Point & Click: Die Adventure-Kolumne
Oh mein Gott, sie haben TLJ getötet!
Es ist jetzt schon ein paar Wochen her, dass Funcom die Fortsetzung von Dreamfall angekündigt hat. Die Norweger wollen Methoden zum Online-Vertrieb entwickeln, um Raubkopien zu unterbinden, und den dritten Teil von Ragnar Tornquists Saga in Form von Episoden veröffentlichen, die Stück für Stück die epische Geschichte zu Ende erzählen. Außerdem will man langfristig auf ein MMO-Spiel im Longest Journey-Universum hinarbeiten, in dem dann ganz nach dem Vorbild World of Warcraft Millionen Spieler durch Stark und Arcadia wuseln.
Als ich die Meldung gelesen habe, schwankte mein Stimmungsbild zwischen bebender Euphorie über die Ankündigung von The Longest Journey 3 und blankem Entsetzen über die kruden Zukunftspläne für die Marke. Eigentlich war es weniger ein Schwanken zwischen den Emotionen, sondern mehr ein Umkippen. Als ich mit dem Lesen fertig war, wollte ich eigentlich nur noch vor Entrüstung mit dem Kopf gegen eine Betonwand hämmern, was ich nur unterlassen habe, damit die umstehenden Menschen mich nicht für eine sehr, sehr seltsame Person hielten.
Grund meiner Fassungslosigkeit war nicht das Gerede über Online-Vertriebsmöglichkeiten oder der in Aussicht gestellte MMO-Ableger. Die Pressemitteilung war in diesen Dingen sowieso noch sehr vage. Unverständlich war für mich die eindeutig kommunizierte Absicht, Dreamfall Chapters in Form von Episoden an den Mann zu bringen.
Eigentlich stehe ich dem Stilmittel, das seit ein paar Jahren ja nicht nur im Adventure-Genre an Bedeutung gewinnt, offen gegenüber. Mit Sam & Max verbringe ich jeden Monat aufs Neue zwei bis drei vergnügte Stunden vor dem PC, auch ernstere Themen kann ich mir gut im Serienformat vorstellen. Das heißt allerdings nicht, dass sich alle Lizenzen auf kurze Gameplayhappen herunterbrechen lassen, die dann Monat für Monat "gesendet" werden. Und ich bin absolut überzeugt, dass The Longest Journey und Dreamfall so eine Geschichte erzählen, die sich nicht in handliche Einheiten zerhacken lässt, ohne sie bis ins Mark zu verletzen.
Tornquists Welt ist komplex, Handlungsstränge teilen sich auf, fließen wieder zusammen, verschiedene Geschichten werden parallel erzählt, finden in zwei Welten statt. Die ersten beiden Spiele könnte man nicht einfach an den Kapitelgrenzen trennen und stückweise veröffentlichen, genau so wie ein Epos wie Herr der Ringe nicht zwischen den Szenen aufgetrennt werden kann, um es dann immer freitags als TV-Serie zu senden. Sam & Max dürfen Sitcom-artig immer in derselben Kulisse aufwachen, die dann Folge für Folge mit neuen Inhalten befüllt wird - wenn Zoë aber Monat für Monat im Journeyman Inn aufwacht, um von dort aus ihr neues Miniabenteuer zu planen, dann hat man ein hochspannendes Spieluniversum zu Tode banalisiert. Selbst wenn es jedes Mal komplett neue Inhalte gäbe, eine Verstümmelung zu Episoden kann den Vorgängern nicht gerecht werden.
Bedrückend finde ich es, zu lesen, was Schöpfer Ragnar Tornquist über die Entscheidung schreibt. In seinem Blog verbreitet er, dass das Episodenformat perfekt für die Fortführung der Geschichte geeignet wäre. Das glaube ich ihm aber nicht. Für mich sieht es viel mehr so aus, als hätte Dreamfall sein Geld nicht wieder eingespielt und Funcom sucht nach Möglichkeiten, um wesentlich risikofreier doch noch Geld aus der Lizenz zu machen. Ragnar bleibt da nur, in seinem Blog Firmenpolitik obrigkeitstreu als eigene Überzeugung zu verkaufen, oder seinen Brötchengeber zu verlassen und woanders etwas Neues anzufangen. Tornquists Kommentare zur Episodenentscheidung diktiert nicht sein Herz, sondern sein Portmonee, davon bin ich überzeugt.
Zur Verteidigung wurde in den letzten Wochen oft das Argument der Raubkopien ins Feld geführt. Dreamfall sei öfter geklaut als gekauft worden, da müsse man Gegenmaßnahmen ergreifen. Hier will ich gar nicht widersprechen. Ich finde es absolut legitim, dass Funcom seine Spiele vor Produktpiraterie schützen will, und sei es durch technische Maßnahmen wie beispielsweise Online-Aktivierung. Das Aufteilen in Episoden ist allerdings kein Mittel gegen Raubkopien, sondern ein trauriges Zeugnis der Unvereinbarkeit von Kunst mit kommerziellen Interessen.
April Ryan ist nicht mit dem Sturz ins Wasser gestorben, sondern am 1. März 2007. Möge sie in Frieden ruhen.
Jan Schneider ist Webmaster von Adventure-Treff.de, der großen deutschen Website für Adventure-Spiele. Jeden Mittwoch macht er sich auf Eurogamer.de Gedanken über das Genre.