Anthem - Test: Der Beginn einer langen Reise
Systeme, die nach Endgame dürsten.
Da wäre es nun, unser (wie bei solchen Spielen am Ende wohl immer nur vorerst) abschließendes Urteil über Anthem, hier im Sinne der Übersichtlichkeit zusammengefasst mit den beiden anderen Artikeln zum Thema. Um euch die Scroll-Arbeit zu ersparen, hier die Links, mit denen ihr zu den einzelnen Teilen springen könnt:
Anthem - Test (Teil 1, 19. Februar): Biowares Loot-Shooter macht Spaß. Aber geben wir uns damit schon zufrieden?
Oh weh, wo fange ich bloß an? So richtig kommt Anthem nie zusammen. Zumindest in den ersten acht bis 10 Stunden nicht. Es ist ein Spiel, gefangen zwischen den weltenbildnerischen Ambitionen eines der besten Rollenspielstudios überhaupt und Designtrends, die vor drei, vier Jahren der letzte Schrei waren.
Mit großen, poetisch klingenden Begriffen, blumigen Fraktionsnamen und mal mehr mal weniger wortschöpferischer Folklore stoßen seine Macher die Tore zu einer neuen Welt auf. In erster Linie sagt man dem Spieler hiermit natürlich: Das hier ist eine große, fremde, lebendige Welt mit reichhaltiger Geschichte, geschrieben von Helden, Anführern und Bösewichten; unterfüttert mit uralten, unvorstellbaren Geheimnissen. Es ist eine Welt, gemacht dafür, dass der kreative Teil der Zielgruppe reihenweise bildhübsche Fanart produziert. Schließlich steht Sci-Fantasy wie diese bei uns Geeks hoch im Kurs, und ward nur selten gesehen.
Nur, dass man sie mittlerweile sieht, wohin man nur schaut. Destiny ist da nur einer von vielen nahe liegenden Bezugspunkten, der Anthem schon vor seinem endgültigen Erscheinen ein wenig überholt wirken lässt. Das Problem ist in erster Linie, dass Bioware den Spieler in eine Bringschuld zwingt: man soll diese Welt schon lieben, bevor man überhaupt in ihr versinken konnte, bevor man weiß, was zu retten ist und warum. Seine Mythologie-schwangere Exposition wirkt gezwungen, als wäre man überzeugt, man würde die Neugierde und Zuneigung der Spieler schon bekommen, wenn man sich nur genügend klangvolle Bezeichnungen für Dinge wie Kampfanzüge (Javelins), Piloten (Freelancer) und Riesenroboter (Strider) einfallen lässt.
Die berühmte "Show, don't tell"-Regel wird kurzerhand umgangen, während man sich vor dem Fernseher vor lauter Anthem-spezifischen Begriffen beinahe ducken möchte und dabei wiederholt Gefahr läuft, den Faden zu verlieren - wenn man ihn denn je wirklich zu packen bekam. Fast kommt man sich vor, als würde man ins zweite Spiel einer Trilogie geworfen. Das wäre die eine Sache, die mich an Anthem bisher störte. Denn auch wenn die Charaktere, die einem im zentralen Hub immer neue Aufträge geben, viel von der dem Szenario innewohnenden Ernsthaftigkeit mit einigem Wortwitz aufbrechen, so richtig packt es einen nicht, dass das böse Dominion plötzlich wieder die Existenz von Fort Tarsis bedroht.
Überhaupt: Fort Tarsis. Was uns im ersten E3-Ankündigungstrailer noch als eine vor Leben und fremdartigem Zauber sprühenden Enklave verkauft wurde, läuft im eigentlichen Spiel auf eine Hand voll Räume und Gänge und kurz Promenaden hinaus, in denen maßlos tote Hose herrscht. Im Trailer herrschte hier dichtes Treiben, Trubel und Geschäftigkeit, durch die Questgeber von der Seite ins Bild drängen. Im Spiel? Ein sehr überschaubarer, überwiegend statischer Hub, in dem man brav seine sich nie bewegenden Kontaktpersonen abklappert. Typisches MMO-Design, das wenig Leidenschaft für diesen Ort weckt, nicht zuletzt, weil man sich hier in nicht allzu eiliger Schrittgeschwindigkeit von A nach B bewegt. Ein Freund (hallo, Kalle!) fasste es beim Spielen treffend zusammen, als er sagte, bei Madame Tussauds wäre mehr Leben drin.
Skeptisch ist man auch, wenn man erstmals seinem windschnittigen Javelin- Kampfanzug gegenübersteht. Fast alle dieser Rüstungen könnten genauso gut aus einem Destiny kommen und ist man erst einmal in der malerischen Landschaft um Fort Tarsis unterwegs, meint man fast, die bunt gleißenden Effektgewitter wären bei einer steifen Brise von Nessus, Io oder Titan herübergeweht. Aber o. k., an diesem Punkt merkt man dann, was Bioware auf dem Kasten hat. Denn die außerirdische Wildnis, die die Kanadier hier geschaffen haben, spottet jeder Beschreibung. Zwar stellt man immer wieder Defizite beim Figuren- und Gegnerdesign fest. Aber diese Welt - mit ihrem lebensmüden Mut zur Unübersichtlichkeit, ihren unwahrscheinlichen, spektakulären Felsformationen und klaffenden Schluchten, die zu halsbrecherischen Sturzflügen einladen, ist einfach ein Traum.
Es dürfte mit Abstand das schönste Spiel in diesem Jahr sein. Von den wie mit wilden Pinselstrichen vor den Horizont gepeitschten, getupften und gesprenkelten Landschaften über die ungezähmte Flora bis hin zu dem Eindruck, dieser Welt ergehe es auch in ihrem Zerbrechen noch ganz ausgezeichnet: die Welt von Anthem hat all die extravagante Nomenklatur verdient, die sich Bioware für sie ausdachte. So liebe ich meine Science-Fiction-Welten: einladend, abenteuerlich, ganz und gar nicht von dieser Welt. Es ist eine Freude, am Raketenrucksack hängend hier seine Runden zu drehen, selbst wenn man bis spät ins Spiel hinein, keine Ahnung hat, wer oder was die "Anthem of Creation" eigentlich sein soll.
Das Problem an all dem liegt wiederum in den Bezügen zu Destiny und allen anderen Spielen dieser Art begründet. So sehr es dieser spezielle Planet auch hinbekommt den abgegriffenen Glanz dieses speziellen Amalgams aus Future-Tech und Mystizismus ein wenig zu polieren: die immer wiederkehrenden, vorhersehbaren und im schlimmsten Fall ein wenig betäubenden Abläufe sind das, was dieses Spiel am Ende doch ein wenig beliebig wirken lassen. Blickt man durch, wie dieses Spiel tickt, weichen alle die Fragezeichen, die einem im Kopf umherschwirrten, ob der Begriffe, mit denen einen Bioware zuwarf, einfach nur Entsprechungen aus beliebigen artverwandten Titeln. Die Freelancer sind die Hüter, die Strongholds sind die Strikes, die Javelins sind die Klassen - man kann es endlos fortsetzen. Aber das habt ihr bestimmt schon geahnt.
Ich weiß nicht, ob ihr vielleicht auch geahnt hattet, dass alle "Quests" im Grunde darauf hinauslaufen, einen Missionsmarker nach dem anderen abzulaufen, beziehungsweise -fliegen, und an jedem fleißig die Waffen und individuellen Fähigkeiten der jeweiligen Hüter, 'tschuldigung: Javelins, sprechen zu lassen. Und es wäre kein Videospiel, müsste man nicht an jedem der Zielorte eine bestimmte Sache dreimal machen. Artefakte an ihren Ort zurückbringen, Runen lesen, Trümmerhaufen-Durchsuchung und so weiter - alles unter Beschuss versteht sich.
Eine Skill-gestützte Schlacht nach der anderen, auf dem standardmäßigen Schwierigkeitsgrad gerade leicht genug, um nebenher einen Podcast zu hören, und sich zu freuen, dass bunte Schadenszahlen aus den Gegnern herauspurzeln. Gelegentlich gelingt einem eine besonders verheerende Combo, wenn man die richtigen Fähigkeiten miteinander kombinierte, was aber eher selten zum Tragen kommt. Zumindest wenn man mit Fremden spielt.
Apex Legends hinterlässt bereits seine Spuren auf meinen Spielgewohnheiten, denn ich vermisse regelmäßig die Möglichkeit, meinen Mitspielern die Position der oft an etwas unübersichtlichen Stellen erscheinenden Feinde durchzugeben. Wenn es einen Text-Chat gibt, habe ich immer noch nicht entdeckt, ansonsten ist die Anthem Spielerschaft bislang erstaunlich still. Kooperation, zumindest auf dem normalen Schwierigkeitsgrad, vollkommen optional. Es spielt sich so weg, unterhält mühelos, nimmt dabei aber auch nicht über die Gebühr eure Aufmerksamkeit gefangen und lässt nebenher Platz für anderes.
Die Frage ist, ob es das ist, was ihr wollt? Ob es das ist, was ihr von Bioware erwartet? Und selbst, wenn ihr einer dieser Spieler seid, die grundsätzlich und immer nach neuem Loot dürstet, ist in Sachen Anthem vorher wohl ein Probespiel geboten. Bisher fand ich immer nur neue farbkodierte Varianten derselben langweiligen, weil arg konventionellen Schusswaffen. Schrotflinten, Sturmgewehre, leichte Maschinengewehre, Pistolen, Granatwerfer, Raketenwerfer. Destiny hat nicht nur in Sachen knackigen Gunplays mehr zu bieten, es gestaltet seine Schießprügel auch fantasievoller und macht ihre Anwendung routinemäßig zu einer großen Freude. Anthem hat insofern nicht nur das Problem, dass es als Shooter aus der Schulterperspektive naturgemäß ein Defizit in Sachen Feedback kompensieren muss (was ihm ordentlich gelingt), sondern dass seine Bleispucker optisch und spielerisch eher schnöde, ja, fast Fremdkörper in dieser außergewöhnlichen Welt sind.
Etwas spannender wird's bei den Fähigkeiten: je nach Klasse schleudert ihr mit Elementarzaubern oder Spezialwaffen Cooldown-gesteuerte Effektbombardements um euch, die etwas exotischer und im Gebrauch interessanter daherkommen, als die eigentlichen Waffen. Zum Beispiel, wenn man mit dem Colossus einen Säurewerfer zu Felde führt oder mit dem Mörser oder Blitzwerfer größeren Area-of-Effekt-Schaden anrichtet. Im Storm-Javelin fühlt man sich ein wenig mehr wie ein Zauberer und allgemein unterscheiden sich alle Kampfanzüge nicht nur in Aussehen, sondern auch im Spielgefühl angemessen.
Wirklich cool sogar war der aufregende Kampf gegen ein riesiges Spinnenmonster am Ende der ersten Stronghold-Mission. Je nachdem, wie viel Bioware von dieser Sorte Schießereien liefern kann, könnte sich hier die Single-Player-Expertise des Studios noch sehr bezahlt und ein Mehr dieser erinnerungswürdigen Einsätze die vielen Checklisten-artigen Aufträge ein wenig vergessen machen.
Das Gefühl, dass Anthem nicht ganz versteht, was an Loot so interessant ist, bleibt aber durchweg bestehen, weil man nach jeder Mission in erster Linie mit linearen Updates zugeschüttet wird. Fast immer bekam ich eine ein bis zwei Level stärkere Version von dem was ich bereits besaß, sowohl im Inventar, als auch an meinem Javelin ausgerüstet. "Hey, ich kann's kaum erwarten, meine neuen, alten Waffen auszuprobieren - und nach dieser Mission wieder wegzuschmeißen!" Bisher - und ich muss ganz klar sagen, dass sich das noch ganz entschieden ändern kann - ist es zumindest nicht das Loot, das mich immer wieder in diese Wildnis hinauszieht.
Immerhin, Anthem ist nicht vollends ohne Persönlichkeit. Nachdem man zum Anfang noch vermehrt zur Escape-Taste langt, um die langen Dialoge in Fort Tarsis zu beschleunigen, baut man irgendwann doch so etwas wie eine Beziehung zu seinen Kollegen und Questgebern auf. Gut genug geschrieben sind sie, auch wenn weder die Erzähldichte, noch die -qualität an die besten Zeiten dieses Studios heranreichen. Und von den Entscheidungen, die sich hier auf je eine von zwei Antwortmöglichkeiten beschränken, die ohne Folgen für den weiteren Verlauf über das jeweilige Gespräch hinaus bleiben, will ich gar nicht erst anfangen.
Auch technisch ist noch einiges im Argen: So toll und beeindruckend es aussieht, es bei längst nicht maximierten Einstellungen auf einem PC mit i7-Prozessor und GTX 1080 in 1440p nicht in stabilen 60 FPS zum Laufen zu bekommen, ist alles andere als optimal (wenngleich das Spiel nach unten raus ganz gut skaliert). Hinzu kommen Abstürze, endlos lange Ladezeiten, Sound-Aussetzer, die einen Neustart erfordern, Gegner die unvermittelt vor einem erscheinen oder verschwinden und eine etwas zu straffe Leine, um Squads in den verwinkelten Arealen zusammenzuhalten - alles Dinge, die hoffentlich mit einem Patch zum großen Start ausgebessert werden.
Da wären wir also, drei Tage vor dem offiziellen Start dieses für Bioware vermutlich schicksalhaften Spiels: Die Welt sieht traumhaft aus, sobald man erst einmal Fort Tarsis hinter sich lässt, das Herumfliegen in ihr ist eine angenehme und spektakuläre Art, sie zu erkunden und die Kämpfe unterhalten kompetent. Wohin man auch schaut, gibt es Betätigungs- und Individualisierungsmöglichkeiten, Herausforderungen und so weiter und so fort. Alles da, was reingehört - und das ist auch wohl, das Problem: Was reingehört, das wurde offenbar zu einem gefährlichen Teil im Rahmen von Marktanalysen ermittelt.
Nichtsdestotrotz ist Bioware fürs Erste das Wichtigste gelungen: Seiner neuen Marke einen reizvollen Spielplatz hinzustellen. Jetzt ist die Frage, ob sie ihn noch mit etwas anderem füllen als generischen Schaukeln, Rutschen und Sandkästen aus dem Baumarkt. Ich suche gern noch ein bisschen weiter ...
Anthem - Test (Teil 2, 22. Februar): Durch mit der Kampagne, kriegt Bioware die Kurve?
"Hast Du von dieser Sache mit dem Typen gehört?" - es ist eigentlich keine große Sache, aber diese achtlos in die sterile Leere von Fort Tarsis hineingeplapperte Nichtigkeit ist die Sorte liebloser NPC-Fülltext, die mich schon immer ein bisschen auf die Palme brachte. Es steckt auch nichts dahinter, denn auch wenn der Kamerad, auf den dieses Zitat zurückgeht, tatsächlich einer von einer Reihe ansprechbarer Charaktere ist, wiederholen sich solche Floskeln irritierend oft (ein anderer *räusper* Favorit, "sieht das für dich entzündet aus?", geht bezeichnenderweise auf denselben Kerl zurück) und zementieren meinen Eindruck, dass Bioware auf halber Flamme kochte.
Vielleicht realisierten die Entwickler nach der Fertigstellung dieser spektakulären und liebevollen Welt, dass diese Sorte Spiel nicht allzu großer erzählerischer Mühen wert ist? Das würde auch erklären, warum man den Rest der Mythologie größtenteils über Kortex-Einträge auf textlichem Wege regelte. Ich habe jedenfalls im Verlauf dieser etwa 15 Stunden (NETTO, wohl gemerkt. Aber dazu kommen wir später. Und wie wir dazu kommen ...) mehrfach den Kopf geschüttelt. Ich wollte diese Figuren lieben, jede von ihnen ist gut gespielt und von beneidenswert guter Technik auch in ihrem Schauspiel überzeugend eingefangen. Alle Akteure füllen geschickt ihre Rollen aus und auch wenn nichts Bahnbrechendes dabei ist, es sind immerhin gelungene Archetypen.
Und dann legt ihnen Bioware Dialoge wie den in den Mund, in dem es in erster Linie um die - pardon im Voraus - Scheiße der Ursix-Monster geht. Weder lustig, noch im Handlungskontext angemessen. Überhaupt wirken die Anflüge von Leichtherzigkeit oft fehlgeleitet, viel vom Gesagten wie Palaver. Selbst unfreiwillige Komik ist dabei. Ich meine, stellt euch mal vor, ihr wollt mit einem schwerst deprimierten zentralen Charakter wie Haudegen Haluk kurz vor dem Höhepunkt der Geschichte ein emotional entscheidendes Gespräch führen. Biowares Entscheidung, der Spielercharakter und sein väterlicher Vertrauter sollten dies am besten auf einem Stein sitzend in ihrer vollen Kampfmontur abhalten, degradiert die ordentlich geschriebene Szene zu einem Monty-Python-Sketch.
Ansonsten geht es inhaltlich nicht über das typische "Verhindere, dass der böse an die Doomsday-Maschine kommt" hinaus, was schon in Ordnung wäre, wenngleich für dieses Studio ein wenig enttäuschend. Aber hey, am Ende ist nicht das das größte Problem von Anthems Kampagne. Die macht sich trotz gelungener Gameplay-Grundlagen in erster Linie das Leben schwer, weil ihre Aufgabenstellungen niemals interessanter werden als "besorge dies", "besiege den", "finde das" und "drehe diese Schalter so, bis sie exakt die gravierte Symbol-Folge anzeigen". Das Quest-Design bleibt von vorne hin bis beliebig und austauschbar. Nichts, was man hier tut, behält man länger im Gedächtnis als für die Dauer der Mission. Selbst mittendrin in einem Einsatz gibt man nicht besonders viel Acht darauf, was hier erzählerisch gerade passiert. Du weißt, wo dein Ziel ist - worum auch immer es sich handelt -, dort erscheinen die Bösen, bevor du dein Ding machen kannst. Alles andere ergibt sich von selbst.
Aber es kommt noch schlimmer: Eine gewisse Story-Quest schickt euch in der Mitte des Spiels auf die Suche nach einer Handvoll Gruften legendärer Freelancer. Keine der Grabmaltüren lässt sich öffnen, bevor ihr nicht eine Reihe an Herausforderungen erfüllt. Ja, damit ist so liebloses Zeug wie "Öffne X Schatzkisten", "Vollführe drei Multi-Kills", "Wiederbelebe drei Mitspieler" und so weiter gemeint, für das man sich erst einmal stundenlang in das Freeplay oder irgendwelche Nebenmissionen werfen muss. Erst dann kann es mit der Geschichte weitergehen. Der letzte Patch soll an den Voraussetzungen einiges gerichtet haben. Eine kreative Bankrotterklärung bleibt es inhaltlich aber allemal.
Doch das sollte nicht das letzte Mal bleiben, dass Anthem diese Art der Spieldauerstreckung als Story-Mission verkauft. Kurz vor Schluss setzt es noch einmal einen Grind bestimmter Materialien, bevor es weitergehen kann. Und nach einer entscheidenden Mission fordert euch das Spiel doch tatsächlich auf, vor dem großen Finale noch einen beliebigen anderen Auftrag zu spielen, bevor es dem großen bösen an den Kragen geht. Ich hatte nicht erwartet, in einem Spiel dieser Ambition derart lieblose Aufgabenstellungen im Rahmen einer zentralen Story-Quest aufgedrückt zu bekommen. Für imposante visuelle Höhepunkte in den Einsätzen hätten vielleicht die riesigen Walker, hier Strider genannt, aus dem ersten Trailer sorgen können. Mit einer Ausnahme klebt jeder einzelne von ihnen jedoch regungslos an seinem Standort. Und der Einzige, der läuft, tut das für genau 20 Meter, bevor er genauso erstarrt wie alle anderen.
Ich bleibe dabei, während man Anthem spielt, wenn die Fetzen, Funken, Eiskristalle und Blitze durch die Gegend zucken, fühlt man sich hier gut aufgehoben. Sobald man aber innehält und darüber nachdenkt, merkt man, dass dieses Spiel im Grunde von vorne bis hinten gleich bleibt, rigide und mit bürokratischer Beharrlichkeit sein Ding durchzieht. Aufregend und überraschend geht einfach anders.
Variation kommt in erster Linie durch die neuen Anzüge hinzu, die sich tatsächlich in der Spielbarkeit angenehm voneinander unterscheiden und motivieren, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Aber auch diese Art von Interaktion ist gewissermaßen gedeckelt, weil die Anpassungen, die ihr spielerisch an ihnen vornehmen könnt, so überschaubar bleiben. Ein Spiel für Loadout-Schrauber ist Anthem im aktuellen Zustand jedenfalls nicht. Dazu bleibt auch die Ausrüstung der Freelancer und ihrer Anzüge im Verlauf zu austauschbar. Von den Waffen, die deprimierend realistisch und einfallslos daherkommen, hatte ich im ersten Teil ja bereits gesprochen. Daran, dass man nach jeder Mission einfach eine bessere Variante von dem ausrüstet, was man bisher hatte, hat sich bis zum Schluss wenig geändert.
Die individuellen Fähigkeiten der Javelin-Anzüge bleiben sowohl spielerisch als auch in Sachen Anwendung das Highlight des Spiels. Doch selbst hier hätte ich mir einfallsreichere Effekte und Funktionsweisen gewünscht. Das, was da ist, ist einfach nicht genug, um mich über Missionen hinwegzutrösten, die meinen, Eskalation und Spannung wären dadurch zu erzeugen, nach einem Mini-Boss noch einen zweiten, dritten und vierten (!) - dafür aber besonders legendären - gegen euch in die Schlacht zu schicken.
Anthem ist alles andere als schlecht. Aber es hat noch einen weiten Weg vor sich und ich bin nicht sicher, ob Bioware weiß, in welcher Richtung das Ziel eigentlich liegt. Spiele wie dieses konzipiert man eigentlich nicht als Einmal-durch-und-weg-Erlebnis, doch genau danach sieht Anthem aktuell aus. Ich hoffe, das Endgame kann mich vom Gegenteil überzeugen, aber meine Hoffnung schwindet ...
Anthem - Test (Teil 3 und Fazit): Der Beginn einer langen Reise
Und dann war ich durch. So richtig. Zumindest gefühlt und definitiv in Sachen Content. Mit Abzug von ein paar Nebenaufgaben, die sich mir nach Beendigung der Kampagne eröffneten (oder die ich im Verlauf liegen ließ und nun alles sind, was wir bleibt), kamen nach dem Abspann auf der Weltkarte von Anthem zwei Strongholds hinzu. Eines davon ist eine Wiederholung des letzten Story-Einsatzes, der andere eine ziemlich nette neue Mission samt schönem Bosskampf, durchaus auf dem Level des ersten Strongholds, das man im Rahmen der Handlung erlebte.
Was soll ich sagen, auch wenn die Strongholds das Highlight des Spiels bleiben: sie sind einfach nicht genug, auch wenn mir die Feinheiten des Kampfes auf dem hohen Schwierigkeitsgrad, mit dem ich das Wochenende durchbrachte, schon deutlich besser gefielen. Ich fühle mich einfach nicht motiviert, dieses Spiel und seine Missionen und Strongholds bis zum Level-Cap weiter durchzuexerzieren, selbst wenn dort der verlockende Grandmaster-Schwierigkeitsgrad wartet. Der Sprung von normal auf schwer war spürbar und machte es zumindest stellenweise notwendig, das aus Mass Effect 3 und Andromeda bekannte Combo-System effektiv zu nutzen, während es auf normal nie so wirklich zum Tragen kam und die Kämpfe dort komplett belanglos verliefen.
Das ist auf "Hard" zumindest nicht mehr der Fall, denn hier wird eine gewisse Koordination und Absprache durchaus belohnt (auch wenn ihre Abwesenheit immer noch nicht wirklich bestraft wird, sofern jeder Spieler seinen Anzug gut beherrscht). Für Uneingeweihte: jeder der vier Javelin-Anzüge kann einen individuellen Combo-Effekt auslösen, der für unterschiedliche Spielsituation geeignet ist. Das geschieht über Primer- und Detonator-Angriffe, über die jeder Javelin verfügt. Jedes Partymitglied kann einen Feind mit einem Primer versehen, und wer auch immer einen solchen Gegner mit einem Detonator-Angriff trifft, löst seine Combo aus. Und die sind unterschiedlicher Gestalt.
Der Colossus erzeugt etwa Area-of-Effect-Explosionsschaden um sein Combo-Ziel herum und setzt damit großen Gruppen von Gegnern schwer zu. Auch der flinke Interceptor betätigt sich eher in Mengenkontrolle, wenn seine Combo schädliche Elementareffekte auf Gegner überträgt, die ihn umgeben. Für jemanden, der sich vornehmlich mitten ins Getümmel eines Nahkampfes wirft, ein ebenso potentes wie willkommenes Mittel. Die Storm-Klasse macht etwas Ähnliches, nur dass er den Elementareffekt aus der Ferne auf die Feinde überspringen lässt, die sich in der Nähe des Combo-Ziels befinden.
Wenn es gegen Endgegner oder anderweitig besonders harte Brocken geht, ist vor allem der Ranger ein gern gesehenes Party-Mitglied: seine Combo fügt allein dem Ziel des Angriffes besonders verheerenden Schaden zu. Die gewaltige visuelle Effektdichte wirft jedoch auch der Primer-Detonator-Mechanik ab und an einen Knüppel zwischen die Beine. Anthem ist einfach kein besonders übersichtliches Spiel: In seinen wild spawnenden Gegner-Mobs und irrsinnig attraktiven Blitz-, Feuer-, Eis- und Gift-Bombardements Ausschau nach dem Primer-Symbol zu halten, das euch sagt, "jetzt detonieren!", ist schon ein Spiel für sich (vor allem, wenn andere Spieler schon mal das Ziel eines eurer Detonatoren mit einer ihrer Schadenslawinen unversehens töten, bevor ihr euer Ding machen konntet).
Aber: es macht durchaus Spaß und zeigt, wohin die Reise gehen könnte. So wie das System aktuell steht, ist es, wie der Rest des Spiels, jedoch wenig mehr als eine Basis. Was vor allem daran liegt, dass auch dieses wenige neue Facetten von sich zeigt, als die, die ich euch beschrieb. Was reift, ist lediglich eure Fähigkeit, die Mechanik gezielt einzusetzen. Und sobald das passiert, nutzt ihr sie genauso beiläufig wie den Rest eurer Werkzeuge. Trotzdem lenkt das System viel Aufmerksamkeit von den langweiligen Waffen ab. Denn hier kommen endlich Team-Spiel und Spezialisierung hinzu, die man auf normal schmerzlich vermisste.
Ich kann mir gut vorstellen, dass man ab Grandmaster-Schwierigkeit ohne Ausnahme bestens über die Talente seines Javelin im Bilde sein muss. Aber meine Lust, die drei Strongholds noch und nöcher durchzunudeln, bis ich den erforderlichen Level 30 erreicht habe, hält sich in engen Grenzen. Das wird nicht jedem so gehen und das ist ok. Das Gefühl, mit diesem Spiel längst fertig zu sein, bevor es mit mir fertig war, ist kein gutes gewesen und machte sich nach dem Ende der Kampagne unangenehm breit. All das wäre vermutlich nicht allzu schlimm, gäbe es eine Möglichkeit, auch Kampagnen-Missionen gezielt zu wiederholen. Aber alles, was Leuten bleibt, die nicht ständig nur Strongholds und Freeplay spielen wollen, ist das Quickplay, bei dem ihr in eine zufällige Mission auf einem Schwierigkeitsgrad eurer Wahl einsteigt.
Dass zügelt natürlich die Freude daran, sich eine Armada an spezialisierten Javelins zusammenzustellen, um bestimmte Situationen mit ausgewählten Talentkombinationen auszuprobieren. Es ist mir vollkommen schleierhaft, wie Bioware dieses Feature außen vor lassen konnte. Immerhin: sobald man nach den blauen auch die epische lila Loot-Stufe bekommt (nach der noch zwei folgen), werden auch die passiven Waffeneffekte wesentlich interessanter. Hier wird aber nur noch mehr deutlich, dass es eine schlechte Idee war, die Raritäten der Loot-Drops an den Spieler-Level zu koppeln, weil es bedeutet, dass man zu lange launiger RNG-Beliebigkeit ausgesetzt ist.
Überhaupt, dass die Sekundäreffekte so zufällig zusammengewürfelt sind und man keine Möglichkeit hat, die Beschaffenheit seiner Ausrüstung ein wenig zu beeinflussen, wirkt ebenfalls dem Spezialisierungsgedanken entgegen. Da findet man schon mal seine Lieblingswaffe in epischer Ausbaustufe - und dann laufen die passiven Merkmale komplett am eigenen bevorzugten Build vorbei! Und einfach im Store immer neue Ember zu kaufen (oder schlimmer: sie in der Welt zu grinden), um die Waffen anhand von Blaupausen nachzubauen, bis mal eine die richtigen Buffs mitbringt, ist ebenfalls nicht gerade motivierend.
Womit wir bei der alles entscheidenden Frage wären: Was ist Anthems Platz in einer Welt, in der Destiny und The Division mit ihrem bereits zweiten Spiel um die Looten-und-Leveln-Freizeit der Spieler buhlen? Es ist einfach eine Tatsache, dass beide einen Erfahrungsvorsprung haben, den man auf organischem Wege nicht aufholt. Umso erstaunlicher, dass man sich nicht offensiver bei der Konkurrenz umsah, um sich das eine oder andere abzuschauen und gewisse Klippen eines Live-Service-Games der shootenden, lootenden Art zu umschiffen.
Es wundert wirklich, wie sehr dieses Spiel nach sieben Jahren Entwicklungszeit und bei all diesen Vorlagen noch am Anfang steht. Gleichzeitig ist es strukturell nah genug an der Konkurrenz, um sich Trittbrettfahrer-Vorwürfe gefallen lassen zu müssen - wagt sich aber nicht nah genug dran, um von den Fehlern zu profitieren, die die anderen machten (was zuletzt Apex Legends im Battle-Royale-Bereich legendär gut hinbekam). Ist euch das egal und seid ihr bereit, den Rest des langen Weges mit Bioware zu gehen, meinen Segen habt ihr!
Obwohl Anthem erzählerisch schlimm auf die Nase fällt und damit in meinen Augen seine Welt selbst torpediert, ist das Spiel schön und in seinen Grundlagen solide genug, um bei entsprechender Vorliebe für fliegende Mechs und Biowares Design-Sensibilitäten einen Blick zu riskieren. Aber seine Systeme darben nicht nur nach Verfeinerung, sondern vor allem nach entschieden mehr Inhalten, die nicht schnell genug kommen können - und nach einem Weg, die vorhandenen gezielter anzusteuern.
Wie so oft bei dieser Sorte Spiel braucht es einen Kraftakt, um es zu dem zu machen, was es werden könnte. Wenn den Fans an Bioware gelegen ist, räumen sie dem Studio die Chance ein, das vorhandene Potenzial des Spiels zu realisieren. Wenn nicht, beantwortet sich die Frage nach Anthems Platz in der Nahrungskette der Loot-Shooter bald von selbst.
Entwickler/Publisher: Bioware/EA - Erscheint für: PC, PS4, Xbox One - Preis: ca. 60 Euro - Erscheint am: erhältlich - Sprache: Deutsch - Mikrotransaktionen: ja, Kosmetisches - Getestete Version: PC
PC-Spiele testen wir auf Lenovo Legion PCs und Laptops, die uns von Lenovo zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt wurden. Hier erfahrt ihr mehr über Gaming-Laptops 2019 im Allgemeinen und hier geht es zur Website von Lenovo Legion Gaming.