Carrion Test: Das Auge isst mit - und muss sich dann übergeben
Es flutscht!
Carrion Test - Carrion hat es mir nicht leichtgemacht. Die erste Stunde dominiert der Eindruck eines wahnsinnig coolen neuen Monsters. Eines, das sich mit seinem glitschig-roten Wald an flirrenden Tentakeln mit bewundernswerter, aber abstoßender Leichtigkeit durch die Korridore und Hallen einer Sci-Fi-Umgebung schlürft. Wie eine Portion brutaler Spaghetti, nur, dass hier die Nudeln den Mund wegsaugen und nicht andersherum. Ein echtes Kunststück, diese Horror-Kreation, wegen ihres Looks und weil dieser Fortbewegungsmodus einfach irre Spaß macht.
Beinahe, aber wirklich nur beinahe schwerelos zupft man sich hier durch Gänge und um Hindernisse herum. Erst als Carrion stattlichere Ausmaße annimmt, wird die Navigation etwas schwergängiger, nicht weil man wahnsinnig viel träger oder langsamer würde, sondern weil man diesen Umgebungen zu entwachsen droht, sich ab und an durch Passagen quetschen muss, und bisweilen nicht erkennt, wo bei dieser sich allmählich in die Länge ziehenden Kreatur vorn und hinten ist. Das ist nicht einmal als Kritikpunkt gemeint. Es liegt nur in der Natur dieses durch und durch widernatürlichen Biests.
Es stört nicht einmal, dass es vor allem in den ersten beiden Stunden bisweilen wahnsinnig chaotisch wird. Sobald man über schreiende Menschlein-Mahlzeiten hereinbricht wie eine Lawine aus Mett, die zur Hälfte aus hungrigen Haifischmäulern besteht, ists ein wildes Umherwirbeln ungreifbarer Gliedmaßen, bei dem man Lampen zerschlägt, an Kabeln und Ketten rasselt, die von der Decke hängen und Türen, Gitter und andere Einrichtungsgegenstände hinter sich her reißt, und in diesem Tornado scharfkantiger Gegenstände schon das eine oder andere Opfer als rote Marmelade an Wänden und Decken zerreibt. So manchen zerreißt es sofort, oft an verschiedenen Stellen, ihre Einzelteile verleibt man sich im Vorbeiglitschen ein, auf dass sie die Biomasse des intelligenten Klumpens Aas - was "Carrion" auf Deutsch bedeutet.
Carrion Test - Wo bitte ist hier vorne!?
Aber später lernt man mehr und mehr Kontrolle und Disziplin: Irgendwann wurde ich so gut im Greifen und umherschleudern von Gegenständen, dass ich Schränke, Türen und auch Menschen gezielt als Wurfgeschoss einsetzte, beim Angriff und schnellem Rückzug meines erstaunlich verletztlichen Leibs aus toter Biomasse clever die Umgebung einsetzte und allgemein nur noch selten in dieselbe Panik verfiel, in die ich meine Snacks versetzte.
Die Progression half mir dabei, auch wenn sie deutlich weniger ... sagen wir mal "einfallsreich" ist als das Monster selbst. Wir haben es mit einem groben und nicht allzu ausufernden Metroidvania-Ansatz zu tun. Ab und zu erlangt man eine neue Fähigkeit - Netz verschießen, um Schalter aus der Ferne umzulegen, Rammattacke um Barrikaden zu durchbrechen, Unsichtbarkeit um an Lichtschranken und Gegnern vorbeizukommen, Gedankenkontrolle, um unzugängliche Bereiche zu erreichen. Solche Dinge -, die nicht nur das Vorankommen in der Welt strukturieren, sondern eurer unbändig gefräßigen Gewalt auch etwas mehr Übersicht und Richtung verleihen.
Gleichzeitig muss ich sagen, dass die Spielerführung längst nicht immer gelungen ist denn - und das kann man nicht deutlich genug sagen, deshalb fette ich es besser: Es gibt keine Karte! Als ich das Video aufzeichnen wollte, das ihr in diesem Artikel seht, suchte ich im ersten Take fast eine geschlagene halbe Stunde nach dem Weg nach vorne, so verwirrend war das grau-in-graue Gebiet. Durch viele Screens huscht man nur schnell durch, registriert so halbwegs im Vorbeifliegen am Bildschirmrand einen Raum oder eine Tür, die man von hier aus nicht erreicht, oder lässt eine oder mehrere Abzweigungen links liegen. Alles Sachen, die man oft nur so kurz sieht, dass man sie entweder gleich vergisst, oder kein Gefühl dafür erhält, wie man sie wiederfinden soll. Ich habe mich im ersten Drittel oft nach Anhaltspunkten gesehnt, wo es nun weitergeht. Carrion mochte sie mir nicht geben.
Carrion Test - Rätsel, Schmätsel
Das wurde allerdings mit der Zeit besser, denn die Umgebungen und auch die einzelnen Bildschirme wurden abwechslungsreicher und leichter navigierbar. Man hat fast das Gefühl, am Verlauf der Level die Reifung des Spiels in der Entwicklung nachverfolgen zu können. Als hätte ein Rumpf-Team die ersten Abschnitte designt und dann nach und nach Personal nachgerüstet, die beim Rest geholfen haben. Denn Carrion wird immer besser. Ich gebe zu, dass es immer wieder kurz passierte, dass ich die Orientierung verlor und obwohl ich einige der Rätsel sehr mag, gibt es immer wieder welche, die nicht gerade gut designt sind oder missverständliche Signale setzen.
Im Video spreche ich über ein Beispiel, das mit den Stromkästen zu tun hat. Schon früh im Spiel kann man an einigen davon einen Kurzschluss verursachen, fast immer in der Nähe einer Lichtschranke, die irgendwo eine Tür verschließt, wenn man sie passiert. Da die Stromkästen einen sichtbaren Timer haben, an deren Ende sie wieder hochfahren, war mein Gedanke natürlich: "Okay, in der Zeit, in der das Ding wieder lädt, kann ich irgendwie durch die Lichtschranke hindurch." Was ich eine Weile erfolglos und zunehmend frustriert probierte. Die Lösung lag darin, dass ich eine gute Stunde später eine Fähigkeit bekam, die mich über den wahren Sinn der Stromkästen aufklärte: Sie dienen als Aufladepunkt für die Unsichtbarkeit des Monsters. Warum die unbedingt einem kurzen Timer unterliegen muss, der wenig anderes tut, als einen Hinweis in die Falsche Richtung zu geben, bleibt das eigentliche Rätsel.
Carrion Test - Fazit
Das war dann allerdings auch der Punkt, an dem der Knoten platzte, es immer besser voranging und ich wieder deutlich mehr Spaß an Carrion hatte. So standardmäßig der Aufbau - minus Karte - auch sein mag, so sehr retteten die neuen Skills doch meine Zuneigung des Spiels wieder auf den Level vom Anfang, als ich geekelt, aber fasziniert und fast immer mit debilem Grinsen im Gesicht voll in meinem Monstersein aufging. Es sind Kinderkrankheiten, die Carrion plagen und dafür sorgen, dass es nicht jeden Spieler vollends abholen wird. Diejenigen, die sich trotzdem seiner Biomasse hingeben, werden in gut acht Stunden voll und ganz eins mit ihm. Sie werden Zähne, Klauen, zuckendes, sich windendes Fleisch, das einen blutigen Film hinterlässt, wohin es auch geht - und denken sich: "Das hat schon alles seine Richtigkeit!" Absolut spielenswert.
- Entwickler: Phobia Game Studio
- Publisher: Devolver
- Erhältlich für: PC, Switch, Xbox One (getestet auf PC)
- Release-Datum: erhältlich
- Sprache: Deutsch, Englisch und weitere
- Preis: ca. 20 Euro