Crysis 3 – Test
Frühling in New York macht Spaß. Wenn man seinen Bogen dabei hat.
Crysis begann vor inzwischen gefühlt so vielen Jahren so vielversprechend, aber jetzt, nachdem der letzte Schuss der Trilogie ausklingt, bleibt es ein unerfülltes Versprechen. All die Freiheit, die der erste Teil andeutete, von der man dachte, dass es ein erster Blick auf eine größere, freiere Welt sein könnte, all die Ideen, wo es hingehen könnte, die sich von allein ergaben ... Es endet in der Regel der Drei. Schießt drei Mal auf den finalen Boss, zerstört seine drei Schwachstellen, reißt zuvor die drei großen Flak-Türme ein. Crysis 3 bleibt auf sehr vertrautem Boden und auch das, was Crysis auf einer sehr grundsätzlichen Ebene ausmacht. Das ist an sich immer noch eine ganze Menge, aber es wächst zu keinem Zeitpunkt über sich hinaus. Außer technisch natürlich.
Cry-Engine 3 ROCKS! (Zumindest auf PC)
Die Cry-Engine 3 sieht auf dem PC - Konsolen-Versionen hatten wir bisher noch keine - einfach atemberaubend aus. Könnt und wollt ihr alles bis zum Anschlag drehen, ist es ein detailverliebter Rausch, indem man schon mal das Ziel im Fadenkreuz aus den Augen verlieren kann, ob all der Schönheit um euch herum. Mit kaum einem Effekt wird gespart und jeder Einzelne wird sinnvoll und ästhetisch so passend eingesetzt, dass er immer die Stimmung verstärkt und nie den Anschein erweckt, er wäre da, weil es geht. Selbst auf einem Mittelklasse-PC, an dem ihr ein paar Details einbüßen müsst, um sicher über den 30 und mehr Frames zu bleiben, gibt es noch diese "Wow, DAS kann meine alte Kiste?!"-Momente.
Der Wechsel des Szenarios hilft dabei ungemein. Mein persönlich größter Kritikpunkt an Crysis 2 war das sterbenslangweilige New-York-Setting. Crysis 3 bleibt zwar in dieser Stadt, aber welchen Unterschied doch ein paar Jahrzehnte so machen können. Seit dem vermeintlichen Ende der Aliens im letzten Teil hat der Energie-Konzern Cell die Weltherrschaft übernommen, indem er die Bevölkerung weitestgehend per Anwalt und Schuldschein in moderne Sklaverei trieb. Just go with it, egal wie dämlich es klingt. Es ist nicht wirklich wichtig, außer dass Eure Reise in der Nano-Haut des wiedererweckten Prophet diesmal als Rebellen-Job beginnt und vor allem New York, der mystische Herkunftsort von Cells unbegrenzter Energie ein Sperrgebiet ist. Hier dürfen nur Cells Truppen umherstreifen, sonst hat sich die Natur die Stadt weitestgehend zurückgeholt und überwuchert die Reste der Wolkenkratzer.
Die Stimmung in diesem wortwörtlich urbanen Dschungel ist vielleicht nicht einzigartig - Enslaved - aber doch ausgesprochen dicht. Ein natürliches, glaubwürdiges Labyrinth aus viel Grün und mit einem immer präsenten Gefühl der Gefahr. Es ist New York, aber nur, weil es seinem Ort liegt. Die Stimmung ist eine komplett andere und deutlich frischere, als es Crysis 2 auch nur in einer einzigen Stelle schaffte zu vermitteln. Und der Rest? Ist Crysis. Mehr oder weniger.
Kleiner, aber immer noch fein
Etwas enger gefasste Bereiche wechseln sich locker, aber in guten Abständen getimed mit größeren Arealen ab. Während Erstere hauptsächlich die Handlung vorantreiben, dienen die Letztgenannte dazu, dass ihr eure ganzen High-Tech-Spielzeuge bis zur Neige auskosten dürft. Oder zumindest, wie weit das heutzutage noch möglich scheint. Jetzt kommt das, was ich mit dem unerfüllten Versprechen meinte. Während Crysis und Crysis: Warhead relativ große Spielwiesen für jede Art von Spielgefühl darstellten, ist diese Offenheit noch zu spüren. Dank der wilderen Umgebung fühlt sie sich sogar nach mehr an, als es in Crysis 2 der Fall war, aber es wird nie wieder ganz der Level des Serienstarts erreicht. Ihr dürft gerne spekulieren, ob das Cryteks Wunsch, die Handlung zügiger zu erzählen, oder ob es der Notwendigkeit der Umsetzung auf die beiden aktuellen Konsolen geschuldet ist. Ich tippe auf Letzteres, aber woran es auch immer liegt, ich hatte schon häufiger das Gefühl, etwas zu früh auf eine Mauer zu stoßen - wenigstens waren sie immer gut sichtbar - und mich näher am Missionsmarker nach einem Weg vorbei an den Wachen orientieren zu müssen.
Das ist jedoch immer noch Genöle auf hohem Niveau, denn für jeden Call-of-Duty-Spieler muss sich diese Kampagne im Vergleich immer noch wie ein Open-World-Spiel anfühlen. In diesen Gebieten - mal ein offener, mit hohem Gras überwucherter Platz, mal Ruinenschluchten mit Sturzbächen statt Straßen, mal ein vollkommen zerstörtes Wasteland dessen, was mal eine Stadt war - lässt sich mit dem Nano-Anzug wunderbar auf die Jagd gehen. Das Spiel mit dem Möchtegern-Rambo-Bogen ist es auch, was Crysis 3 einen guten Teil seiner Seele und seines Charmes gibt. Diese auch im komplett getarnten Modus, in dem ihr für eine kurze Zeit unsichtbar seid, einsetzbare Waffe ist der One-Hit-Kill-Traum jedes Schleichers. Und wo ihr nur könnt, werdet ihr seine normalen, Spreng- oder EMP-Pfeile einsetzen, um die frei umherpirschenden Wachen eine nach der anderen aus dem Verkehr zu ziehen.
Alles. Nur bitte nicht Ballern.
Dieses Spiel aus Auftauchen, ein zwei Treffer landen und wieder verschwinden perfektioniert Crysis 3 und es ist auch der Grund, warum ich es nach der Beendigung gleich noch einmal startete. Das Spielgefühl ist ausgereift, die Waffen den Situationen angemessen und Wege zu finden, auf denen die Bösen einen bis zum Schluss nicht einmal zu Gesicht bekommen, ist ein meist intelligentes, manchmal ein wenig sadistisches und immer unterhaltsames Vergnügen. Und dann kommt, nach etwa 7 bis 8 soliden Stunden Spielzeit der letzte Level und er ist eine Beleidigung für das Spiel. Es ist ein generischer, dummer, Shooter-Level mit einem dummen, generischen und angesichts des folgenden Epilogs unnötigen Bosses. Dass hier das Stealth für ein Weilchen nicht ganz funktioniert, weil das Spiel euch die Spielzeuge für ein Weilchen wegnimmt, ist nicht mal schlimm. Aber es zwingt euch, das Ganze wie einen Ego-Shooter von der Stange zu spielen. Bei manchen Spielen ist das ein Moment der Stärke - das ist das, was sie können, das ist das, was Spaß macht. Crysis 3 ... nein, wenn erst mal die großen Kaliber sprechen, ist es nur ein Ego-Shooter, der mit seinen generischen Waffen ein wenig von sich gelangweilt scheint, wenn er auf diese Weise gespielt wird.
Inhaltlich hatte Crysis nie viel Seele, es lebte von seiner Technik und seinem Gameplay, Crysis 3 hat sich da nicht weiterentwickelt.
Das übliche Sortiment aus Schnell-Feuer-Waffen, Sniper-Gewehren und ein paar Alien-Waffen, die zwar lustig summen, aber sonst auch nichts anderes können als die irdischen Gegenstücke, treibt einen geradezu in die stealthigen Arme des Bogens zurück. Schon allein, weil ich auf dieses billige Schützenfest - Super-Nano-Schild hoch und die Header zählen - keine Lust hatte, ging ich mehrmals zurück zum letzten Checkpunkt und versuchte, erneut unentdeckt zu bleiben. Diese Level, selbst wenn sie ein wenig zu klein sein mögen, hatten mehr verdient als ein Durchschnitts-Geballer in Schönheit. Gönnt es ihnen und das am Besten auf einem höheren Schwierigkeitsgrad, um nicht in Versuchung zu geraten, einfach mal rumzumarodieren oder durchzurennen, was weiter unten oft locker möglich ist. Holt das Beste aus Crysis 3, indem ihr euch das Leben nicht zu leicht macht.
Es muss nicht intelligent sein, um unterhalten zu können.
Es ist jetzt auch nicht so, dass ihr von der Story getrieben sein würdet. Noch obligatorischer als hier wird es nicht. Ein oder zweimal überlegte ich sogar im Vorfeld, wie es weitergehen würde, dachte dann etwas in der Richtung von "Nein, das wäre a) zu offensichtlich und b) zu dämlich" aber siehe da, a) und b) waren egal, es passierte trotzdem. Aber ehrlich gesagt war mir das die meiste Zeit egal. Inhaltlich hatte Crysis eh nie viel Seele, es lebte von seiner Technik und seinem Gameplay, Crysis 3 hat sich da nicht weiterentwickelt. Die Geschichte ist ein Finale für die Trilogie, das steht fest, ob es euch zufriedenstellt, weiß ich nicht - ich hoffe nicht, weil ihr dann etwas zu leicht zufriedenzustellen wärt -, aber das war mir irgendwie die ganze Zeit über egal.
Es mag das Äquivalent von Michael Bay im Videospielbereich sein - viel Boom, wenig Inhalt - aber wenn ihr in die Stimmung kommt, kann das reichen und das war bei mir der Fall. Wenn es rumpelte, dann rumpelte es ordentlich, die grummelnde Stereotypen-Show, die man hier Handelnde nennt, passten in ihre Nischen und wer braucht schon eine intelligente Enthüllung, wenn er stattdessen eine große Explosion haben kann. Ich weiß, ich weiß, aber diesmal meine ich es nicht zynisch. Ich mochte die platte, krachende Action-Handlung von Crysis 3. Weil sie die allermeiste Zeit wusste, dass sie so etwas ist und sich selbst nie in die Quere kam. Und solltet ihr etwas anderes nach den ersten Teilen erwartet haben ... warum?
Der Multiplayer in Crysis war für die Reihe immer wichtig, aber es war nie das definierende Element, wie es zum Beispiel bei einem Call of Duty der Fall ist. Dafür jedoch gab man sich hier noch einmal ordentlich Mühe und mehr als ein Dutzend sehr solider und verwinkelter Karten lädt zu kurzen, harten und schnellen Runden ein. Es gibt eine Reihe zwar bekannter Spielmodi wie King of the Hill oder die ewige Jagd nach der Flagge, aber diese verblassen gegen den Hunter Mode. Zwei Spieler in Nano-Anzügen jagen die andern, die die Rolle der Cell-Soldaten übernehmen. Diese sind zwar technisch unterlegen, aber deutlich in der Überzahl und haben sogar mehre Leben für ein paar Respawns. Und wenn ihr im Anzug gegen ein eingespieltes Team kämpft, dann Gnade euch der Gott des Multiplayers. Euch steht eines der besten Multiplayer-Matches eures Lebens bevor. Dazu kommt ein durchdachtes Klassensystem, Levelaufstiege und Freischaltereien, also das, was man auch woanders her kennt und hier fehlt ein wenig die eigene Identität jenseits des Bogens. Aber das ist zu verschmerzen, wenn ihr mit diesem in den Deathmatch-Ring steigt. Der Bogen macht vieles wieder wett.
Das Spiel mit dem Möchtegern-Rambo-Bogen ist es, was Crysis 3 einen guten Teil seiner Seele und seines Charmes gibt.
Am Ende läuft es eh auf den Bogen hinaus. Die Handlung ist SciFi-Popcorn der kurzweiligen Art - lecker, substanzlos und manchmal verschluckt man sich auch dran -, die Umgebungen fühlen sich überhaupt nicht nach New York an, was definitiv ein Plus ist. Aber dafür, dass wir hier im ja eigentlich vierten Teil der Serie sind, die mit mehr startete, als sie jetzt über die Ziellinie bringt, ist Crysis 3 eine Enttäuschung auf hohem Niveau. Es ist nicht schlecht, nicht mittelmäßig, eigentlich nicht mal nur gut. Es ist perfektes, gradliniges Stealth-Action-Kino der dank topaktueller Engine wunderschönsten Art. Ein paar mal krachende, mal ruhigere Schleich-Abende hin zur Rettung der Menschheit, aber eigentlich hätte es mehr sein müssen. Der Bogen und die verwilderten, urbanen Arenen, in denen ihr entweder die KI in Richtung Finale oder die Mitspieler in Richtung Kill-Score jagt, beschäftigen für eine Weile und das auch richtig kompetent. Aber es ist am Ende das gewisse Etwas, die Seele des Spiels, die eigene Identität, die noch am stärksten in Crysis vorhanden war und sich dann immer mehr auf den Stealth-Kill reduzierte, die irgendwo auf der Strecke bleib.
Crysis 3 ist ein großer, spaßiger Sommer-Blockbuster und als solcher funktioniert es perfekt. Manchmal braucht man so was einfach und umso besser, wenn es dann so gut gemacht wurde, wie das hier. Startet es, genießt den Ritt und erwartet nicht, dass ihr nächsten Sommer noch darüber reden werdet. Von Zeit zu Zeit muss man das Jetzt genießen und nicht dem hinterherweinen, was hätte sein können. Sonst könnte man glatt den vielen Spaß übersehen, den man hier trotz allem haben kann.