Chants of Sennaar im Test: Seid ihr clever genug, um diesen großartigen Geheimtipp zu knacken?
Turmbau zu Babbel.
Ein riesiger Turm, errichtet vor scheinbar hunderten von Jahren, und ein Volk, das auf mehrere Stockwerke verteilt lebt – strikt voneinander getrennt und ohne die Sprache der jeweils Anderen zu verstehen. Falls euch das bekannt vorkommt, dann habt ihr sie schon mal gehört, die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Dann wisst ihr vielleicht auch, dass dieser Turm der Erzählung nach in Schinar gebaut worden sein soll. Und dann kennt ihr im Wesentlichen auch schon die Geschichte, die Chants of Sennaar erzählt.
Auch hier gibt es den Turm mit seinen Stockwerken, deren Bewohner eine jeweils eigene Sprache sprechen. Mehr noch: Wenn ihr als namenloser Abenteurer diesen Turm erreicht, versteht ihr ebenfalls keine einzige der dort gesprochenen Sprachen – wollt aber natürlich trotzdem die Spitze erreichen. Wie kann das gelingen, wenn man dafür Rätsel lösen muss, aber weder die Aufgabenstellung noch die entscheidenden Hinweise lesen kann?
Das herauszufinden ist eure Aufgabe. Und es zu tun, gehört zum Besten, womit ihr eure grauen Zellen in diesem Jahr befeuern könnt! Denn Chants of Sennaar gehört zu den cleversten Puzzlespielen, die je das Licht einer virtuellen Welt erblickt haben.
Ihr habt vielleicht schon gelesen, dass Chants of Sennaar gerne mit dem fabelhaften Return of the Obra Dinn verglichen wird. Und tatsächlich war das auch mein erster Gedanke, als ich lange davor schon von der Demo begeistert war, die auf Steam sowie in Nintendos eShop, Sonys Store und bei Microsoft verfügbar ist. Tut euch den Gefallen und werft einen Blick darauf, falls ihr Interesse am gewieften Knobeln habt.
Denn genau wie Return of the Obra Dinn besteht Chants of Sennaar nicht aus einer Perlenkette klar definierter Rätsel. Vielmehr seid ihr in relativ offenen Umgebungen unterwegs, wo ihr durch Beobachtung und richtiges Schlussfolgern die Bedeutung verschiedener Vorgänge erkennen und darauf kommen müsst, wo sich überhaupt Aufgaben befinden, die euch am Weiterkommen hindern – bevor es dann erst darum geht, die auch zu lösen. Mit anderen Worten: Ihr sollt selbst denken, quasi echte Detektivarbeit leisten.
Ihr versteht ja nicht einmal die Sprache der dort Lebenden. Wenn die ersten Sprechblasen und bald weitere auftauchen, stehen dort Symbole, die ihr noch nie zuvor gesehen habt. Die Übersetzung besteht zunächst aus Leereichen und Dreipunkten (ihr wisst schon…). Wie soll man damit bloß arbeiten?
Es ist einfacher, als es vielleicht klingt. Denn schnell findet man den Hebel zum Öffnen und Schließen eines Tors, dessen zwei Stellungen durch jeweils ein Symbol markiert sind. Da ihr zu jedem Symbol eine kurze Notiz anlegen dürft, wäre es also sinnvoll, das eine mit zum Beispiel „öffnen“, „offen“ oder „auf“ und das andere mit dem Gegenteil zu kennzeichnen – schon habt ihr zwei Begriffe, die in späteren Sprechblasen natürlich erneut auftauchen werden, sodass ihr dort bereits einen Hinweis darauf habt, was zumindest ein Teil der dazugehörigen Aussage ist. Und so arbeitet ihr euch Stück für Stück voran…
… auch wenn das freilich bald kniffliger wird als es am Eingang zum Turm der Fall ist. Immerhin tauchen irgendwann recht viele unbekannte Schriftzeichen in den Sätzen und in euren Notizen auf, da die Aussagen komplexer werden. Manche Notiz kann daher ungenau sein, vielleicht sogar falsch und damit potenziell irreführend. Mitunter weiß man ja nicht mal, um welche Wortart es sich bei einem Symbol handelt. Denn auch die (einfache) Grammatik muss man erst mal entschlüsseln.
Zwei Sachen mag ich an diesem detektivischen Knobeln dabei ganz besonders: Da ist zum einen die bequeme und sehr übersichtliche Art, mit der man schnell und jederzeit Notizen anlegen beziehungsweise aufrufen kann. Außerdem fertigt der Abenteurer zu allen Begriffen Zeichnungen an – eine knappe Hand voll pro Doppelseite in seinem Tagebuch – und ordnet man denen die richtigen Symbole zu, werden die Notizen durch das jeweils gesuchte Wort ersetzt.
Stark inspiriert von Return of the Obra Dinn irrt man dadurch nie vollständig im Dunkeln, sondern erhält schrittweise Bestätigungen dafür, dass man vorankommt. Mal ganz abgesehen davon, dass man auch einfach mal alle restlichen Begriffe in das letzte verbleibende Feld einer Seite ziehen kann, anstatt ewig daran festzuhängen. Keine besonders elegante Art eine Sprache kennenzulernen. Aber eine, die gelegentliche Frustsandbänke geschickt umschifft.
Man merkt, dass die Entwickler sehr gewissenhaft darum bemüht waren, die Detektivarbeit nicht nur so offen, sondern auch so übersichtlich wie möglich zu präsentieren, und tatsächlich gelingt ihnen diese Gratwanderung zwischen grübelndem Nichtverstehen und erfolgreicher Erkenntnis ausgesprochen gut. Es gibt vereinzelt Interaktionspunkte, die man übersehen oder vergessen kann, nachdem man einmal an ihnen vorbeigelaufen ist. Alles in allem fühlt sich das Knobeln selbst aber immer verdammt gut und nur selten frustrierend an. In der Beziehung übertrifft es sogar das über weite Strecken ausgesprochen unübersichtliche Return of the Obra Dinn.
Das liegt auch an der zweiten Sache, die mir so gut gefällt: Chants of Sennaar ist keine verkopfte Leseübung. Vielmehr ergeben sich zahlreiche Zusammenhänge und Schlussfolgerungen aus dem Beobachten dessen, was die Einwohner des mehrstöckigen Turms so tun. Die Sprache ist also nicht nur in Dialogen verankert, sondern Teil einer im Vergleich zu anderen Rätselspielen angenehm lebendigen und übrigens sehr edel gezeichneten Umgebung.
Chants of Sennaar ist sowohl auf Steam und im Epic Games Store als auch für Nintendo Switch sowie alle aktuellen Sony- und Microsoft-Plattformen erhältlich.
- Steam
- Epic Games Store
- Nintendo Switch
- PlayStation Store
- Xbox Store
- Freies und eigenständiges Kombinieren cleverer, miteinander verknüpfter Rätsel
- Übersichtliche automatische und Anlegen eigener Notizen
- Schrittweises Bestätigen wichtiger Lösungsschritte
- Edles Art- und Sounddesign
- Vereinzelte Interaktionspunkte kann man übersehen
Ich will euch ein Beispiel aus den ersten Minuten nennen. In der Ecke einer Straße sitzt da ein Kartenspieler, mit dem ihr euch duellieren könnt. Vier Karten mischt er dann und legt sie so vor euch hin, dass ihr eine aussuchen könnt. Anschließend trifft auch er seine Wahl und wer die höhere Karte gezogen hat, siegt in einer von drei Gewinnrunden. Ihr lernt dabei die Hierarchie der auf den Karten abgebildeten Personengruppen kennen, was erstens ein Hinweis darauf sein kann, um welche es sich überhaupt handelt, und zweitens auch in einem Rätsel von Bedeutung ist.
Ein Gwent ist das natürlich nicht und ganz allgemein erwartet euch weder ein Action-Adventure noch ein Rollenspiel. Ich mag aber die Art und Weise, wie man durch solche Interaktionen sowohl die Sprache als auch den Turm und seine Geschichte kennenlernt und noch dazu Hinweise auf weitere Rätsel findet.
Euer Abenteurer muss gelegentlich sogar durch Räume schleichen, ohne gesehen zu werden. Nun handelt es sich dabei nicht um komplexe Stealth-Action, denn meistens reicht es schon, zur nächsten Deckung zu laufen, während Wachen oder Arbeiter gerade nicht hinschauen. Damit sie das tun, muss man allerdings oft überlegen, wie man diese Deckung überhaupt erschafft, oder mit welchem Kniff man eine Wache an eine andere Stelle locken kann. Sprich, das Rätseln steht immer im Vordergrund. Dass es mit dem Schleichen und anderen Aktionen verbunden ist, verleiht dem Puzzeln aber eine Tiefe, die weiter als die eigentlichen Herausforderungen reicht.
Und so erschließt sich eben Schritt für Schritt der Weg in immer höhere Stockwerke. Auf jeder Ebene lernt man eine neue Sprache sowie komplexere Zusammenhänge kennen, sodass der Anspruch ständig zunimmt. Außerdem deckt man im Zuge dessen natürlich auf, wie viel die Geschichte von Sennaar mit der Erzählung in Schinar zu tun hat.
Keine Sorge übrigens: Man muss sich nicht wirklich mit Sprache auskennen, um erfolgreich zu rätseln. Man muss es nur einfach mögen, dass ein Puzzlespiel so offen konstruiert ist, dass es sich wie eine lebendige, fremde Welt anfühlt, die man sich mit offenen Augen und cleverer Detektivarbeit selbst erschließen darf.
Chants of Sennaar im Test: Fazit
Man bekommt ja nie vorgeschrieben, was man eigentlich tun sollte, und es gibt fast immer eine Vielzahl an Möglichkeiten, die sprachliche Bedeutung der Symbole herauszufinden. Das Besondere ist die offene Art und Weise, mit der man die Bewohner des frei begehbaren Turms und ihr Handeln beobachten muss, um zu verstehen, wie man einen Weg nach oben findet. Obwohl der Abenteurer, den man hier spielt, keiner ist, gleicht sein Tun dabei der Arbeit eines gewieften Detektivs. Und dass seine Erkenntnisse und offenen Fragen sehr übersichtlich präsentiert werden und man zudem eigene Notizen anlegen kann, trägt viel dazu bei, dass ich mich beim Entschlüsseln der verschiedenen Sprachen und Rätsel ausgesprochen wohl fühle. Dass das Ambiente so stilvoll präsentiert wird, tut sein Übriges. Für mich ist Chants of Sennaar daher ein großer Hit, der sicherlich nicht zur günstigsten Zeit dieses Jahres erschienen ist. Den ambitionierte Tüftler aber trotz allem nicht aus den Augen verlieren sollten.
Chants of Sennaar | |
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PRO | CONTRA |
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