Astral Chain - Test: Action, Monster und Neo Tokyo auf der Switch. Was kann schiefgehen.
Erstaunlicherweise nicht viel, wie es aussieht.
Retro-Future ist in, wie es aussieht. Vermisste jemand bei CD-Project die guten alten West-Cyberpunk-Zeiten, hatte man bei Platinum Games ganz schwere Sehnsucht nach den Anime-Neo- Tokyos der späten 80er und frühen 90er. Der Cell-Shading-Look verstärkt die Flashbacks zu Klassikern wie Akira oder Bubblegum Crisis noch einmal und von der ersten Motorradszene durch einen Neon-hellen Tunnel an bleibt das Flair erhalten, spielt gekonnt mit den Assoziationen und passt sowohl in die Gegenwart, wie es auch die Retro-Synapsen eines alternden Nerds Dauerfeuer geben lässt.
Dabei ist die Handlung in weiten Teilen so dermaßen Anime und japanisch, dass es mitunter schmerzt. Die Welt ist praktisch untergegangen. Invasoren aus einer anderen Dimension öffnen nach Belieben Tore in die unsere, erledigten die Menschheit und verwandelten unser Zuhause mit einer Art Terraforming in eine rote Kristallhölle, in der keiner lange leben kann. Nur eine künstliche Insel mit einer neuen Stadt - die trotzdem jede Menge Ressourcen übrigzuhaben scheint, um Neon-Schilder zu kaufen und sich hübsch zu machen - beherbergt die letzten Reste der Menschheit. Das ging für eine Weile gut, aber jetzt beginnt auch hier die Invasion. Gut also, dass ein Forscher gerade die Technik fertig hat, die stärksten der Invasoren an die Kette zu legen und so mit einem Menschen zu verbinden, dass der seinen neuen Super-Kampfhund lenken kann. Leider können nur eine Handvoll Leute diese Wunderwaffe nutzen, darunter natürlich euer Held.
Soweit der "normale" Teil, der Rest ist unglaublich japanisch. Die Polizeiwache, die ihr als Hub für die sehr ausufernden Missionen nutzt, könnte auch das Set einer Sitcom sein, Liebesgeschichten, Office-Zank und ein gelbes Hundemaskottchen inklusive - von dem ich überzeugt bin, dass sie alle was mit ihm hatten. Ja, ich habe es gesagt, sie alle hier sind Furrys, das ist okay, sie sollten stolz darauf sein und dazu stehen, dass sie ihre Nächte schon mal mit dem gelben Hundemaskottchen verbringen. Was soll ich sagen, es ist einfach der Vibe, der bei einigen der seltsamen Dialoge rüberkommt. Egal, man hat jedenfalls selten den Eindruck, dass die Welt untergeht. Das zieht sich weiter auf die Straße, wo sich scheinbar auf mehrmals täglicher Basis rote Dimensionstore öffnen, Monster herausfallen und halbe Stadtteile im Chaos versinken. Davon merkt ihr nicht immer so viel, denn oft genug geht ihr auf die Straßen, redet mit Leuten, die oft genug ihren Dingen nachgehen, sammelt wie echte Polizisten Indizien, was passiert sein könnte. Als würde die Antwort nicht "rotes Dimensionstor mit Monster dahinter" lauten.
Das ist so japanisch wie es nur wird, es erinnert an viele Anime, die Alltagsgeschichten und -probleme, zu denen ein persönlicher Bezug leichtfällt, mit absurden Szenarien verbinden und auch Japan selbst neigt zu einer Mentalität, die Dinge so zu handhaben. Sicher, 15 Kilometer nördlich wurde ein Atomkraftwerk geflutet. Kein Grund, in Panik zu verfallen, das Leben geht weiter. Das mag innerhalb der westlichen Dauer-Panik-Zustände in vergleichbarer Fiktion seltsam wirken und umso erfrischender ist dieses unverfälscht japanische Flair. Auch in den mitunter sehr tragenden Dialogen kommt das rüber, wobei ich einen Teil eher auf die etwas ungelenke Synchronisieren schiebe, einen anderen auf die im Anime beliebten langen, bedeutungsvollen Pausen. Wenn eine Figur auf die eigentlich relativ offensichtliche Erkenntnis eines anderen erst nach Sekunden des nachdenklichen auf-den-Boden-starrens, dramatisch die Augen blickt und "I see ..." sagt, dann hört der Anime-Fan sofort das schnelle "Sokka!", das dann oft mit der Folgeaktion getimt wird und weniger holprig erscheint. Ach, Japan, es ist schön, dass du auch in größeren Produktionen noch so unverfälscht zu finden bist.
Das klang jetzt vielleicht alles irgendwie nach viel Kritik, aber es sind eigentlich mehr Feststellungen, denn ich liebe Astral Chains Geschichte, mit all ihren immer wieder hereinbrechenden Klischees und Ausrutschern. Das Timing der Erzählung ist gut gewählt, gönnt sich Pausen, wo sie gebraucht werden und es gibt genug interessante Wendungen, um einen mit Leichtigkeit bis zum Ende bei der Stange zu halten. Wie gesagt, eine leichte Affinität für die östliche Cyberpunk-Variante hilft, aber ich denke, sie ist eher optional, um es in der ganzen Bandbreite zu genießen. Man sollte halt nur nicht ständig hinterfragen, was jetzt mit dem gelben Hundemaskottchen in der Polizeistation los ist, sondern einfach mit dem Flow gehen, dann steckt hier richtig viel Spaß drin.
Ich deutete eben schon an, dass sich die mitunter seltsam anmutende Ruhe während des Sturms auch auf das Gameplay erstreckt. Setzten Platinum-Spiele wie Bayonetta oder Vanquish komplett auf Non-Stop-Action, gibt es hier viele ruhigere Passagen, sei es durch den Hub zu spazieren, sich auszurüsten, nebenbei ein paar Mini-Quests mitnehmen oder einfach mit den Anwesenden schnacken. Auch in den Missionen sammelt ihr oft in kleineren Arealen mit viel Erkundungspotenzial in Ruhe Hinweise, sprecht mit Leuten und es gibt zum Abschluss dieser "Ermittlungen" sogar ein Quiz zu den Indizien, bei dem ihr für Extrapunkte glänzen könnt. Diese Bereiche sind eine sehr willkommene Abwechslung, sei es, um euch mehr Gefühl für diese Welt zu geben, aber eben auch, um die Action mehr zu betonen und frisch zu halten. Normalerweise wäre ich jetzt nicht der Typ, der über solche Ruhephasen sonderlich erfreut wäre, aber mit schnellen Dialogboxen und viel Abwechslung - Reden, Puzzles und Sachen sammeln halten sich gesund die Waage - hatte ich hier jedes Mal erstaunlich viel Spaß. Das ist einfach richtig gute Gameplay-Gestaltung, etwas das ich Platinum selbst - bei Nier habe ich sie mehr als Erfüllungsgehilfen gesehen - in der Form gar nicht zugetraut hätte. Selbst wenn es immer wieder seltsam wirkt, als Super-Cop den Fußball eines Kindes zu suchen. Optional, sicher, aber es ist gleichzeitig so absurd, wie es ein wichtiger Teil des liebeswerten J-Charmes von Astral Chain ist.
Der Action-Kampf ist natürlich trotzdem das Fleisch am Knochen und dass man sich hier Blöße gibt, ist nicht der Fall und war auch nicht zu erwarten - schließlich wurde Astral Chain im Gegensatz zum unsäglichen Turtles nicht als Hobbyprojekt des Hausmeisters realisiert. Und wie sein gefühlter Action-Vorgänger im Geiste - Treasure - hat Platinum für praktisch jedes neue Spiel ein Gimmick parat, das ein paar Erklärungen erfordert. Hier ist es natürlich das an euch gekettete Monster, das zunächst recht simpel daherkommt. Während ihr selbst recht einfache Kombis mit verschiedenen Nah- und Fernkampfwaffen landet, schickt ihr euren mit Schwertern als Arme bestückten Freund an der Kette in Richtung des Gegners. Dort macht er eigenständig sein Ding, bis seine Lebensenergie am Ende ist und er ein paar Sekunden braucht, um sich zu regenerieren. Das lässt sich mit dem richtigen Timing auch mit euren eigenen Angriffen kombinieren und ergibt einen recht soliden, wenn auch nicht gerade komplexen Kampffluss in den ersten zwei, drei Stunden. Danach beginnt es, interessant zu werden.
Ihr schaltet nach und nach immer neue Begleiter im Rahmen der Handlung frei. Einen Bogenschützen, einen besonders starken Hulk-Verschnitt und sogar einen Cyber-Säbelzahntiger. Ich bin mir bei der Gattung nicht ganz sicher, aber dann sieht das Viech nun mal so aus und damit geht das Spiel automatisch auf der Awesome!1!-Skala ein paar Punkte nach oben. So wie halt jedes Spiel mit einem Cyber-Säbelzahntiger. Vor allem, wenn man sogar auf ihm reiten darf wie hier. Ihr schaltet diese "Legions" genannten Begleiter direkt im Kampf durch, alle haben ihren eigenen Fertigkeitenbaum, was die eher übersichtlichen RPG-Aspekte des eigenen Helden mehr als wettmacht und jeder der Legions hat seinen eigenen Kampfstil, der im Duett mit dem Helden dann ein eigenes und in allen Fällen ausgesprochen reizvolles Spielgefühl ergibt. Es ist lustigerweise im Prinzip das, woran vor ein paar Tagen Oninaki scheiterte und jetzt zeigt Astral Chain, wie es im Idealfall läuft.
Der Kampffluss aus Kombos, Finishern und Wechselspiel ist dabei nicht annähernd so Fingerfertigkeits-lastig wie bei einem Bayonetta. Ihr müsst nie zig Kombo-Tastendrücke beherrschen, um etwas Sinnvolles zu tun und es setzt vielmehr darauf, das Wechselspiel aus eigenen Angriffen und den Fertigkeiten der Legions zu beherrschen. Die richtige Waffe zur richtigen Zeit definiert die zweite Hälfte des Spiels und da es trotz dieser vermeintlichen Einschränkung der Komplexität im Vergleich zu einem Kombo-Brawler immer genug Optionen gibt und nie Langeweile aufkommt, bin ich sehr froh hier mal etwas anderes zu sehen als das nächste Bayonetta oder Devil May Cry. Vor allem, wenn es auf dem qualitativ gleichen Niveau passiert.
Bei den Bosskämpfen bin ich enttäuscht auf hohem Niveau. Es gibt vor allem bei den Zwischenbossen, die dann sofort als normale Gegner recycelt werden, recht wenig Not für eigene Taktiken. Geht sie mit dem üblichen Fluss an, den ihr sonst gefunden habt, und es wird schon funktionieren. Nur die Hauptbosse haben genug Tricks auf Lager, um euch zum Nachdenken zu zwingen, aber besonders denkwürdig waren sie leider nur selten und eigentlich auch erst ab der zweiten Hälfte. Von Platinum ist man da eigentlich ein wenig mehr gewöhnt.
Der Schwierigkeitsgrad dürfte dabei überhaupt kein Problem sein. Ihr dürft vom Start Leicht oder Mittel spielen - was zu Beginn der höchste Schwierigkeitsgrad ist. Den sollte eigentlich auch jeder erstmal versuchen, denn auf dem leichten "Casual"-Grad kann man sich zusammen mit genug Heiltränken einfach zu billig durch-mashen, was weit weniger reizvoll ist. Oder aber, ihr sagt, dass ihr keine Ahnung von Controllern und Action habt, dann geht ihr in den "Cheat"-Modus. Das Spiel nennt es etwas anders, aber im Prinzip ist es ein Autokampf, in dem ihr definieren könnt, was das Spiel euch alles abnehmen soll, bis zu dem Punkt, an dem eure Legions selbst spielen und ihr ein wenig zuguckt und Abstand haltet. Es gibt weniger Punkte, aber sonst bestraft euch das Spiel nicht und so dürfen auch alle ran, die bei Bayonetta selbst auf Leicht keine Sonne gesehen haben.
Nicht überzeugen konnte mich der Koop-Modus. Vorsichtig gesagt. Ein Spieler steuert die Hauptfigur, der andere den angeketteten Legion. Aber abgesehen davon, dass das im Kampf schon schwierig genug zu koordinieren ist, da die Systeme nicht auf den freien Willen eines weiteren Spielers angepasst wurden, müsst ihr auch die beiden Joycon benutzen. Kein zweites Set, sondern beide müssen jeweils einen der Winz-Controller benutzen und es bleibt völlig unklar, warum. Außer vielleicht, weil Platinum eh nie damit rechnete, dass jemand diesen Murks-Modus benutzt, denn wenn ihr gerade nicht kämpft, heißt das auch, dass Spieler 1 die Bewegungen lenkt und Spieler 2 die Kamera. Was ungefähr die exakte Definition von Antispaß sein dürfte. Ja, es gibt einen Koop, nein, benutzt ihn auf keinen Fall.
Es ist sicher besser, wenn ihr den Controller abwechselt und einer genießt einfach so die farbenfrohen, elegant fließenden Kampfanimationen und die zwar jetzt nicht gerade auf technischem Cyberpunk-Level spielende, aber im Design ausgereifte Retro-Zukunft um euch herum. Dazu kommt fantastische Musik, die von softem Lounge-Elektro mit Nier-Gesangseinflüssen bis hin zu großem Orchester-Drama reicht. Sie bestimmt oft genug die Atmosphäre, mit einer fast unfehlbaren, wenn auch nicht immer subtilen Präzision, und das ab dem Moment, in dem ihr den Level betretet. Astral Chain ist sogar vollständig japanisch und englisch vertont - freie Auswahl - und hat deutsche Untertitel und die englischen Sprecher sind durch die Bank solide und haben oft genug Charme. Die Welt mag mitunter den Vibe eines End-80er-Manga-Video-Titels versprühen, aber es wurde definitiv nicht ihr Synchronstudio benutzt.
Die einzige akustische und noch mehr inhaltliche Blöße ist eine, die man zur Genüge aus der Metro-Reihe kennt: Jeder quatscht den Helden voll, er selbst sagt kein Wort. Zustimmendes Grunzen ist das Maximum seiner Artikulationsmöglichkeiten. Warum das so ist, kann ich nur spekulieren und das würde zu der Möglichkeit führen, am Anfang zwischen Mann und Frau auszuwählen. Wahrscheinlich wollte man nicht alle Texte doppelt vertonen und die anderen Texte entsprechend anpassen. Das oder es führt zu dem Gedanken, der in japanischen Spielen stark verbreitet ist: Spiele werden von einer jüngeren Zielgruppe gespielt und die wollen sich selbst stärker mit dem Charakter identifizieren. Das ist dann wichtiger als inhaltliche Dramaturgie und nur möglich, wenn die Hauptrolle statt einer eigenen Persönlichkeit eine möglichst leere Projektionsfläche ist. Entweder das oder was ganz anders, aber überzeugen tut es mich im Ergebnis nicht.
Sonst jedoch überzeugt mich zu meiner eigenen Überraschung an Astral Chain praktisch alles. Es ist eines der besten Action-Kampfsysteme der letzten Jahre, abwechslungsreicher und zugänglicher als Devil May Cry oder Bayonetta, aber in keiner Weise weniger unterhaltsam. Die Kombination der verschiedenen Fertigkeiten der einzelnen Begleiter mit den eigenen Kampfmustern der direkt gesteuerten Figur bleibt bis zum Ende frisch und lässt euch immer neue Variationen finden. Gleichzeitig funktioniert das Wechselspiel aus ruhigen Passagen, die sich ausschließlich der Erkundung der erstaunlich dichten Spielwelt widmen und ein paar kleine Puzzles in den Mix werfen, wunderbar. Dazu kommen viele kleine, unaufdringliche Systeme am Rande, von zusätzlichen Upgrade-Optionen über Mini-Quests zu reinen Kosmetik-Funktionen, die das Gefühl für Spiel und Spielwelt erfolgreich vertiefen.
Die größte Schwäche ist dabei nicht der verkorkste Koop, den man eh nur als experimentelles Bonus-Feature sehen sollte, sondern der schweigsame und damit ziemlich persönlichkeitsbefreite Held. Aber das ist hier eine Schwäche, die das ansonsten tadellose Astral Chain, das ich ohne zu zögern eines der charmantesten, eigenständigsten und schlicht besten Action-Adventures der letzten Jahre nenne, leicht verschmerzen kann.
Entwickler/Publisher: Platinum Games / Nintendo - Erscheint für: Ninetndo Switch - Preis: ca. 60 Euro - Erscheint am: 30. August 2019 - Gestestete Version: Switch - Sprache: Englisch, Japanisch (gesprochen), deutsche Untertitel - Mikrotransaktionen: Nein