Life is Strange: True Colors - Test: Vorgetäuschte Freiheit, aber das Beste seit dem ersten Teil
Wirklich viele Freiheiten bietet Life is Strange: True Colors nicht, am Ende ist es aber das beste Spiel der Reihe seit dem Start.
Wie hat euch denn Life is Strange 2 gefallen? Ich konnte mich damit bei weitem nicht so anfreunden wie mit Dontnods Seriendebüt. Was nicht an den Themen lag, vielmehr an der Umsetzung. In den meisten Fällen hasse ich zum Beispiel Eskortmissionen in Spielen. Und Life is Strange 2 fühlte sich an wie eine ewig lange Eskortmission. Mit einem nervigen Kind an der Seite. Urgh. Dann doch lieber Young Adult wie im ersten Teil. Und an dem orientiert sich erfreulicherweise auch Deck Nine Games mit dem neuen Life is Strange: True Colors und beweist damit, dass die Reihe hier in guten Händen liegt.
Die Story klingt nach klassischem Life is Strange. Nachdem sie viele Jahre von ihrem Bruder Gabe getrennt war, kommt Alex Chen in das kleine Städtchen Haven Springs in Colorado und trifft ihn dort wieder, lernt neue Freunde und Freundinnen kennen. Es soll ein neuer Anfang für sie werden, denn auch Alex hat serientypisch eine besondere Fähigkeit: sie kann intensive Emotionen anderer Menschen spüren und in den Momenten im Grunde ihre Gedanken lesen. Was anfangs wie der perfekte Neuanfang erscheint, nimmt (natürlich) schnell eine Wendung ins Dramatische, als ihr Bruder stirbt. Und hinter dem vermeintlichen Unfall steckt mehr, als es den Anschein hat.
Mit den besten Erinnerungen ans erste Life is Strange
Es ist faszinierend, wie ähnlich sich True Colors und das allererste Life is Strange anfühlen. Kalkül, um die Fans der ersten Stunde einzufangen? Möglich. Aber hey, es funktioniert! Es erweckt von vorne bis hinten den Eindruck, als hätte Deck Nine Games seine Hausaufgaben gemacht. Ich steuere zum Beispiel gerne den Charakter, der über diese besondere Kraft verfügt - wohl ein weiterer Grund, warum ich mit LiS 2 nicht warm wurde. True Colors baut auf dem ursprünglichen Ansatz auf und lässt euch die Fähigkeiten von Alex einsetzen.
Und das tut ihr nicht allein in entscheidenden Situationen, hier und da löst ihr kleinere Problemchen der Bewohner und Bewohnerinnen von Haven Springs, wenn ihr könnt, indem ihrr ihre Emotionen lest. Um euch dann später oder nach dem Ende zu fragen: Moment Mal, sollte ich das überhaupt? Möchten die, dass ich ihnen helfe? Die Entscheidung liegt letzten Endes bei euch, aber an sich hat Alex kein Problem damit, die Emotionen der anderen zu lesen und gegebenenfalls dafür zu sorgen, dass Dinge passieren, die sonst unter Umständen nicht eingetreten wären. Da ließe sich mit Sicherheit prima darüber streiten, inwiefern das moralisch vertretbar ist, sich dahingehend in die Angelegenheiten anderer Leute einzumischen, selbst wenn es vermeintlich für das Beste ist. Ähnlich wie bei Max in Teil eins entwickeln sich ihre Fähigkeit mit der Zeit noch ein wenig weiter, werden mächtiger. Spürt ihr anfangs nur die Emotionen anderer, lassen sie sich später sogar manipulieren.
Freiheit in Life is Strange: True Colors, die keine ist
Von der vermeintlich großen Spielwelt bleibt am Ende indes nicht viel. Zwar wirkt Haven Springs auf den ersten Blick weitläufig, ihr habt aber immer wieder Kanten und Ecken, an denen Alex nicht mehr weiterkommt, umdreht oder wo zufällig der Weg versperrt ist - bis auf wenige Ausnahmen sind alle Gebäude des Städtchens für euch nicht zugänglich. Es kommen auch nicht viele neue Schauplätze im Verlauf der Geschichte hinzu. Dafür stimmt der Cast an Charakteren. Deck Nine Games fährt eine Reihe unterschiedlicher Figuren auf, von denen manche einfach von Grund auf sympathisch sind, andere nicht: von Best Buddy bis Arschloch ist das gesamte Spektrum vertreten. Und bei manchen könnt ihr euch nie so recht sicher sein, ob sie zu euch halten oder nicht. Animationen und Motion-Capturing liefern dabei die bisher überzeugendsten Resultate der Serie und bis auf wenige Aussetzer ist auch die erstmals vorhandene deutsche Synchronisation on point.
Jeder von den Bewohnern und Bewohnerinnen hat so seine ganz eigenen Sorgen und Probleme, bei denen ihr ihnen helft - oder auch nicht. Alex findet schnelle neue beste Freunde, vor allem in Steph aus Before the Storm und in Ryan, dem besten Freund ihres Bruders. Das Mysterium rund um dessen Tod zieht sich als Hauptplot durch True Colors und hier ist es für Alex im wahrsten Sinne des Wortes eine emotionale Achterbahnfahrt. Erstmals erscheint ein Life is Strange direkt als Komplettpaket und ihr könnt die fünf Kapitel in rund zehn Stunden durchspielen. Der Drang danach war bei mir definitiv vorhanden. Und das nicht allein aus dem Grund, weil es für den Test erforderlich war, sondern weil ich wissen wollte, was hinter all den Geschehnissen steckt, weil mich die Story und Geheimnisse gepackt haben. Es war exakt das gleiche Feeling wie beim ersten Teil, das mir beim zweiten komplett fehlte. Was mich daran erinnert, dass ich da doch mal noch die letzte Episode spielen sollte...
Typische Detektivarbeit in Life is Strange
Abseits der Dialoge und Cutscenes füllt ihr eure Informationslücken auf, indem ihr - wie aus der Serie bekannt - die Umgebung näher unter die Lupe nehmt. Vieles lässt sich einfach nur näher anschauen, mit den wenigsten Dingen um euch herum könnt ihr tatsächlich interagieren. Über Alex' Telefon bekommt ihr SMS oder schaut euch in sozialen Medien um und einzelne Objekte - die zugleich als Sammelgegenstand dienen - haben eine emotionale Aura, sind mit einem kleinen Flashback verbunden, der euch weitere Hintergrundinfos über vergangene Ereignisse liefert.
Und dann gibt es da die größeren Entscheidungen, bei denen das Spiel quasi pausiert und ihr euch für eine von zwei Optionen entscheiden müsst. Welche Auswirkungen das alles hat? Das bleibt eher vage. Das macht es aber zugleich spannend. Wenn ich vorher nicht bis ins letzte Detail weiß, was passiert, entscheide ich nach Bauchgefühl oder rufe mir nochmal alles rund um diese Situation in Erinnerung, um die für mich bestmögliche Entscheidung zu treffen. Und wenn's dann halt eher schlecht läuft, muss ich damit leben. Manche Konsequenzen daraus mögen subtil sein, aber ihr spürt und seht sie, wenn ihr darauf achtet. Nicht zuletzt sehr ihr anhand der Community-Statistiken am Ende eines jeden Kapitels, welche Abläufe hier und da möglich gewesen wären.
Am Ende bietet euch True Colors eine Mischung aus schönen, traurigen, dramatischen und spannenden Momenten, die von Deck Nine Games wunderbar umgesetzt wurden. Ab und an nimmt sich das Spiel eine Auszeit, ihr könnt zum Beispiel am See verweilen und ein wenig über das Geschehene oder über das, was noch kommt, reflektieren. Sucht nicht zwingend nach der Logik hinter Alex' Fähigkeit und warum sie dies kann, anderes aber nicht. Da müsst ihr euch einfach ein Stück weit drauf einlassen, dass manches eher so läuft, dass es den Plot zwar ein Stück weit voranbringt, aber nicht gleich das ganze Geheimnis lüftet. Es ist nichts, was im Endeffekt großartig stört, solche kleinen Dinge (wie auch die eingeschränkte Spielwelt) kaschiert das hier vor euch liegende Gesamtpaket prima und liefert zum Ende hin einen befriedigenden Abschluss für Alex' Geschichte.
Life is Strange: True Colors Test - Fazit
Verlässt sich Deck Nine Games am Ende zu stark auf ein bekanntes, beliebtes Schema? Nun, solange es funktioniert - und das tut es bei mir. Dontnod hat bei Life is Strange 2 versucht, ein wenig zu experimentieren. Das Ergebnis war, dass es mir nicht so gut gefiel, True Colors schlägt aber genau die gleiche Kerbe wie damals der erste Teil und ich mag es, diese Geschichte mit Alex zu ergründen, all die Momente zu genießen, die das Spiel zu bieten hat, mit den Charakteren und der Stadt zu interagieren. Alles weckt im besten Sinne Erinnerungen an das erste Life is Strange. Und wenn es das ist, wonach ihr sucht, bekommt ihr mit True Colors ein Spiel, das euch zehn Stunden langen bestens unterhalten wird.