Was ist Eurogamer? - Artikel
Me, myself and I
Dies oder das ist keine 10. Es gibt keine 10. Niemals. Nur Portal 2. Nicht mal Portal 2. Viel zu kurz. Schon gar nicht Portal 2. Und überhaupt ist die Wertung ja gar nicht objektiv.
Richtig erkannt. Weder ist sie objektiv noch behauptet sie, es zu sein. Sie ist subjektiv und begründet, aber das war es auch schon. So ist Eurogamer nun einmal.
Die Diskussion, in diesem Falle war es Mass Effect 3, zeigte eine Sache ganz klar: Es ist mal wieder an der Zeit, zu erklären, was Eurogamer ist oder zumindest was wir jeden Tag versuchen zu sein und auch manchmal schaffen. Wir versuchen, in einem Test die emotionale Empfindung des Testers einem Spiel gegenüber näherzubringen, gleichzeitig aber auch ganz klar zu belegen und zu erklären, wo sie herkommt. Auf diese Weise sprechen wir über einzelne Aspekte eines Spiels, arbeiten aber nicht zwangsläufig eine Liste ab. Wir sprechen über einzelne Features, wenn sie eine Reaktion ausgelöst haben, positiv oder negativ. Wenn eine Spielmechanik funktioniert, aber jetzt keiner tiefgreifenden Erklärung bedarf und sie sich einfügte, ohne groß aufzufallen, wird sie in der Regel erwähnt - "Es ist ein Deckungsshooter" -, aber andere Aspekte, die darauf aufbauen, können viel wichtiger sein. Für den Tester. Störte "mich" die nicht "perfekte" Grafik von Dark Souls, die eher kurze Spielzeit von Portal 2, die eher gute als perfekte Kampagne von Dawn of War 2 oder die Shootermechaniken von Mass Effect 3? Nun, sie waren sicher nicht die Aspekte, die diese Spiele zu Zehnern machten, aber sie ruinierten nicht die Erfahrung. Für den Tester.
Gibt es eine 10, die jeder so sieht? Wahrscheinlich ebenfalls nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Mass Effect 3 so faszinierend finde oder ob alle Welt Portal 2 auch so liebt. Ich bin mir bei letzterem sogar sehr sicher, dass es nicht so ist. Warum gibt es dann überhaupt eine 10, wenn einem bei jedem Spiel, sucht man nur intensiv genug, die Imperfektionen in das kritische Auge springen? Weil die Erfahrung am Ende alles ist, was zählt. Wie viel Spaß hatte "ich" beim Spielen. Wie blicke "ich" auf dieses Spiel in seiner Gesamtheit zurück. Was gefiel "mir", was waren die Dinge, von denen "ich" sagen würde, dass sie für "mich" die perfekte Erfahrung ruinierten. Das sind die Sachen, die in einem Test von Eurogamer drinstehen müssen und es ist der für den Testenden bestmögliche Versuch, euch seine Gedanken zu dem Spiel zu vermitteln.
Ich fand es innerhalb der Diskussion um Mass Effect interessant, dass das Argument kam, dass genau diese Art des "Fanboytums" - in Falle von Mass Effect 3, als ich Syndicate nicht so berauschend fand, gab es genau gegenteilige Formulierungen - verhindert, dass der Spielejournalismus als Kulturkritik ernstgenommen wird. Und damit auch, dass wir Spieleschreiberlinge schuld wären, dass Spiele nicht als Kunst wahrgenommen werden. Der Autor tippte diese Ansicht mit dem Tonfall der absoluten Wahrheit. Interessanter Gedanke, aber wie das mit absoluten Wahrheiten so ist, gibt es dazu diametral stehende Gegenmeinungen. In einem Spiegel-Artikel von vor einer Weile berichtete Christian Schmidt - ehemaliger Gamestar-Chefredakteur - so ziemlich das Gegenteil. Spielejournalismus wird nicht als Kulturjournalismus wahrgenommen, weil er zu detailliert und "objektiv" alles abarbeitet, was der Spieler irgendwie irgendwo zu Gesicht bekommt, statt es etwas vage gesamt-welt-kontextuell einzusortieren. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte, aber schaut man sich den Kulturjournalismus an, stellt man leicht fest, dass die Spiele in der Berichterstattung wirklich ein Sonderfall sind.
Jede Musik- oder Filmkritik hat sich mindestens insgeheim damit abgefunden, dass sie nicht mehr sein kann als eine Meinung, die verkürzt die Essenz und die wichtigsten Aspekte eines Werkes wiedergibt und letztendlich, was der Rezensent dabei empfand. Es lassen sich viele Dinge an einem Album objektiv bewerten: Die Aufnahme- und Aussteuerungsqualität, die Druckqualität des Covers... Nun, vielleicht doch nicht so viele Dinge. Der Rest ist eine hundertprozentige Meinungswiedergabe eines einzelnen Menschen. Eines Menschen, der Kanye West gut findet. Der mir versucht, näherzubringen, warum die Texte, die Beats und die Songstrukturen zum Coolsten gehören, was je in sein Ohr drang. Kann er gerne tun, Metacritic sagt, dass er damit nicht alleine dasteht, die Verkaufszahlen bezeugen, dass eine Menge Leute die Musik mögen. Jeder von diesen Kritikern schreibt natürlich nicht nur "ist super", sondern belegt seine Ansicht auch mit Beschreibungen, Vergleichen, Ausführungen zur Musik, zu den Texten, zum Künstler. Mal brillant geschrieben, mal etwas banal, jeder so, wie er es empfand und glaubt, es am besten einsortieren zu können.
Ich lese das, alle diese großartigen Lobesgesänge, die sicher zum allergrößten Teil von Herzen und aus tiefster Überzeugung kommen, höre mir dann das Kanye-Album an und kann nichts damit anfangen. Ist nicht meine Musik, ist nicht mein Genre, weiß ich von Anfang an. Mir ist das Album egal und dem Kritiker ist egal, dass es mir egal ist. Gut so. Warum sollte das bei einem Spiel anders sein? Es hat seine 10 Punkte zu Recht und ich mag es trotzdem nicht. Subjektivität ist wundervoll.
Die Vorstellung, dass etwas zerlegbar und objektiv bewertbar sein muss, scheint tief in der DNA des Spielejournalismus drinzustecken und spiegelt sich in Listen voller Zahlen, nüchternen Pro-Contra-Tabellen und teilweise sogar Kurvendiagrammen wieder. Nirgendwo, in auch nur irgendeinem Kulturfeuilleton wird man sehen, dass Musik, Film oder Theater auf diese Weise zerlegt werden. Nur Spielen tut man dies an und sucht nach jedem Haar in der Suppe, um zum Schluss zu sagen: "Tja, sind leider nur 87,986 Prozent von willkürlich gedachten 100". Warum? Weil die Grafik nicht die Engine ausreizte? Weil die Spielzeit kürzer war als Game X? Das können Gründe dafür sein, dass die Spielerfahrung nicht das Maximum erreicht - welches auch immer -, müssen es aber nicht. "Ich" denke nicht, dass die teils etwas hässlichen Texturen von Dark Souls ein Problem für die Gesamterlebnis darstellen. Deswegen soll "ich" dem Spiel seine Höchstwertung verweigern, obwohl es für mich eine der besten Spielerfahrungen überhaupt war und ich erklären kann, warum? Sorry, nicht hier. Auf Eurogamer darf "ich" dann trotzdem die 10 ziehen.
"Ich" ist so eine andere Sache, die jedem traditionell geschulten Journalisten als erstes ausgetrieben wird. Wiederum gut so, das "Ich" hat im traditionellen Journalismus oder der klassischen Berichterstattung (fast) nichts verloren. Nicht mal in den banalen Spiele-News. Die Meinung und damit das "Ich" sollte sich erst mal fernhalten, wenn es darum geht, über Ereignisse zu berichten. Wenn es dann näher herangeht, darf es sich schon mal zeigen, Kriegs- und Katastrophen-Berichterstatter erzählten und erzählen oft von sehr persönlichen Erlebnissen und Details, die keineswegs die Distanz einer Tagesschauberichterstattung haben. Und gerade in der Kulturkritik - oder eigentlichen allen Kritiken - lässt sich immer mal wieder ein "Ich" herauslesen. Dass es sich nicht direkt lesen lässt, dürfte in einigen Fällen dem Gedanken geschuldet sein, dass es eben nicht den Journalisten - Subjekt - gibt, sondern nur einen Namen unter dem Test zum Produkt - Objekt. Aber wenn nicht "ich" diesen furchtbaren Fraß in dem zu besprechenden Restaurant mit Widerwillen herunterwürgen musste, wer soll es dann gewesen sein? Kritiken können niemals dem "Ich" entkommen, egal, ob es ausgeschrieben wird oder nur zwischen den Zeilen steht.
Das ist keine schlimme Sache, denn hundertprozentige Objektivität gibt es eh nicht. Jeder Mensch sieht die Welt durch seine eigenen Augen und er sieht grundsätzlich etwas mal gänzlich, mal nuanciert Anderes als der Mensch, der neben ihm sitzt. Insoweit halte ich das "Ich" und seinen Einzug in den Journalismus, nicht nur die Rezensionen über Kunst und andere Belanglosigkeiten, für gar nicht mal so schlimm. Auch nicht, dass wir hier häufig die einen oder anderen Details über unser persönliches Leben, unsere Vorlieben, sonstige Hobbys und ähnliches einfließen lassen. Das ist natürlich zum einen ein klein wenig Narzissmus - jeder Kritiker muss ein wenig narzisstisch sein, wie sollte er sonst dem Rest der Welt erklären können, warum etwas gut ist oder auch nicht? - aber gibt euch, den Lesern, auch Kontext. Wenn einer von uns etwas kritisiert oder lobt, und seinen Job richtig macht, dann habt ihr eine bessere Chance, es einsortieren zu können. W. Keith Campbell, Psychologie-Professor der Universität von North Carolina, stellte auf die Frage, inwiefern die Einbindung des "Ich" den Journalismus verändert hat, fest, dass dieser leichte Hang zum Selbstexposé des Autors inzwischen nicht nur ein fester Bestandteil geworden ist, er hat die Bindung zwischen Autor und Leser deutlich erhöht. Einigen (vielen?) Journalisten und Redakteuren mag das vielleicht extrem sauer aufstoßen, so sauer wie die Haribo-Pommes, die ICH gar nicht leiden kann, aber wie Time-Kolumnist Joel Klein über seine eigene Publikationsstelle und seinen Stil schrieb: "You Can't Spell TIME Without 'I' and 'Me'!". Nun, das wirklich nicht, aber er hat schon einen Punkt, wenn er ein paar Kolumnen weiter sagt: "'I' has won!"
Einer der Gründungsgedanken von Eurogamer.net war eben genau das Verlassen der sauberen Ecke des Auto-Tests - die immer noch weit subjektiver in vielen Dingen sind, als man meinen sollte - und das Abtauchen in die düsteren Tiefen des Erlebens eines Spiels als Individuum. Kieron Gillen nannte dieses Crossover aus Reiseberichterstattung, Nahaufnahme und nach innen bezogener Reflexion - die Todfeinde der klassischen Nachrichtenberichterstattung und erstaunlicherweise häufig auch des deutschen Auto-Tests - den "New Gaming Journalism". Eine Auseinandersetzung mit Spielerlebnissen, manchmal sogar nur einzelnen Momenten, auf eine rein persönliche, reflektierende Weise. Das ist ziemlich weit von einem "normalen" Spieletest entfernt. So weit, dass sogar die Tests bei Eurogamer.net keineswegs der reinen Schule des NGJ folgen. Auch dort wird über einzelne Aspekte relativ normal berichtet und wir bei Eurogamer.de tun dies auch.
Der Grundgedanke der begründet dargelegten, subjektiven Spielerfahrung und nicht ein Schreiben aus der gedachten Position des "neutralen, objektiven" Beobachters soll dabei im Vordergrund stehen und auch weit in die Bewertung einfließen. Auf diese Weise kann ein rückständiges, technisch unterirdisches, grausig synchronisiertes und "objektiv" betrachtet ziemlich schlechtes Spiel wie Deadly Premonition seine angemessene, relativ hohe Bewertung bekommen, weil es der Tester als wunderbare Trash-Spaß-Erfahrung erlebte und diese restlichen Sachen dem nicht nur nicht in den Weg kamen, sondern es sogar unterstützten. Die Grafik eines Mass Effect 3 mag so wenig seine Stärke sein, wie es die Shootermechaniken sind, aber das stand nicht dem Erleben der Story und der Gesamterfahrung von Anfang bis Ende im Weg. Für den Tester.
Also, fassen wir zusammen: Wir sind nicht objektiv. Wollen wir nicht sein. Wir sind alle Individuen - alle Pythons sagen "... .....!" - und diese Individualität darf hier nicht nur miteinfließen. Sie muss es sogar. Weil es eh nicht anders geht.