Cyberpunk 2077 - Das beste Rollenspiel der Next-Gen erfindet die Welt nicht neu
Aber es baut sich eine, die ihresgleichen sucht.
Und? Wird Cyberpunk jetzt das größte Spiel aller Zeiten, das ein neues Zeitalter einläutet und eine neue Ära in Sachen Gaming? Nun, nach vier oder so Stunden... Sorry, sieht nicht danach aus. Und ja, es ist jenseits von gemein, dem wahrscheinlich besten Spiel des Jahres, vielleicht der kommenden Jahre, lediglich zu attestieren, dass es die Erwartungen erfüllt. Aber wenn diese schon außerhalb des Sonnensystems herumkreisten, was sollte einen dann noch schocken?
Es gibt so viele Details hier, so viele Ecken des Spiels, die man im Detail ergründen kann und ab einem gewissen Punkt auch sollte, dass es leicht sein kann, aus dem Blick zu verlieren, was mit Cyberpunk 2077 jetzt eigentlich wirklich auf uns zu kommt. Und das ist im Grunde nichts anderes als Witcher mit Deus Ex gekreuzt. Ihr nehmt die Detailliebe des Witchers, die grundlegenden Systeme, Menüstrukturen und ähnliches, dann passt ihr sie auf das SciFi-Korsett und die Terminologie der Pen'n'Paper-Vorlage an und schon ist ein guter Teil des Weges geschafft. Das Spieldesign ist dann nicht wirklich ein Action-GTA, sondern ein valides Rollenspiel im altmodischen Sinne mit vielen Werten hinter allem, was ihr tut.
Bei aller Detailliebe zu den einzelnen Punkten: Am Ende scheint es immer auf die Grundpfeiler von Deus Ex hinauszulaufen: Ihr könnt reden, schleichen und hacken oder ballern. Oder diese Dinge nach Laune mixen, nichts davon ist wirklich neu. Was neu ist und einen zum Start ein wenig erschlägt, ist die Masse an Optionen - und dabei hat man zu diesem Zeitpunkt bestenfalls einen Bruchteil der Möglichkeiten freigeschaltet.
So ist die Welt von Cyberpunk natürlich eine durch und durch hackbare Welt. Ihr hackt die Kamera, dann über das Blickfeld der Kamera die Cyberware der Wachen, um ein Grüppchen von ihnen zusammenzulocken - und dann hackt ihr die Granate am Gürtel der Wache, um die Gruppe zu erledigen. Ihr hackt Straßenschilder, Newsanzeigen, Autos, einfach alles, was euch des Weges kommt. Es gibt zahllose Module, die ihr in euer Cyberdeck einsetzt und die einzige Limitierung dabei ist ab einem gewissen Punkt der Speicher des Decks. Sprich: wie viele Programme euch direkt zur Verfügung stehen. Allein das Hacken ist eine kleine Wissenschaft für sich und ein in zig Stufen ausbaubarer Pfad. Wenn ihr schon immer einmal einen Super-Decker spielen wolltet, Cyberpunk dürfte das Spiel schlechthin werden.
Das gilt auch für den Straßensamurai - sorry, ich werde immer der Shadowrun-Terminologie treu bleiben -, den zugecyberten Krieger mit HUD-Support. Es gibt irre viele Fertigkeiten-Optionen für direkten Kampf oder Stealth-Optionen - im Grunde alles, was die Vorlage sich ausdachte, zumindest bevor sie mit der 3rd-Edition damals in ein komplett anderes Setting abdriftete. Eines, zu dem ich auch gerne ein solches Spiel sehen würde. Aber eins nach dem anderen. Es gibt alle Waffenkategorien, von der Shotgun bis zu den Sci-Fi-Waffen, alle Waffen lassen sich modifizieren, alle Modifikationen haben Modifikationen, es gibt Fertigkeiten für Modifikationen, es gibt einen ganzen Fertigkeitenbaum für nur eine Kampfeigenschaft, wenn ihr zum Beispiel unter einen gewissen Prozentsatz an Lebensenergie fallt. Für diesen Moment allein lassen sich zig Sachen freischalten. Unter all der schönen, glänzenden Oberfläche steckt genug Substanz, um es spielend mit jedem RPG aktuell aufzunehmen, egal, was euer Spielstil sein soll.
Ein paar Vorschläge für Spiele mit Cyberpunk-Thema, mit denen ihr die Zeit bis Mitte November totschlagen könnt, gefällig? Dann schaut mal hier: Warten auf Cyberpunk 2077 - 8 Cyber-Tipps für den Sommer?
Wieder genau das, was man erwartet hat, sind die Gespräche, die Interaktionen mit NPCs und der Umwelt. Man hat erwartet, dass es filmreife Schauspielqualität hat. Dass es eben nicht die üblichen einzelnen Fehlbesetzungen bei den Sprechern gibt. Dass die Augen eines NPCs im Dialog zwischendurch mal nicht seltsam wegwandern, sondern dass alles geschliffen, perfekt und immersiv abläuft. Genau das tut es auch. Wie soll ich beeindruckt sein, wenn Perfektion versprochen wurde, wenn man sie erwartet hat und nun geliefert bekommt? Dann ist dieser Meilenstein der Visualisierung einer fantastischen Umwelt halt nur der Meilenstein, der es sein muss, um nicht zu enttäuschen. Die Welt ist ungerecht, aber CD Projekt auch nicht ganz unschuldig daran.
Wie schon in früheren Präsentationen zu sehen war, verlaufen Gespräche wirklich natürlich und aus der Bewegung heraus ab. Es gibt viele Momente, in denen ihr selbst interaktiv eingreift und es eben keine Zwischensequenz ist. Aber es könnte eine sein, so gut wurden die Versatzstücke der Dialoge aufeinander abgestimmt. Das zusammen mit der guten schauspielerischen Leistung der gecapturten Menschen hinter den Fassaden, den ausgezeichneten Sprechern und vor allem auch wirklich gut geschriebenen Dialogen ist mal wieder der nächste Schritt zum interaktiven Film, einem Work-in-Progress-Projekt seit fast 30 Jahren, das hier die Interaktivität betont und sich nicht mit Quick-Time und Multiple Choice begnügt.
Nun, Multiple Choice gibt es natürlich dennoch ausreichend. Cyberpunk ist wie gesagt in seinem Herzen immer noch ein sehr klassisches Rollenspiel, das sich hinter einer absurd detaillierten, abwechslungsreichen und mit einer mitunter fast unheimlichen Liebe für Kleinigkeiten ausgestatteten Fassade versteckt. Aber auch diese Antworten wollen in einem weiteren Versuch der besseren Immersion in die Geschichte schnell getroffen werden. In Sekunden müsst ihr oft entscheiden, ob ihr eine Situation nutzt, ob das überhaupt eine gute Idee ist und abwägen, welchen Weg ihr eröffnet oder vielleicht verbaut. Dem lokalen Anführer radikaler Transhumanisten kurzerhand eine drüberzubraten und ihn aus dem Verkehr zu ziehen, bevor ein handgreiflicher Streit entbrennt, war einfach zu verlockend - aber es könnte im Rest des Spiels Konsequenzen haben. Wer weiß, vielleicht auch nur in zwei Nebenquests, die ich jetzt verpasst habe. Vielleicht ist die Decke aus Entscheidungen am Ende doch nur hauchdünn, aber entwicklerseitig wurde mir anderes versprochen und es fühlte sich auch nach deutlich mehr an. Von Kleinigkeiten wie einem eher sanften oder aggressiven Gesprächsanfang bis hin zu Entscheidungen, mit denen man sich wohl eine ganze Fraktion in einer Sekunde zum Feind macht, gibt einem Cyberpunk gekonnt das Gefühl, dass man der Herr seines eigenen Schicksals ist.
Wenn alles gesagt wurde und die Waffen gezogen werden, dann hatte ich meine Bedenken: Schließlich hat CD Projekt schone ein Menge Dinge gemacht, aber keinen zeitgemäßen Shooter. Wie also würde sich das anfühlen? Nun, ich machte mir umsonst Sorgen. Während meiner Session hatte ich kleinere MGs, Pistolen, Revolver und Schrotflinten und alles fühlte sich nicht nur nach dem an, was es jeweils war, sondern auch generell kraftvoll und durchschlagsstark. Eine futuristische Magnum zu ziehen und den Trigger durchzudrücken gab das Feedback, das es haben sollte, wenn man ein solches Projektil mit weit über Schallgeschwindigkeit in Richtung eines Ziels schickt. Wenn die Kugel dann dort ankommt, zeigt sich wieder der Rollenspielcharakter. 102 Punkte kritischer Schaden am Kopf. Kein Grund, gleich umzufallen. Egal, Teil des Programms, man spielt ja keinen Shooter.
Erstaunlich gut spielt sich auch das Ballern aus dem Auto heraus. Wenn der nette NPC das Steuer gerade hält, dann kommt genau die richtige Stimmung auf, sobald das Neon vorbeirauscht und die Kugeln fliegen. Es gibt eigentlich zu wenige gute Cyberpunk-Action-Filme. Das mit dem selbst lenken ist allerdings noch eine der Baustellen, an denen die Entwickler schrauben. Man ging für Cyberpunk 2077 wohl bereits eine ganze Reihe von Fahrmodellen durch. In diesem Build hatte man einen etwas "Simulations"-lastigeren. Sehr relativ gesprochen, denn für mich steuerte sich das mehr wie GTA 4, vor allem, wenn es aus den noch recht wenigen Sportwagen heraus und hinter das Steuer einer frisch geklauten Limousine ging. Man arbeitet noch daran und das ist gut so, denn das hier sollte nicht das Endergebnis bleiben.
Das und ein paar andere Kleinigkeiten, wie die manchmal noch nicht ganz elegante Menüführung, sind aber auch die einzigen Punkte, die während etwa vier Stunden ins Auge fielen. Grafisch sollte es hier keinen "so sah das auf der Gamescom aber nicht aus!"-Moment geben. Sowohl die Szene, die mit dem Trauma-Team endete, wie auch die Verhandlungen mit der Cybergang und dem folgenden Shootout sehen genauso aus, wie es zuvor gezeigt wurde, nur dass es noch mal was anderes ist, es selbst zu erleben. Ihr habt wirklich das Gefühl, dass vieles nicht so ablaufen muss, wie es das tut. In der Begegnung mit der Gang gibt es vorher schon Variablen und Situation, die ihr vielleicht überhaupt nie gesehen habt und den Ausgang beeinflussen. Zwischen "ich gehe rein, gebe ihnen genug Geld und gehe wieder" und "ich trete die Tür mit gezogener Knarre ein" gibt es über ein Dutzend Graustufen, die euch alle auf einen manchmal dramatisch anderen Weg schicken. Hier überwiegen die Einflüsse des Witchers, dens die drei Wege des Deus Ex sind nur die Werkzeuge. Den Verlauf, entlang dessen ihr sie nutzt, das wird von eurem Charakter und eurem Rollenspiel mit der Umwelt beeinflusst. Und das in einem Umfang, den man in einem Rollenspiel dieser Produktionsgüte aus den letzten 20 Jahren bestenfalls aus den wirklich guten Tagen BioWares kannte, aber eigentlich sind auch die nicht mal nah dran. Dragon Age: Origins vielleicht. Nicht mal der Witcher.
Eure eigene Persönlichkeit ist dabei zwar nicht frei definiert, aber als Archetyp einer von drei Ausrichtungen - Corporate, Straße oder Gang - ist V danach ein weitestgehend unbeschriebenes Blatt, das vor euch liegt. Es gibt wohl ein wenig Hintergrund, die Figur wird passend in ihre Umwelt eingebunden, so dass ihr nicht der Nobody aus dem fernen Land seid, den keiner kennt. Aber eben auch niemand, der zu viel Ballast gleich mit in die Story bringt, die ihr in den ersten Stunden so glaubt mitzugestalten. Glaubt, weil es natürlich immer noch einen definierten Plot geben muss, aber die Illusion zu erzeugen, dass ihr viel freier seid, nicht nur in der dritten Dimension, sondern auch im Fortlauf des Spiels, ist hier definitiv eine echte Stärke.
Nicht, dass man die dritte Dimension vernachlässigt hätte. Night City ist ein Juwel unter den immer beeindruckender werdenden Spielwelten. Das neo-moderne Design, das sich gleichzeitig aus dem Sci-Fi vergangener Tage, aber auch vieler aktueller Anleihen bedient, schafft einen eindrucksvollen Mix aus der unverfälschten, aber überholten Idee des Cyberpunk und einer glaubwürdigen futuristischen Umgebung, die durchaus eine der möglichen Versionen dessen ist, was noch kommt. Die NPCs, die herumwandern, sich unterhalten, von A nach B fahren oder laufen, füllen diese Fassade mit Leben. Man möchte ihnen folgen und schauen, was sie genau treiben, wie tief ihr Leben unter die Oberfläche reicht - oder ob sie nur ein Pinselstrich sind. Ich denke Letzteres, aber das wäre nicht schlimm. Es ist der Hintergrund für euer Abenteuer, kein Singleplayer-Second-Life. Und somit erfüllen sie die Aufgabe, mich nicht verloren in einem der beeindruckendsten Orte der Spielegeschichte herumstehen zu lassen, mit Bravour.
Ihr müsst wohl auch wenig Sorge haben, dass es zwischen den Wolkenkratzern zu schnell langweilig wird. Die unterschiedlichen Viertel auf der riesigen Karte zeigen grundverschiedene Architekturen, es geht sogar bis in die Wüste vor die Tore Night Citys hinaus. Dort solltet ihr aber keine zweite Welt wie in GTA 5 erwarten. Hier belegt die Stadt schon um die 90 Prozent der Spielfläche. Aber es ist eben doch ein großer Unterschied, ob ich durch verschachtelte Altbauten schlendere und ihre verwinkelten Gassen, oder mal gucken gehe, was das Corporate-Leben in den Penthäusern der feinsten Hotels so mit sich bringt.
Apropos mal gucken gehen. Es gibt ein echtes Puzzle-Element, an dem ich auch gleich dezent scheiterte. Ihr kennt vielleicht die 3D-Bilder aus dem alten Blade-Runner-Film. Das kombiniert ihr jetzt mit den VR-Go-Pros aus Strange Days, in denen aufregende Dinge wie Sex oder Überfälle live mitgeschnitten werden, Emotionen und komplette Umgebungsdetails in voller Tiefe gleich mit. In der Welt von Cyberpunk 2077 gibt es beides in einem. Ihr sollt in einem Hotelzimmer einen wertvollen Chip finden, habt aber keine Zeit zu suchen, sobald der Einbruch losgeht. Also schleicht sich eine Informantin als Luxus-Prostituierte ein und bringt die Aufnahme. Diese könnt ihr dann wie ein Video vor- und zurückspulen, die Perspektive frei in einem gewissen Bereich um die Aufnehmende ändern, Wärmekameras und Audio-Detektoren dazuschalten.
Falls ihr euch schon sicher seid, dass ihr es kaufen werdet, dann könnt ihr es auch schon vorbestellen: Cyberpunk 2077 im PSN-Store für 69,99 Euro.
Auf diese Weise grast ihr in einem vierdimensionalen Suchbild die Szene nach dem Chip ab und es ist gar nicht so einfach. Es gibt eine Menge Variablen, mehrere Minuten an Aufnahme und mitunter poppt etwas nur für Sekunden auf, wenn die Position im Raum gerade mal genau stimmt, bevor sie sich wieder verändert. Vielleicht ist es doch nicht einfach, ein Blade Runner zu sein, aber als High-Tech-Retro-Sci-Fi-Mix aus drei Klassikern mit einem neuen Twist ist das hier brillant. Mal gucken, wie oft es vorkommt und wann es sich abnutzt. Aber Hut ab, das ist ein ausgezeichnet gestaltetes Puzzle-Element, etwas das heute in RPGs alles andere als selbstverständlich ist.
Wie eingangs erwähnt, es ist nicht so, dass Cyberpunk 2077 auf spielerischer Seite das Rad neue erfinden würde oder wollte. Egal ob ihr die Elemente des RPG-Shooters, des Hackings, der Talente oder des Autofahrens durch Neon-Schluchten nehmt, nichts davon ist tatsächlich neu. Auch nicht der Detailgrad der Spielwelt. Nicht mehr in einer Zeit von Red Dead, AC: Odyssey oder anderen solchen Kalibern, die neben Größe auch viele Feinheiten zeigen. Die unglaubliche Qualität von Dialog und Animation und die Interaktion der NPCs und der Spielfigur mit der Umwelt ist auf dem obersten Level, aber mit Spielen wie The Last of Us 2 auf dem Markt auch nichts, was es noch nie gab. Was jedoch ungemein fasziniert: Wie all das in einem Spiel nahtlos zusammenfindet und eine Welt schafft, die sich so plastisch anfühlt, dass man glaubt, die Dinge in ihr hätten Gewicht. Dass man diese virtuelle Masse im Gewicht des Controllers förmlich fühlen kann, wenn die Figur nach ein paar Stunden Spielzeit etwas greift, schlicht, weil sich diese Welt in sich so schlüssig anfühlt, dass es echt sein muss. Diese Mischung aus durchaus legitimen Entscheidungen und Konsequenzen, valider Spieltiefe durch viele verschiedene Elemente, aber auch eben viel dünner, jedoch sehr elegant versteckter Fassade, das ist es, was Cyberpunk 2077 in eine einmalige Erfahrung verwandelt, in eine Welt, in die man problemlos eintauchen kann und will.
Es ist ein unglaublich vielschichtiges Spiel, auf viele einzelne Aspekte werde ich in den nächsten Wochen noch im Detail eingehen. Aber bis dahin könnt ihr als Fazit mitnehmen, dass sich die Welt des Spieldesigns durch Cyberpunk 2077 nicht maßgeblich verändern wird. Und dass es ohne Frage oder jeglichen Zweifels meinerseits eines der besten Rollenspiele der letzten und nächsten Jahre sein wird.
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