Call of Juarez: Gunslinger - Test
Bleib im Korridor, Fremder, hechte in Deckung und hör dir meine Geschichte an. Es lohnt sich.
Call of Juarez: Gunslinger ist einer dieser "Eigentlich-Titel", wie ich sie nenne. Denn eigentlich müsste man den Western-Shooter furchtbar abwatschen. Rein gameplaytechnisch ist das Spiel nämlich ein steinalter Gaul. Das Gerippe mag noch rüstig genug sein, einen zuverlässig von A nach B zu bringen, doch beeindruckende Kunststückchen abseits der Konventionalität sollte man keine erwarten. Ersetzt das "Juarez" im Titel durch "Duty" und ihr wisst, wohin meine Metapher trabt.
Gunslinger spielt sich wie ein einziger linearer Korridor, durch den ihr hechtet, duckt und sprintet, konstant im Dauerfeuer von allen Seiten, häufig hinter Deckung kauernd, bis das Leben zurückkehrt in die alten Knochen. Der Held Silas Greaves ist kein Mann großer Sprünge, Klettereinlagen fallen also aus. Dafür werdet ihr alle Nase lang durch unsichtbare Wände und die Level-Architektur eingekastelt. Selten dürft ihr ein paar Meter nach links oder rechts streunen, um Munition oder Geheimnisse ("Nuggets of Truth") einzusammeln, bevor es wieder zurück auf Kurs geht, weiterballern, nachladen, und noch mehr ballern.
Theoretisch mögliche Schleichpassagen sind nicht der Rede wert. Hat euch ein Feind erspäht oder wurde der Spawn-Trigger skriptschuldig ausgelöst, mutieren die Bösewichte zu einer Horde Meisterschützen, denen selbst Annie Oakley nichts mehr beibringen könnte. Die Typen halten euch selbst im leichtesten Schwierigkeitsgrad aus 500 Metern Entfernung und durch dichte Vegetation im Visier ihrer Colts, sind aber ansonsten erstaunlich suizidgefährdet und verlassen ihre Deckung ohne Not, um euch vor die Flinte zu sprinten. Dabei fällt außerdem die überschaubare Anzahl Gegnermodelle unangenehm auf - die Typen sehen einander ähnlicher als die Dalton-Brüder aus Lucky Luke.
Wildwest-Schönheit in Bullet-Time
In Sachen stimmigem Western-Ambiente kann man Techland ansonsten keinen Vorwurf machen. Optisch erreicht die Chrome Engine 5 zwar keine Top-Platzierung, doch die schmutzstarrenden Goldsucher-Städte, verlassenen Rinderfarmen, malerischen Bergpanoramen, fackelbeleuchteten Minenschächte, stinkenden Sümpfe und idyllischen Wälder wissen durch liebevolle und stimmige Details zu gefallen. Lichtstrahlen glitzern durch Baumkronen, Mückenschwärme sirren über Brackwasser, Steppenläufer-Sträuche rollen langsam durch die staubschwangere Luft, Geier werfen ihre Schatten über malerische Täler, Querschläger lassen euch Holzsplitter und Steinmehl um die Ohren spritzen. Spätestens, wenn einen Wildwest-Highlights wie Schusswechsel auf einem fahrenden Zug, Gerölllawinen oder ein Indianer-Überfall auf Trab halten, fallen die gelegentlichen Ecken und Kanten der Engine kaum auf.
Als Neuerung der Reihe stehen euch drei Skillbäume zur Verfügung: Revolverheld, Ranger oder Trapper.
Bullettime darf in Gunslinger natürlich nicht fehlen. Die Bösewichte werden dabei rot hervorgehoben und warten auf ihren Blattschuss. Droht euch ein tödlicher Treffer, wird die Zeit dank "Todesahnung" nochmals verlangsamt und ihr müsst dem Geschoss nach rechts oder links ausweichen. Geratet ihr in einen Hinterhalt, schaltet ihr die Angreifer per Quick-Time-Event aus oder beißt sofort ins Gras.
Als Neuerung der Reihe stehen euch drei Skillbäume zur Verfügung: Revolverheld, Ranger oder Trapper. Hier erhaltet ihr mit jedem Stufenaufstieg passive Boni, schaltet neue Schießprügel frei oder modifiziert eure Fähigkeiten. Geschossen wird in Gunslinger mit einem (oder als Revolverheld mit zwei) Colts, Gewehren und diversen Schrotflinten. Wer es explosiv mag, wirft Dynamitstangen, wer es persönlicher will, haut den Banditen im Nahkampf eins über den Hut. Für Arcade-Freunde und Django-Fans wurden in manchen Gebieten sogar Gatling-Guns installiert.
Da Gunslinger im Wilden Westen spielt, dürfen die obligatorischen Duelle am Ende der Kapitel natürlich nicht fehlen. Die Mechanik hierbei ist ziemlich gewitzt: Einerseits müsst ihr eure Hand mit den Richtungstasten in der Nähe eures Schießeisens halten, andererseits euren Gegenüber fokussieren. Zieht ihr zu früh, werdet ihr als Feigling gebrandmarkt. Zieht ihr zu spät oder trefft den Gegner nicht mit dem störrischen Fadenkreuz, seid ihr tot. Der Nervenkitzel während solcher Sequenzen ist beachtlich. Wer davon nicht genug bekommen kann, wird sich daher über den separaten Duell-Modus im Hauptmenü freuen, in dem man einer Western-Legende nach der anderen gegenübertritt und dafür Punkte fürs weltweite Ranking verdient.
Neben diesem Gimmick gibt es noch einen Arcade-Modus, in dem man ausgesuchte Level-Passagen auf Zeit und Treffsicherheit durchspielen kann, sowie ein "Neues Spiel Plus", das einem einen weiteren Story-Modus-Durchgang mit allen bisher gesammelten Fähigkeiten erlaubt. Wer das Spiel auf dem Schwierigkeitsgrad "Normal" durchhat (locker unter acht Stunden zu schaffen), kann sich nochmals auf "Schwer" oder "Western" beweisen. In letzterem werden HUD und andere Hilfen deaktiviert. Einen Mehrspielermodus oder Koop sucht man jedoch vergebens.
In letzter Sekunde vor dem Galgen gerettet
Bis jetzt wäre Call of Juarez: Gunslinger bloß ein mäßiger Korridor-und-Deckungs-Shooter mit Wildwest-Anstrich für einsame Wölfe. Hätte ich zur Kenntnis genommen, doch mangels Neuerungen und Finesse als Unterdurchschnitt ausgesiebt. Eigentlich. Wäre da nicht die brillante Inszenierung.
In Gunslinger erzählt der alte Kopfgeldjäger Silas den Gästen eines Saloons seine Lebensgeschichte. Jedes Kapitel der Story ist eine Episode aus 30 Jahren bunter Cowboy-Folklore, vollgestopft mit Anspielungen und Wildwest-Prominenz. Quasi ein Forrest Gump für Western-Fans.
Dabei fasziniert besonders die Verflechtung zwischen Silas' Erzählung und der Spielwelt. Während ihr euch durch die Levels kämpft, kommentiert der alte Haudegen kontinuierlich das Geschehen und spinnt ordentlich Seemanns-, Pardon, Cowboygarn. Das Konzept erinnert an das Action-Rollenspiel Bastion (Supergiant Games, 2011). Die englische Sprachausgabe wird dabei deutsch untertitelt - alles andere hätte sich für mich sowieso wie ein Sakrileg angefühlt, denn der schmelzig-texanische Western-Slang von Silas und seinen Zuhörern ließe sich kaum übersetzen.
Doch nicht nur eure Handlungen beeinflussen die Erzählung. Umgekehrt formen Silas und seine Zuhörer eure Umgebung, ergänzen Details, unterbrechen oder verlangsamen das Geschehen und spulen sogar zurück, wenn etwas nicht passt. Nichts ist schlimmer, als wenn Silas protzt: "Auf einmal war ich von Hunderten Indianern umzingelt" und ihr dann sehen müsst, wie ihr mit dieser Übermacht klarkommt, die plötzlich aus dem Nichts erscheint.
Während ihr euch durch die Levels kämpft, kommentiert Silas kontinuierlich das Geschehen und spinnt ordentlich Seemanns-, Pardon, Cowboygarn
Genauso häufig musste ich schmunzeln, wenn sich der alte Kopfgeldjäger nach vehementen Zwischenrufen korrigiert und aus den Indianern plötzlich Banditen werden, das Wetter schlagartig von Sonnenschein zu Regen wechselt oder ich in einer Sackgasse lande, bis ein eingeschobenes "plötzlich sah ich einen Durchgang" mir einen Weg bahnt.
Und das ist nur die Spitze des Kreativitäts-Eisbergs, den Techland hier erklimmt. Einmal sucht Silas die Toilette auf und ihr dreht euch in der Zwischenzeit in einer Tür-Raum-Tür-derselbe-Raum-Schleife, während die allein gelassenen Zuhörer über den alten Mann lästern. Später bekommt ihr mehrere Varianten desselben Levels vorgesetzt - von den Anwesenden unterschiedlich interpretiert, bis am Ende Silas die "wahre" Geschichte zum Besten gibt.
Insofern könnte man die zuvor genannten Gameplay-Schwächen auch wohlwollend im Sinne der Narration interpretieren. Silas ist alt, angetrunken und die Ereignisse liegen teilweise 30 Jahre in der Vergangenheit. Wenn die Gegner da alle ungefähr gleich aussehen - von den Bossen abgesehen - oder wenn sie in aberwitzigen Horden auf euch losstürmen, dann passt das zur lückenhaften Wiedergabe des Erzählers. Wenn die Action übertrieben wirkt, dann, weil Silas gerne übertreibt, wie es Veteranen bei ihren Heldenstories eben tun. Teilweise fühlte ich mich da an die überzeichneten Gatling-Gun-Schießereien aus Spec Ops: The Line erinnert. Natürlich total over-the-top, aber zum Zwecke der Inszenierung gerechtfertigt.
Spielerisch wäre Call of Juarez: Gunslinger kaum sein Geld wert, doch dank der gelungenen Inszenierung von Silas' Memoiren zieht der Titel in letzter Sekunde den Hals aus der Schlinge. So wird aus dem arcardelastigen Korridor-Deckungs-Shooter mit ordentlicher Grafik und gelungener Duell-Mechanik ein faszinierend erzähltes Western-Abenteuer, für das ein bekennender John-Ford- und Sergio-Leone -Fan wie ich ohne zu zögern die läppischen 15 fälligen Euro hinblättert. An Gunslinger zeigt sich wieder einmal, welche innovativen Möglichkeiten Computerspiele bieten, um eine Geschichte spannend zu erzählen. Allein deshalb dürfen auch Western-Verächter gern einen zweiten Blick riskieren.