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Deadpool - Test

Mein Kopf! Zuviel Meta-Humor in zu kurzer Zeit. Ich brauche eine Gruppentherapie.

In einer einsamen Blockhütte, fernab jeglicher Zivilisation, sitzt eine Handvoll junger Männer in einem Stuhlkreis. Der Gruppenleiter, ein älterer Herr, sauberes Hemd, Sakko, Klemmbrett in der Hand, klopft mir aufmunternd auf die Schulter.

"Wir haben einen Neuzugang in unserem Camp. Willkommen bei den anonymen Deadpool-Fans. Bitte sag den anderen 'Hallo' und warum du hier bist."

"Hallo, mein Name ist Frank und ich bin ein Deadpool-Fan."

"Hallo Frank!"

"Äh, ja. Weshalb ich hier bin: Gestern hab ich das Deadpool-Spiel in sechs Stunden auf mittlerem Schwierigkeitsgrad durchgezockt und mich toll amüsiert. Aber ich bin auch schon lange ein Fan und sammle die Comics. Der Humor ist genau mein Ding."

"Ach. Deadpool - das Spiel? Davon wussten wir nichts. Wir haben hier draußen kein Internet und meiden alles, was mit Marvel oder Deadpool zu tun hat. Manche von uns sind schon seit Jahren hier in Therapie."

"Oh? Ist das nicht ein bisschen übertr... Naja, egal. Jedenfalls bin ich Journalist und teste neue Spiele. Jetzt soll ich über Deadpool schreiben."

"Ist schon gut, Frank. Niemand verurteilt dich hier. Sprich weiter."

Splatter-Alarm! Das Kampfsystem bietet nichts neues, ist aber grundsolide.

"Ok. Also Deadpool - das Spiel - ist eigentlich gar nicht so besonders. Grafisch auf der Höhe. Typisch Unreal Engine 3. An die Steuerung gewöhnt man sich auch schnell - ich hab's am PC getestet mit Maus und Tastatur und es mit dem Gamepad ausprobiert. Kein Problem. Die Kamerasteuerung ist nicht ganz sauber gelöst, man muss ständig nachjustieren. Anfangs ging mir das auf den Senkel, aber nach einer Weile merkt man es gar nicht mehr."

"Ist sicherlich sehr blutig, hm?"

"Oh ja. Da werden Arme, Köpfe und Beine abgetrennt, Blut fließt hektoliterweise. Der Titel ist USK 18. Aber mei, das ist halt Deadpool. Übertriebene Cartoon-Gewalt gehört dazu. Ist wie bei Duke Nukem oder Mortal Kombat oder Quentin Tarantino.

Das Kampfsystem ist handwerklich in Ordnung. Bietet nicht die raffinierten Kombos eines Devil May Cry und dirigiert sich längst nicht so butterweich Batman: Arkham City, aber schlecht ist es auch nicht. Deadpools Heilfaktor wurde super in Szene gesetzt. Je heftiger die Verletzungen, desto zerfetzter schaut er aus. Nach ein paar Sekunden regeneriert er sich - und sein Kostüm gleich mit. Spielerisch erinnert das an den typischen Deckungs-Shooter von der Stange, nur dass man sich nicht ducken kann. Deadpool hat stattdessen einen Teleport-Move, der sogar in die Kombos eingebaut wird und Takedowns ermöglicht. Von daher ist es nicht schwer, die Lebensleiste oben zu halten. Und darüber hinaus kann man jederzeit in einem In-Game-Shop neue Waffen, Granaten, Kombos und Boni freischalten. Nichts, was man nicht schon einmal anderswo gesehen hätte. Nur dass die Bildschirmtexte vor Ironie nur so strotzen.

Es ist Durchschnitt. Spielerisch nichts Besonderes und eben sehr sehr kurz.

Schleichen wird als Gimmick gekonnt auf die Schippe genommen.

Die Feinde sind außerdem recht pfiffig, suchen sich Deckung, verfolgen einen oder rennen weg. Hat mich positiv überrascht. Es gibt zwar nur eine Handvoll Varianten, doch immerhin bringt jeder Gegnertyp individuelle Angriffsmanöver mit. Wenn die Typen in Gruppen auftauchen, kann es richtig haarig werden."

"Trotzdem hast du das Spiel schnell durchgehabt."

"Ja, es ist sehr kurz. Die Level könnten auch etwas mehr Abwechslung vertragen - man ist die meiste Zeit in Ruinen und Höhlen unterwegs - aber die Entwickler von High Moon haben ein paar Kniffe eingebaut, die das Kartendesign auflockern. Kleine Such-Rätsel, Schalter, Geheimräume - so ein Zeug. Ist dennoch ein sehr linearer Tunnel. Verirren kann man sich kaum. Dafür bleibt man gelegentlich an Objekten hängen. Bugs gibt es auch - wenn ich mit einem Gegenstand interagieren soll und nicht hundertprozentig richtig stehe, komme ich erst mal nicht weiter. Oder ich muss vom letzten Kontrollpunkt neu starten, weil Deadpool nach einer Zwischensequenz hängt."

"Bis jetzt klingt das alles trotzdem nach einem guten Spiel. Macken werden schließlich nachgepatcht."

"Naja. Es ist Durchschnitt. Spielerisch nichts Besonderes und eben sehr sehr kurz. Aber Deadpools spezieller Humor reißt es raus. Vierte Wand und so, versteht ihr?"

"Aber natürlich! Wir alle schätzen Deadpools brillanten Metahumor. Ein wahres Kleinod postmoderner Persiflage. Köstliche Satire, die in den genialen Comicbüchern ... Ähm. Entschuldigung. Muss wohl das Wetter sein."

Der Gruppenleiter räuspert sich, wischt mit einem Taschentuch über seine schweißnasse Stirn, fährt fort:

"Jedenfalls sind wir alle hier, weil wir es mit der Deadpool-Verehrung übertrieben haben. Ich selbst habe zum Beispiel auf dem absoluten Tiefpunkt all mein Geld in Deadpool-Fanartikel gesteckt. Darum habe ich diese Selbsthilfegruppe gegründet, in der wir Abstand gewinnen können von Marvels Merchandising."

Was wäre ein modernes Baller-und-Schlitz-Adventure ohne Arcade-Sequenzen?

"Oh wow. Dann solltet ihr auf keinen Fall dieses Spiel in die Finger bekommen. Deadpool ist nicht 'over-the-top' - es ist vier Stockwerke drüber. Das geht schon in der Wohnung los. Man bekommt ein Achievement fürs Aufstehen, geht aufs Klo, surft am PC, isst Pizza und spielt Luftgitarre. Warum? Darum! Deadpool nimmt das Skript auf die Schippe, die Programmierer, Ryan Reynolds - einfach alle. Sogar seinen Synchronsprecher Nolan North. Das Spiel ist übrigens in Englisch mit deutschen Untertiteln. Später gibt es mehr Gags, als ich zählen kann. Ernsthaft. Ich hab mich andauernd erwischt, wie ich debil grinsend mit halb offenem Mund auf den Monitor gestarrt hab oder wegen einer Anspielung laut lachen musste.

Die Sache mit der vierten Wand ist besonders krass. Da rennt Deadpool aus dem Bild und man muss ihm mit der Kamera folgen. Oder er versemmelt einen Gag, die Perspektive wechselt, und man sieht die Filmcrew, die das alles "aufzeichnet", inklusive Wolverine im Live-Publikum. Und dann spielt man plötzlich ein 8-Bit-Actionadventure im Zelda-Look, inklusive Einhörnern und Regenbögen, weil "das Budget gesprengt wurde". Oder es gibt ein Jump&Run-Intermezzo à la Mario. Oder man rattert auf einer Lore durch Minenschächte wie Indiana Jones. Und dann dieser Seitenhieb auf "Zurück in die Zukunft 2" und "E.T." binnen einer einzigen Szene. Oder man wartet ewig in einer Schlange, um ein Ticket für den nächsten Levelabschnitt zu kaufen. Oder man erlebt schnulzige Liebesszenen mit dem weiblichen Tod. Oder... aber ich verrate schon zu viel. Ich will euch nicht kirre machen."

"Nein, bitte, erzähl weiter!"

Die anderen Gruppenteilnehmer rücken ihre Stühle heran.

Deadpool trägt die Satire so offensichtlich zur Schau, dass man ihm nicht einmal für derben Sexismus und grenzwertige Zoten böse sein kann.

Warum nicht? Wir benutzen Comicblasen, um über den Abwasserkanal zu hüpfen.

"Na schön. Die Macher nehmen absolut nichts ernst. Schleichpassagen, Arcade-Shooter-Einlagen, Achievements, Multiple-Choice-Dialoge, Quick-Time-Events - alles wird durch den Kakao gezogen. Deadpool trägt die Satire so offensichtlich zur Schau, dass man ihm nicht einmal für derben Sexismus und grenzwertige Zoten wirklich böse sein kann. Da gibt es eine Menge Schweinkram und Fäkalhumor. Furzwitze und so. Da hab selbst ich als Fan bisweilen mit den Augen gerollt."

"Schweinkram? Äh. Interessant. Was denn zum Beispiel?"

"Naja, wenn Deadpool aufs Klo geht und den Zensurbalken über seinem Gemächt nachjustiert, weil der ihm zu klein vorkommt. Oder seine Sprüche gegenüber den weiblichen X-Men Psylocke, Domino und Rogue. Oder die Tatsache, dass alle Frauen in dem Spiel enorme Oberweiten haben, die übertrieben wippen - oft nur von knappen Bikinis zusammengehalten. Da ist diese Poolparty, in der Deadpool in Rapperklamotten mit Goldkettchen Frauen anbaggern muss, um schließlich ..."

"Warte. Halt. Stop. Nicht weiter reden. Wo genau hast Du gesagt, gibt es das Spiel? Für welche Plattformen ist es erschienen?"

"Deadpool gibt es für Xbox 360, PS3 und PC. Findet man auch über Steam. Aber ..."

Eine Warteschlange. Brilliante Metapher oder einfach nur Balla-Balla?

Die Teilnehmer springen geschlossen auf, werfen ihre Stühle um und rempeln einander zu Boden, als sie alle auf einmal durch die Tür stürmen. Ganz vorn mit dabei ist der Gruppenleiter, der einem seiner Schützlinge derbe das Klemmbrett über den Schädel zieht, um als Erster raus auf den Parkplatz zu kommen. Autos werden gestartet, Reifenquietschen. Ich bin allein, noch bevor sich der Staub gelegt hat.

"Moment! Ich würde das Spiel noch nicht kaufen! Das kostet 50 Euro! Für fünf bis sechs Stunden Spielzeit viel zu teuer! Der Herausforderungsmodus wird auch schnell langweilig! Hallo? Hört mich wer?"

Doch die anderen Gruppenmitglieder sind längst über alle Berge. Das war's wohl mit meiner Therapie.

Ich drehe mich zur Kamera. Wenigstens Du bist noch da. Darf ich 'Du' sagen? Gut. Direkte Ansprache. Ich würde Dir empfehlen, noch mit dem Kauf zu warten. Deadpool ist spielerisch Durchschnitt, mit ein paar Macken und wenigen Glanzlichtern. Action vom Fließband. Nicht mehr und nicht weniger. Der Meta-Humor ist großartig, aber man muss schon darauf stehen. Hardcore-Deadpool-Fans wie ich werden fünf bis sechs tolle Stunden mit ihrem 'Idol' erleben, alle anderen dürften die Show albern, geschmacklos oder überzogen finden. Aber auch für Fans sind die aktuell fälligen 50 Tacken ein hartes Brett und eindeutig zu viel für so ein kurzes Spiel. Call of Juarez: Gunslinger zum Beispiel - das war vom Umfang und Meta-Humor her ähnlich, aber mit 15 Euro Kaufpreis erheblich günstiger. Ich würde also erst nach dem Preissturz zuschlagen und in der Zwischenzeit ein bisschen lesen. Deadpool zum Beispiel. Was sonst? Augenzwinkern. Abspann.

6 / 10

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