturgemäß erwartet man also beinharte Kämpfe und häufige Tode. Aber: Nichts davon gibt's in Déraciné, Lebens- oder Manaenergie. Was von From Software aber bleibt, ist die kryptische Spielwelt. Was ihr im Internat erlebt oder vielmehr was die Schüler im Internat erleben, wirkt seltsam entrückt, als wäre es nicht ganz von dieser Welt. Über die fünf bis sechs Stunden Spielzeit, die ihr bis zum Ende braucht, entsteht zwar der ein oder andere Zusammenhang, aber es gibt nicht die eine große Geschichte mit Anfang und Ende, viel bleibt eurer Fantasie überlassen. Etwa dann, wenn ihr als Geist nicht mehr eurer eigenen Agenda folgt, sondern plötzlich zum besten Freund eines kleinen Mädchens geworden seid, das einen ihrer Mitschüler zu vergiften gedenkt und das unheimlich lustig findet.
Immer wenn ihr etwas tut, das die Aufmerksamkeit der Figuren erregt, erscheint in ihrer Nähe eine Art glühender roter Ball. Mit dem könnt ihr wiederum interagieren, was dazu führt, dass ihr ein paar Gedanken der entsprechenden Figur mitbekommt. Meistens enthalten diese Texte hinweise darauf, wie ihr ein bestimmtes Rätsel lösen könnt, darauf angewiesen seid aber aber nicht, denn theoretisch könnt ihr alles auch durch bloßes Herumprobieren lösen. Ebendas war übrigens einer der Gründe, warum ich Déraciné gern mochte: Es ist ein ausgesprochen ruhiges VR-Spiel. Ihr könnt euch zurücklehnen und gemütlich die Ecken des Internats erkunden. Immer wenn ihr ein bestimmtes Rätsel gelöst habt, werden weitere Teile des Hauses freigeschaltet und teilweise auch andere wieder verschlossen. Bald fühlt ihr euch hier wie daheim, ganz wie das so ein herumspukender Geist eben sollte.
Déraciné ist kein Horror-Spiel, es erschreckt euch nicht, aber es hat trotzdem einen leichten, angenehmen Grusel im Hintergrund der meist daher rührt, dass die Entwickler ihren Geschichten einen makaberen Touch beifügen. Wie oben beschrieben: Wo neues Leben entsteht, muss irgendwo Leben genommen werden. Und wenn das kleine Mädchen glücklich gemacht werden soll, muss eben ihr vergifteter Klassenkamerad mit dem Hinterkopf auf den alten Holzboden knallen. Das Abenteuer verbreitet wirklich eine ganz eigene Atmosphäre, die es wert ist, erlebt zu werden und die gerade im späteren Spielverlauf viel mit menschlichen Bedürfnissen spielt - dem Drang, Leute glücklich zu machen einerseits, dem eigenen Egoismus andererseits.
Déraciné hat mich überraschend schnell gepackt und das nicht so sehr aufgrund der durchaus gewohnten Spielmechaniken. Viel mehr, weil es in diesem in der Zeit stehengebliebenen Internat viel zu entdecken gibt und es mich nicht im geringsten gestört hat, dass ich mich dafür auch mal ein bisschen ausführlicher umsehen musste. Klar, wenn ihr eine gänzlich neue Gameplay-Erfahrung sucht, ist das hier nichts für euch. Déraciné ist ein ruhiges, ein entspannendes Spiel und genau deshalb ist es auch so einfach, die krude, teils etwas groteske Atmosphäre des Internats aufzusaugen, wobei ihr als Geist nie das Gefühl habt, so wirklich dazuzugehören. Ihr seid eben, wie der Titel schon sagt: entwurzelt.
Entwickler/Publisher: From Software/Sony Interactive Entertainment - Erscheint für: PSVR - Preis: 29,99 Euro - Erscheint am: erhältlich - Getestete Version: PSVR - Sprache: deutsch - Mikrotransaktionen: Nein