Baldur's Gate 3 im Test - So nah habt ihr euch dem D&D-Tisch, den Würfeln und euren Freunden noch nie gefühlt
Alles, was uns für Stadia versprochen wurde, und so viel mehr.
Machen wir es kurz: Baldur’s Gate 3 ist die Antwort auf alle Gebete, die wir als junge Rollenspieler vor Dekaden an ein erstaunlich komplexes Pantheon schickten. Zugegeben, wir dachten auch, dass diese Gebete zweimal schon erhört worden wären, als vor etwas weniger Dekaden die ersten beiden Spiele der Reihe erschienen, und das war auch der Fall seinerzeit. Jetzt aber geht Larian noch einen guten Schritt weiter und verbindet die mit Divinity aufgebaute DNA mit dem Reichtum der D&D-Welten. Das Ergebnis? Ein Rollenspiel, das nichts neu erfindet, aber alles richtig macht.
"Nichts neu erfindet" meine ich auch absolut ernst. Nichts in Baldur’s Gate 3 fühlt sich im heruntergebrochenen Detail so an, als würde irgendwas Revolutionäres passieren. Das Rundenkampfsystem - nein, kein Stop-Go-Kampf dieses Mal -, die Perspektive, die zahllosen Würfelwerteorgien. Angefangen von SSIs Gold-Box-Tagen bis hin zu jüngeren Varianten wie Pillars of Eternity findet sich alles hier oder da. Wer RPGs schon ein paar Jahrzehnte kennt, dürfte nichts erleben, das man noch nicht gesehen hat. Ihr werdet euch sofort zurechtfinden. D&D-Spielern, selbst solchen, die nur das neueste Box-Set mal kurz durchgeblättert haben, muss man nicht lange erklären, was hier passiert.
Ich fühle mich in Baldur’s Gate ein wenig wie bei Diablo 4: Sicher, im Detail muss ich schauen, was jetzt ein guter Build ist, aber das hielt mich nicht davon ab, nach zehn Minuten im Flow zu sein. Und ähnlich ist es auch hier. Sollte es jemandem wie mir gehen in der Annahme, dass Alter und Komplexität des Lebens etwas zu weit fortgeschritten sind, um sich in ein umfangreiches und verzweigtes Abenteuer zu stürzen: keine Sorge. Gebt der Sache eine halbe Stunde und ihr seid mittendrin.
Revolutionär wird es, wenn ihr den Blick vom Screen nehmt und nach Stunden und Tagen zurückblickt darauf, was passierte, was nicht passierte und was alles hätte passieren können. Seit dem Anbeginn des Genres geht es um Entscheidungen und Konsequenzen, wie Garriot, Spector und ihre Origin-Buddys es vor so langer Zeit auf den Punkt brachten. Ihr sollt einen Einfluss auf die Welt haben und die alten Baldur’s Gates waren darin gar nicht so schlecht, vor allem, weil sie das Konzept auf die eigene Gruppe übertrugen. Baldur’s Gate 3 treibt das nun auf die Spitze. Nicht, weil es das Konzept an sich auf den Kopf stellen würde, sondern in einer sehr konsequenten Ausprägung.
Ihr könnt fast ein Dutzend echte, bis ins Detail ausgearbeitete Charaktere rekrutieren und jeder davon hat seine ganz eigenen Vorstellungen von der Welt, die alle über die simplen Konzepte von Dieb, Magier oder Krieger hinausgehen. Ihre Moralvorstellungen weichen teilweise drastisch voneinander ab, manche zeigen ihre echte Persönlichkeit erst spät und sie werden euch oft genug damit überraschen. Sie halten euch unter ständiger Beobachtung, sagen, wenn ihnen etwas nicht passt oder wenn sie mit euren Entscheidungen zufrieden waren, und es ist unmöglich, es allen recht zu machen.
Das ist natürlich bewusst so gehalten und wenn man es mit dem jahrzehntelang geschulten Blick für RPGs betrachtet, fühlt es sich auch nicht immer ganz natürlich, sondern stellenweise konstruiert an. Aber der Unterschied etwa zu einem Skyrim ist, dass ich dort einfach mit der Schulter zucke und sage, es ist halt Elder Scrolls. Die waren nie besser als das, ich habe nie mehr erwartet. In Baldur’s Gate 3 werden meine Erwartungen übertroffen und ich bewege mich in einer Art Uncanny Valley des Quest- und Charakterdesigns, dessen Brillanz erst die kleinen Risse darin überhaupt sichtbar macht.
Der größte Riss ist, dass es sich trotz aller Interaktion eurer Begleiter untereinander, ihrer Gespräche, der unglaublich detaillierten Welt, durch die ihr euch bewegt, immer so anfühlt, als wärt ihr das Zentrum des Universums. Weil ihr es im Grunde seid. Ohne jetzt in Stirners Betrachtungen über Solipsismus abzudriften, fällt in einer so fantastisch durchdeklinierten Welt wie der von Baldur’s Gate 3 auf, dass ihr die Heiligsprechung aller Dinge seid, weil ohne euch schlicht nichts passieren würde. Aktion und Reaktion, Entscheidung und Konsequenz, das hat dieses Spiel perfekt verinnerlicht und lebt es in seinen endlosen Textzeilen aus. Dass es aber immer das Erste braucht und die Welt ohne diesen Input stillstehen würde, ist eine Schwäche. Vielelicht, dass eine lokale Diebesgilde oder andere Fraktion sich um etwas kümmerte, ihre eigenen Geschäfte erledigt und die Räder der Welt am Laufen hält. Nicht nur als reiner Timer, sondern als kaskadierende Ereignisse, denen ich dann hinterherlaufen muss, weil mein Charakter eben nicht das Zentrum des Universums ist.
Erneut, auf solche Gedanken kann man nur bei einem Spiel kommen, dessen Dialoge, Dialogoptionen und Quests so brillant ausgearbeitet sind wie bei Baldur’s Gate 3. Selbst bei dem exzellenten Pillars 2 kam ich nie zu solchen Überlegungen, auch nicht bei Bioware oder Witcher und ganz sicher nicht bei Elder Scrolls, schlicht, weil deren lineares Quest-Design nie den Antrieb hat, an so interessante Orte zu gehen. Ich weiß auch nicht, ob Larian da überlegen ist oder einfach nur der Umfang und die Qualität der möglichen Quests und Entscheidungen in Baldur’s Gate 3 meine Gedanken in Richtung des vielleicht Unmöglichen schieben. Aber dass es das tut, sagt unglaublich viel über das Spiel aus.
Was die Story selbst angeht, nun, es ist die coolste D&D-Kampagne, die sich je in einem Computerspiel ereignete und sicher 98 Prozent der üblichen Tabletop-Runden sprengen würde. Das Setup der Mindflayer, die euren Charakter mit einem Parasiten infizieren, die Rückgriffe auf das Multiversum der D&D-Welten bis hin zu Spelljammer-Tagen - es ist ein wilder Ritt durch Jahrzehnte an Material, das nur ein so umfangreiches und elaboriertes System wie D&D bereithält. Larian schöpfte aus dem Vollen und nahm mit, was ihnen über den Weg lief. Für die Ausarbeitung beließen sie es nicht bei Textblöcken mit Erklärungen.
Ein geringeres Spiel würde sich damit begnügen, dass ihr dank der richtigen Magie mit Tieren reden könnt und einen zusätzlichen Satz lest. Hier haben die Wesen dieser Welt eigene Agenden und Quests, in die ihr euch einmischen könnt und dringend solltet, denn vieles davon gehört zum Humorvollsten, was mir seit Jahren im Genre unterkam. Es ist implementiert, weil wahrscheinlich irgendwann während der Entwicklung jemand sagte "Hey, es gibt doch den 'Sprich mit Tieren'-Zauber. Lass uns was damit machen". Und das taten sie, indem sie praktisch ein kleines Paralleluniversum schufen. Es ist nur ein Beispiel von so vielen, was normalerweise, wenn überhaupt, gestreift und schnell abgehandelt worden wäre, in Baldur’s Gate aber mit Liebe, Hingabe und Können ausgearbeitet wurde. Vom großen Ganzen bis runter in die kleinen Abenteuer, ich wünschte, ich hätte jemals so eine D&D-Kampagne in meinem Leben gespielt.
Kommen wir zu den Basics: dem Kampf. Hier steckt deutlich mehr Divinity als altes Baldur’s Gate drin und zuerst wusste ich nicht so genau, ob ich das gut finde. Schlicht aus dem Traditionsgedanken, dass man beim Namen Baldur’s Gate das definierende Feature dieser Games zu ihrer Zeit mitnehmen sollte, sprich: das Stop-and-Go-Runden-aber-doch-irgendwie-Echtzeit-Design. Aber nach ein paar Stunden war ich dann doch glücklich, dass man sich für Rundenkämpfe entschied, Initiative gewürfelt wird und alles ist, wie es am Würfeltisch immer war.
Überhaupt, das Würfeln. Es ist ein simpler Trick, die Würfel zu zeigen, aber ein sehr effektiver. Sicher, jedes andere RPG arbeitet exakt genauso. Mit simplen Zahlen und Wahrscheinlichkeiten. Aber wenn man einen Wurf hier verpatzt, sieht man es direkt und nicht nur als frustrierendes Ergebnis. Bei letzterem hat man immer ein wenig unbewusst den Gedanken, dass der Computer einen hintergeht, aber hier ist es halt wie früher. Hm, eine 4. Was kann man machen, hätte besser laufen können.
Die Würfel bedeuten natürlich auch immer ein mögliches Scheitern. Es geht nicht anders und zusammen mit Disco Elysium ist Baldur‘s Gate 3 das Spiel, in dem ihr dem Scheitern immer eine Chance geben solltet. Egal, wie charmant euer Held ist, er kann nicht jeden bezirzen. Egal, wie stark, nicht jedes Hindernis lässt sich aus dem Weg schieben. In der Hinsicht glänzt Baldur's Gate 3, denn das Scheitern ist so fest eingeplant, dass jede relevante Situation zig Herangehensweisen erlaubt. Von Haudrauf über Quatschen bis Stealth und vielen Variationen dazwischen. Es hängt davon ab, was ihr spielt, was euer Stil ist, und es wird häufig genug eine Möglichkeit geben, ein Problem im Einklang damit zu lösen. Nicht immer, aber auch das gehört zum Leben. Das Scheitern und Es-anders-Probieren prägen den Charakter des Helden und vermeiden den Frust des Spielers.
Auch der Kampf folgt dieser Philosophie. Das beginnt oft genug schon davor. Ihr könnt den Dieb außer Sicht positionieren, bevor ihr überhaupt in die Verhandlungen geht. Nur für den Fall, dass sie nicht so gut laufen. Dort lauert er und hat das explosive Fass im Visier. Ihr könnt die aus Divinity bekannte, noch einmal ausgebaute Physik-Engine für Fallen und Feuer nutzen. Letzteres breitet sich gern aus und wenn ihr da richtig plant, können Kämpfe komplett anders verlaufen. Es ist eines der besten taktischen RPG-Systeme, das es aktuell gibt, und ein sehr stolzer Nachfahre der alten SSI-Gold-Box-Tage. Sicher, es ist nicht Baldur’s Gate, wie es mal war, aber für dieses komplexe und doch zugängliche, variationsreiche und dennoch übersichtliche System tausche ich das gern jeden Tag ein.
Technisch hat sich auch was getan über die Jahre. Als es Stadia noch gab, sah Baldur's Gate 3 rauer an den Kanten aus. Mittlerweile wurde viel poliert, viel an den Charaktermodellen gearbeitet und der detaillierte Look verströmt D&D-Flair pur. Die Landschaften und Orte sind kreativ und abwechslungsreich gestaltet und die Reise fühlt sich fast so episch an, wie es damals bei Baldur’s Gate 2 der Fall war - das ist kein kleines Lob. Nehmt die atemberaubend gute Synchronisation für jede Rolle dazu, plus einen sehr klassischen Fantasy-Soundtrack, und ihr habt die perfekte Pen-and-Paper-Immersion auf dem Bildschirm.
Aber auch drei Jahre Early-Access schützen nicht vor den letzten Bugs. Mal bleibt man hängen, wo man nicht hängen sollte, mal passt eine Zeile nicht, eine Handvoll Dialoge wurden nicht übersetzt, und mal muss man um eine Quest herumarbeiten, die man eigentlich so lösen sollte. Da aber schon einiges davon in den Tagen, seitdem der Review-Code kam, repariert wurde und weitere Patches in sicher kurzer Taktung folgen, darf man Larian zugestehen, dass das mit einem der umfangreichsten Rollenspiele aller Zeiten eben nur fast absolut rund läuft. Sie haben eine lange und weitestgehend erfolgreiche Tradition, dieses "Fast" aus dem Satz zu streichen.
Ach ja: Ich habe es noch nicht gemacht - jenseits eines kleinen Ausprobierens jedenfalls - aber ihr könnt auch die volle D&D-Experience haben. Holt euch noch zwei Freunde in die Runde und ihr spielt dann endgültig eine altmodische Pen-and-Paper-Kampagne. Nur digital eben. Ich hoffe, ihr und euer Freundeskreis habt alle für eine Weile nichts vor.
Als Baldur’s Gate 3 für Google Stadia angekündigt wurde, hatte ich sehr gemischte Gefühle. Kann man der teilweise verklärten, teilweise berechtigten Legende der alten Titel als Generationen definierende Ausnahmespiele überhaupt gerecht werden? Nun, Larian hat vor aller Augen in einem sehr offenen und letztlich von allen mutigen Early-Access-Spielern bezahlten Prozess bewiesen, dass sie das nicht auf die leichte Schulter nahmen, und schraubten ein atemberaubendes Epos von einem Rollenspiel zusammen, das in vielerlei Hinsicht seinesgleichen sucht. Es verzahnt eine große Welt und Quests mit einem komplexen Netzwerk aus dermaßen geschickt ineinandergreifenden Feinheiten, dass man sich an eine so monströse, wie feinteilige Dampfmaschine erinnert fühlt. Ein Koloss, gesteuert von den winzigen Laufwerken Schweizer Automatikuhren. Es ist gewaltig, sicher, aber die perfektionistische Liebe bis runter in die Details ist auf jedem Screen direkt greifbar.
Das geht so weit, dass ich hier in seltsame philosophische Diskurse über das vielleicht Unmögliche abdriftete, das ich gern gehabt hätte, weil praktisch alles normal Mögliche eines Computer-Rollenspiels in Baldur’s Gate 3 steckt. Die unzähligen Arten, wie ihr an Quests und Kämpfe herangehen könnt, die Optionen verschiedener Spielerklassen, es erinnert alles auf die beste Weise an einen guten Abend am Spieltisch mit Freunden, Charakterbögen und Würfeln. Ihr folgt keinem geradlinigen Weg durch ein Computerspiel, sondern fangt an, in eine Rolle hineinzufinden und euch zu überlegen, wie ihr spielen wollt. Dass meist eine sehr gute Chance besteht, es in Baldur’s Gate 3 überhaupt so versuchen zu dürfen, das ist vielleicht seine größte Leistung. Wie gesagt, ich war skeptisch, aber als jemand, dessen erstes erlebtes D&D-Computerspiel Treasure of Tarmin hieß, kann ich mit Zuversicht sagen: Baldur’s Gate 3 ist nicht nur eines der besten RPGs aktuell, es ist das beste D&D-Spiel, das es je gab. Zumindest bis Baldur’s Gate 4 dann 2035 erscheint.
Falls ihr schon dabei seid: Baldur's Gate 3: Tipps, Tricks und Lösungen im Anfänger-Guide