BioShock Infinite - Test
Es ist kein zweites BioShock. Es ist weit mehr als das.
Vorweg: Dieser Artikel ist frei von Spoilern. Und weil das ein dehnbarer Begriff ist, hier vielleicht trotzdem eine Frage, die man sich stellen sollte, bevor man anfängt zu lesen: Empfindet ihr in Kritiken die Erwähnung einer "wendungsreichen Geschichte" oder "überraschenden Auflösung" üblicherweise als Spoiler? Wenn ja, was macht ihr dann hier? Bei dieser Sorte Spiel fließt die Qualität und Wirkung der Geschichte maßgeblich in die Wertung ein - was nicht heißen soll, dass wir euch verraten würden, ob am Ende geheiratet würde, wer die ganze Zeit doch nur ein Geist war und ob Luke Darth Vaders Sohnemann ist. Alles klar? Dann viel Spaß beim Lesen!
Spiele und wie sie entwickelt und beworben werden, waren zuletzt nach Aliens: Colonial Marines wieder schwer im Gerede. Kurzer Auffrischer: Gearbox' exzellente Demo vom letzten Jahr, die einen "vertikalen Schnitt" durch das Erlebnis repräsentieren sollte, war zu geschätzten maximal fünf Prozent tatsächlich Teil des überaus mäßigen Titels, der letzten Endes den Weg in die Läden fand. Und zu den fünf Prozent zähle ich jetzt einmal die Tatsache, dass man als Marine gegen Aliens kämpfte. Was wir bekamen, war die Light-Version dessen, was wir berechtigter Weise erwarteten. Setzt euch bitte hin, bevor ich euch sage, dass sich in BioShock Infinite erstaunlicherweise nun einige Parallelen auftun.
Gestern, heute, morgen.
Um das zu verstehen, genügt ein Blick auf die viertelstündige E3-2011-Demo. In der zeigt Irrational Games deutlich mehr und zugleich fortschrittlichere Interaktion Elizabeths mit einer entschieden komplexeren Umgebung. In Infinite, so wie ihr und der Rest der Welt es spielen werdet, setzt sie keinen Lincoln-Pappmaschee-Kopf auf oder hält Plastik für Gold. Ohnehin fasst sie nur in Zwischensequenzen Gegenstände in der Umgebung an. 2011 sorgte zudem eine ausgefuchstere neutrale KI für Situationen, in denen man die Figuren incognito in Feindesland wähnte und hoffte, dass sie bloß nicht auffallen. Das ist im tatsächlichen Spiel nie wirklich Thema. Die KI nimmt nur in wenigen Skriptsequenzen Notiz von Liz und in den fast grundsätzlich ausbrechenden Kämpfen könnte eure Begleitung genau so gut ein Geist sein, so unantastbar ist die mysteriöse Schöne. Wenn man mal ehrlich ist, ist der komplette Level von vor nicht ganz zwei Jahren nirgends zu sehen.
An irgendeiner Stelle mussten die Entwickler offensichtlich ihre Ambitionen etwas an die Leine nehmen. Und wisst ihr was? Das ist in diesem Fall komplett egal, denn so ist Spielentwicklung nun mal. Sie ist ein fließender Prozess. Features werden implementiert, getestet, gestrichen. Handlungsstränge werden entwickelt, verfolgt und dann fallen gelassen, weil sie nirgendwo hinführten. Alles sicher nur unter Protest vieler Mitarbeiter und Designer, die monate-, gar jahrelang Herzblut und Schweiß in diese Elemente gesteckt haben. Wenn aber am Ende jemand sitzt, der weiß, was für das Spiel am Ende am besten ist - wie in diesem Fall mit Ken Levine -, kommt trotzdem ein Titel dabei heraus, der im kommenden Dezember vermutlich ähnlich glühende Erwähnung in Jahresbestenlisten finden wird, wie Portal 2 vor zwei Jahren - oder eben das erste BioShock vor sechs. Es ist eine der ganz großen Geschichten dieses Mediums.
Ja, es ist eines von dieser Sorte, eines über das man Liebesbriefe schreibt, das Memes auslöst und nach deren Charaktere sich Generationen von Forenusern benennen werden. Den drei genannten Titeln ist aber auch gemein, dass sie eher von der Welt und der Handlung leben, die sie vor dem Spieler ausrollen. Spielerisch haben sie ihren Vorgängern im Geiste nichts wirklich Bahnbrechendes hinzuzufügen. Als Ken Levine bei unserem Gespräch im letzten Dezember sagte, der Gameplay-Raum von Infinite habe sich im Vergleich zum Vorgänger weniger verändert als der visuelle, war das noch untertrieben. Wieder läuft man durch diese eindrucksvolle und anfangs zur Abwechslung sogar fast friedfertige Welt mit großen Augen. Superkräfte links, Schießeisen rechts klappert man auf dem Weg durch die lineare, aber immer weitläufig wirkende Stadt von der Parkbank bis zum Picknickkorb jeden interaktiven Gegenstand nach Verbrauchsgütern ab und lauscht Audiologs, die die Geschichte um wichtige Details ergänzen.
Willkommen bei den anonymen Zwangsneurotikern!
Ich bin nicht unbedingt ein Fan dieser Sorte Erkundungselemente, bei der überall Dinge fast arglos verstreut sind, man wegen eventueller Upgrades aber trotzdem beinahe zwangsneurotisch unter jeden Stein guckt. Ein bisschen nimmt mir das das Auge für die Welt, wenn mein anerzogener Tunnelblick in einigen Szenen nur von einer lockenden Mülltonne zur nächsten gesaugt wird. Ganz zu schweigen, dass man sich ganz schön verschaukelt vorkommt, wenn man mal wieder Kartoffeln aus einer verstopften Toilette gegessen hat. Das Déjà-vu hat sich wahrlich gewaschen, wenn man durch Columbia streift, auch wenn es in vielerlei Hinsicht eindeutig absichtlich erzeugt wird. Einige werden BioShock Infinite dennoch ein bisschen verübeln, dass es ein bisschen zu sehr BioShock bleibt.
Und doch ist der Charakter gerade in den Kämpfen, die einen Großteil des Spiels ausmachen, ein anderer. Größer angelegte, schnellere Gefechte mit massig Positionswechseln - den neuen, "Sky-Lines" genannten, fliegenden Achterbahnen sei dank - und ein Kräftegebrauch, bei dem man geistesschnell zwischen defensiver Gruppenkontrolle und Abteilung Attacke umschalten muss, sind an vielen Stellen wirklich aufregend umgesetzt. Die beinahe archaisch wirkenden Waffen, bedenkt: Infinite spielt 1912, fühlen sich satt und kräftig an, obwohl einige ein wenig redundant wirken. Ein knackender Kopfschuss vermittelt genau die Sorte schmerzhafter Treffermeldung, die man in arcadigen Shootouts wie diesen braucht, um sich direkt dem nächsten Gegner zuwenden zu können.
Man merkt fast gar nicht, wie intuitiv man das drohende Chaos der Übermacht mit der Zeit kontrolliert, die Mobs zu lesen beginnt und wie ein Derwisch die Reihen der Gegner ausdünnt, nur um Augenblicke später wieder ganz woanders zu sein. Es ist ein steter Kampf um die Initiative und wer die Kräfte nicht oder nicht richtig nutzt, muss ganz schnell mit ansehen, wie auf einmal die Feinde am Drücker sind - und wird prompt überrollt. Nirgends wird einem das gnadenloser quittiert, als in dem mit Ressourcen knausernden 1999-Modus. Für den hohen Grad an Energie muss man das Spiel und seine Fights respektieren, auch wenn sie nicht jedermanns Sache sein dürften, und Titel wie Dishonored oder Deus Ex: Human Revolution neben der krachenden Action auch die leisen Töne beherrschen. Infinite ist daran nicht interessiert, und wenn ihr das auch nicht seid, bekommt ihr hier einen ehrlichen, ausgesprochen schönen und mechanisch befriedigenden Shooter. Nicht zuletzt einen, der der alternden Unreal-Engine gerade in der getesteten PC-Version einige fantastisch gestaltete Panoramen beschert, die so wohl nur in einer Stadt über den Wolken möglich sind.
God only knows what I'll be without you …
Zentrum des Interesses im Vorfeld war eindeutig Elizabeth. Berechtigterweise, wie man nach dem Genuss des Spiels gestehen muss. Die zugrunde liegende Technik liefert zwar mitnichten vergleichbare Gesichts-Darbietungen ab wie die proprietären Lösungen von Quantic Dream oder Naughty Dog (und gerade aufseiten der generischen NPCs hätten es ruhig einige Visagen mehr sein dürfen). Das stilisierte und ausdrucksstarke Antlitz eurer permanenten Begleiterin sorgt aber dennoch für viele ganz persönliche und Herz erwärmende Momente, nicht zuletzt getragen durch einige situative Interaktionen mit der Welt in den ruhigeren Augenblicken des Spiels. Und damit meine ich nicht die Gelegenheiten, zu denen sie sich auf einer Bank ausruht oder an der Wand lehnend darauf wartet, wie es weitergeht.
"Es sind die fantastischen stimmlichen Darstellungen, die euch durch eine der verblüffendsten Geschichten tragen, die die Videogames je hervorgebracht haben."
Ihr spielerischer Beitrag zum Erlebnis ist unterdessen überschaubar. Nie steht sie im Weg und wirklich retten müsst ihr sie ebenfalls nicht, da sich die Gegner ausschließlich für euch interessieren - immerhin wollen die Verantwortlichen von Columbia Liz wiederhaben. Man merkt, das Spiel sollte nicht zu einer gigantischen Eskort-Mission werden. Hilfreich ist das aufgeweckte Mädchen trotzdem: Wenn sie euch im letzten Moment, bevor euch ein riesiger Metallgorilla gerade zu zerschmettern droht, einen rettenden Munitionsriegel zuwirft, erzeugt das tatsächlich eine beachtliche Bindung.
Die Risse, die Elizabeth auf dem Schlachtfeld öffnen kann, um die Schießereien zu euren Gunsten zu drehen, hätten angesichts des übernatürlichen Stoffes ruhig etwas "exotischer" sein dürfen. Automatisches Geschütz, Deckung und Ressourcen werden der ambitionierten Handlung nicht vollauf gerecht wird. Dennoch muss man sagen, dass die Einfachheit der Lesbarkeit des Schlachtfeldes in die Karten spielt und sich selbst mit diesen wenigen Elementen noch schön dynamische Gefechte entwickeln. Zudem werden die Risse im im Rahmen der Handlung zunehmend auf interessante Weise eingesetzt. Und die ist nun mal das Filetstück von BioShock Infinite.
Die Handlung - ein veritables Minenfeld
Es sind die fantastischen stimmlichen Darstellungen von Courtnee Draper als Elizabeth und Troy Baker als Booker DeWitt, die euch durch eine der ausgeklügeltsten und verblüffendsten Geschichten tragen, die die Videogames je hervorgebracht haben. Diejenigen, die immer noch meinen, dass Erzählen nicht zu den besonderen Talenten von Spielen gehört, finden hier einen Plot, der cleverer ist als die meisten vergleichbaren Filme. Selten ergänzten sich Erzählkunst und Gameplay derart ausgereift, profitierten Spiel und Geschichte so unermesslich voneinander. Das Spiel wirft euch von Anfang an nach und nach seine Karten auf den Tisch - in Form von Audio-Logs, Dialogen oder durch das einmal mehr fantastische Art-Design der Stadt - und trotzdem könnt ihr die Auflösung nicht ergreifen, bis einer der Charaktere die letzten Zeilen des Drehbuchs äußert. Und die laufen einem kalt den Rücken runter.
Die Handlung Infinites ist dem des ersten BioShock in vielerlei Hinsicht weit überlegen. So eindrucksvoll das damals auch war, begnügte es sich doch damit, euch an zwei Stellen im Spiel mit einem beherzten Ruck den Teppich unter den Füßen wegzuziehen. Infinite dagegen beginnt schon mit dem Startschuss, seine Hinweise einzustreuen, zieht erst langsam und dann immer schneller an diesem sprichwörtlichen Teppich. Man fängt an zu strampeln, glaubt eine Zeit lang, sich zu fangen und Schritt halten zu können. Und darin liegt das eigentliche Genie der Geschichte: Sie ist einem trotzdem immer einen Schritt voraus. So sehr man auch auf Zack ist, am Ende wirft es einen doch aufs Hinterteil.
Und dann ist es vorbei. Ihr lasst den Abspann durchlaufen, aus Angst, etwas zu verpassen, aber eigentlich auch, weil ihr zu ausgelaugt seid, um nach der Aus-Taste zu greifen. In diesen Momenten ist man noch nicht fähig, zu begreifen, was da gerade passiert ist und wie klug die Geschichte eigentlich konstruiert war. Abends dann, mit der Zahnbürste im Mund, beginnen eure Gedanken und Erinnerungen an Columbia, Booker und Elizabeth Achterbahn in eurem Oberstübchen zu fahren. Und ihr ahnt, dass das hier eine lange Nacht wird. Wie schon for sechs Jahren, als ein gewisser Twist um drei kurze Worte - "would you kindly?" - euch jeden Schlaf raubte.
Es ist ein Erlebnis, wie man sie nicht alle Tage bekommt: Ein eingängiges, hochwertig produziertes Spektakel für die Massen mit einer Geschichte aus dem Arthouse-Kino. Obwohl die spielerische Seite nicht die gleichen Ambitionen in das Experiment mit einbringt, ist das ein Spagat, den man erst mal hinbekommen muss - und selbst wenn man ihn beherrscht, gehört noch einiges an gesunder Unvernunft dazu, ihn auch zu wagen. Gut, dass Levines Team die Unvernunft im Namen trägt.