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Auch wenn Fallout 4 schöner aussieht: Vergesst nicht Age of Decadence

Besonders wenn ihr in Rollenspielen lieber redet als kämpft.

Bei all dem bereichernden Trubel um Fallout 4 und die Frage, wo es wie weit als RPG kommt, ging ein wundervolles Spiel unter, das diese Frage mit massivem Handlungsfreiraum untergräbt: Age of Decadence. Nachfolgend ein kleiner Anstoß, wieso das eine gute Sache ist.

Eine der ersten Mitteilungen des Spiels an den Spieler beim Starten lautet sinngemäß "Das wird kein Spaß für jedermann", und es ist sein Ernst, schätzt man Rollenspiele für ihre oft vordergründige Kampfbetonung. Die vor elf Jahren mit der Entwicklung gestarteten Iron Tower Studios richten sich offen und im Spielverlauf immer wieder zwischen den (Dialog-)Zeilen gegen die Heldenhaftigkeit des Handelns im Gros der heutigen Rollenspiele. Hier gibt es keine Helden, nur Halunken, keine Damsel in Distress, nur einen Dolch in die Rippen. Inspirationen waren die ersten beiden Fallouts.

Meist ist doch die Handlungspalette in diesen Spielen recht definiert. Selbst Kickstarter-Lieblinge wie Pillars of Eternity oder Wasteland 2 sehen den Kampf als natürlich-heroischen Teil ihres Daseins. Irgendwann muss eben der Drache oder die riesige mechanische Spinne liegen, egal wie schwer es sein mag, Jubeln, Besäufnis. In Age of Decadence wartete ich fünf, sechs Stunden später immer noch auf den ersten unumgänglichen Kampf.

Zweckmäßige Darstellung, tiefgehende Dialoge, zig Möglichkeiten. Age of Decadence schafft über seine Texte, was vielen modernen RPGs abgeht: Zwischenfälle, Handlungsfreiraum und Konsequenzen.

Nach dem Fall von etwas, das dem Römischen Reich nicht nur in Nuancen nachempfunden ist, ringen Fraktionen und ganze Ortschaften um den Halt in einer auf ihre Weise postapokalyptischen Welt. Politische Verstrickungen und "Eine Hand wäscht die andere" sind weit mächtiger als ein Spitzhut im Elfenbeinturm, der andernorts überwältigende Heerscharen ins Land schickt.

Age of Decadence hat ebenfalls übernatürliche Elemente und Prophezeiungen in seinen vielen, vielen Lore-Texten, mehr als hintergründiger Schatten, um der Welt mysteriöse Konturen zu verleihen. Im Vordergrund steht immer - zumindest in zehn Stunden, die ich bislang gespielt habe - menschliches Handeln und in der Form wirkt dieser Low-Fantasy-Ansatz sehr erfrischend und ehrlich.

Unter der Haube ist er komplexer als so ziemlich alles der letzten Jahre. Vier an Fraktionen gebundene Hintergründe bei der Charaktererstellung, vier vom Rest losgelöste (etwa Mercenary oder Drifter), dazu Gruppierungen mit angeknüpftem Rufsystem - kein Wendehals wird sich hier halten können. Das wäre nicht nur für ein Mainstream-RPG eine unheimlich ausufernde Ausgangslage; selbst in den Sphären, in denen sich Iron Tower bewegt (ca. 23.000 Besitzer laut Steam-Spy), muss man erst mal wohlig ausschnaufen und die Texte zu den Fraktionen lesen, welches Adelshaus wo herkommt und hineinlappt.

Aussehen tut es... na ja, so eben.

Bereits in der Anfangsstadt finden erste Überschneidungen auf gruppenpolitischer und persönlicher Ebene statt. Hilft man dem asiatisch aussehenden Loremaster Feng dabei, seinen Konkurrenten auszuschalten, oder findet man dessen Auftreten sympathischer und hintergeht Ersteren? Habe ich getan und bekam am Ende des Kapitels einen Text, Feng hätte sich nach Ganezzar abgesetzt. Mal sehen, was da noch passiert.

All das ohne Kampf. Nicht weil er unmöglich gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Es existieren so viele dialogische Stats- und Skill-Checks, dass er schlicht unnötig ist. Ihr wollt irgendwo hineinkommen? Es gibt abseits des oft möglichen Schleichens und der direkten Nachfrage stets diverse Abfragen von Werten wie "Lore", "Etikette" oder "Gerissenheit", manchmal in Kombination gesetzt, etwa "Lore" und "Handwerk" beim Bedienen einer kryptischen Maschine. Keine Situation, die man nicht mit Worten oder speziellen Kenntnissen hätte beilegen können.

Müsste ich in der Frühphase einen Schwachpunkt benennen, wäre das neben dem Offensichtlichen (schaut euch die Bilder an...) der "Lore"-Wert. Er erfährt eine Überbetonung und steht als Abfrageoption deutlich öfter zur Verfügung als der Rest. Klar, das Verständnis für altes Wissen und Überlieferungen mag dem Setting angemessen sein, aber ich würde schätzen, man sperrt sich ohne diesen Skill von gut der Hälfte der rhetorischen Dialogoptionen aus.

Wo der Grafik die Details fehlen, stecken in den Texten umso mehr davon.

Anhand einer Ausgrabungsstätte lassen sich gut die frühen Verzweigungen aufzeigen. Ihr werdet von Haus Daratan dorthin geschickt, zu schauen, was Haus Aurelian so weit außerhalb ihrer großen Stadt zu schaffen hat. Man kann direkt nachfragen oder im Dialog einen "Geschicklichkeit"-Check bestehen, um die erste Wache zu überrumpeln. Genauso gut kann man sich im Dunkeln anschleichen oder die alte Fallout-Nummer abziehen und sich in einer Robe als hierher beorderter Loremaster ausgeben (wenn man von ihm weiß).

Drinnen dann könnt ihr die Maschinen in Gang bringen (und damit den eigentlichen Auftraggeber reinlegen) oder sie manipulieren und alle Wachen in eine Todesfalle locken. Wer reine Finger über ein reines Gewissen stellt, kann außerdem eine bis hierher nur sehr lose mit diesem Handlungsstrang in Verbindung stehende Banditentruppe ermuntern, die Meute abzuschlachten. Und selbst danach könnt ihr deren Anführer immer noch hintergehen, die versprochene Belohnung einbehalten, ihn meucheln oder einen fairen Kampf starten. Und euch sogar Haus Aurelian gegenüber als Retter in der Not darstellen. Herrlich.

Die Reaktivität ist eine Wonne. Age of Decadence hat keine technischen Muskeln - Wasteland ist dagegen High-End, Divinity kein Vergleich - und versteckt seine Tiefe in den Texten. Hiermit schafft es trotz allem ein Bild belebter Gassen, in denen Hinterhalte lauern, ein scheinbar Hilfebedürftiger im Vorbeigehen euer Handgelenk oder sogar in eure Geldbörse greift. Verfolgt ihr ihn, habt ihr überhaupt die entsprechenden Stats?

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Und so bekam ich doch noch meinen ersten Kampf: als mich ein windiger Händler mit aufgesetztem Lachen in sein Haus lockte und meine Geschicklichkeit zu niedrig war, um dessen hinterrücks die Dolche zückenden Kollegen zu entgehen. Sie brauchten keine vier Züge für mich. Im Todesbildschirm stand etwas wie: "Du folgtest dem Händler und wurdest wegen des Wenigen getötet, das du hattest. Das Universum bleibt unverändert".

Mit einer gewinnenden Strenge, beinahe Gleichgültigkeit, bildet Age of Decadence in derlei Sätzen den Lauf der Dinge in seinen wilden Landen ab. Inquisitor, Hexer und Drachenblut reißen nach ihrem Tod ganze Welten mit in den Untergang. Hier ist es nur eine Seele weniger in einer harten, bis ins Schmerzvolle aufrichtigen Welt.

Da wären wir wieder, kein Spiel für jedermann, auch deswegen, weil man sich übelst verskillen kann. Im Inneren jedoch ist es näher am Spiel für jedermann dran als ein Kaliber wie Fallout 4 - die in dieser Betrachtung nicht unwichtige Oberfläche, Zugänglichkeit und Bedienung mal ausgeklammert -, dank seiner breiten Aufstellung an Spielstilen. Ihr könnt euch kämpfend durchbeißen oder als Mischung aus Stark und Klug, es sogar (durch-?)spielen, ohne einen Kampf bestreiten zu müssen. Ich wüsste auf Anhieb nicht, über wie viele Rollenspiele man das sonst sagen kann.

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Sebastian Thor Avatar
Sebastian Thor: Steht auf Bier und Bloodsport. Mag weiche Sofas und verliert sich gern in Gedanken an dies und das. Seit 2014 bei Eurogamer dabei, aktuell als freier Redakteur.
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