Deponia - Test
Alles andere als Abfall
Rufus, euer Schützling in Deponia, ist ein Außenseiter. Er ist übertrieben selbstbewusst, vorwitzig, krankhaft egozentrisch, kindlich naiv und manchmal begriffsstutzig wie der Dorf-Sheriff in einem Horrorfilm. Mit anderen Worten: Ein Adventure-Held aus dem Lehrbuch für Computerspieldesigner. Da hat man fast den Eindruck, die deutschen Entwickler von Daedalic Entertainment würden einfach nur bewährte Rezepte abarbeiten. Vor allem bei der Frequenz, in der die Jungs und Mädels seit 2008 Spiele raushauen. Aber der Erfolg gibt ihnen Recht. Seit Edna bricht aus liefert die Hamburger Spieleschmiede der treuen Point-and-Click-Community regelmäßg echte Hochkaräter.
Allerdings kommt mit der Routine auch der Trott. Adventure-Freaks alter Schule werden Deponia locker in sechs Stunden durchgeklickt haben; Otto-Normal-Spieler braucht zehn. Das liegt nicht unbedingt daran, dass einem die meisten Rätsel-Mechanismen nach jahrelangem Abenteuer-Konsum so vertraut sind wie das Zubinden von Schnürsenkeln. Deponia wirkt wie ein Adventure auf Schienen. Die Puzzles sind allesamt ein wenig abgedreht, aber einwandfrei logisch aufgebaut. Sie passen perfekt zum Müllhalden-Thema, in dem flüchtige Zahnbürsten eingefangen werden wollen, ein Briefkasten als Sattel für eine Fluchtkapsel herhalten muss und ein Espresso erst mit Batteriesäure so richtig schmeckt.
Dialoge und Spielwelt wurden üppig mit Hinweisen gepflastert, sodass ihr die nächsten Schritte stets vor Augen habt. Überdies wird regelmäßig das Inventar geleert, weshalb ihr nie mehr als eine Handvoll Gegenstände jonglieren müsst. Die obligatorischen Minispiele kann man bei Bedarf sogar überspringen. Und wenn alle Stricke reißen, lassen sich diverse Kombinationsrätsel auch einfach durch stures Ausprobieren lösen. Eine Hotspot-Funktion markiert auf Knopfdruck alle anklickbaren Objekte in der Umgebung mit einem Schraubensymbol. Nur über ein knackiges Türcode-Puzzle bin ich im Test wirklich gestolpert. Der Rest war auch ohne Hotspot-Taste gut zu meistern, sobald man sich auf die Cartoon-Logik von Deponia eingelassen hatte.
Die USK-Freigabe ab sechs Jahren sollte euch dennoch nicht täuschen. Die Rätsel sind eher etwas für Nachwuchs-Knobler ab zwölf Jahren aufwärts. Am dezent platzierten Alkohol- und Tabakkonsum der Figuren, nackter Haut oder einem herzhaften Schimpfwort aus Heldenmund braucht sich niemand zu stoßen - die Jugendfreiheit von Deponia ist so zuverlässig wie die städtische Müllabfuhr (außer man wohnt in Neapel). Richtig zu schätzen weiß man den Meta-Humor und die gelegentlichen Seitenhiebe ohnehin erst mit reiferem Alter. Mir sackte zum Beispiel die Kinnlade auf den Tisch, als während eines Schalterrätsels der dritte Hebel plötzlich abbrach und ich die zugehörige Maschine irgendwie anders in Gang bringen musste. Einmal schaffte es Rufus, ein mühsam gelöstes Puzzle zu zerdeppern. In solchen Momenten, wenn die Konventionen auf den Kopf gestellt werden, macht der Knobelpart am meisten Spaß. Ansonsten hebt sich vor allem die Story erfrischend vom Einheits-Heldenepos ab, wie sie andere Genres so gerne bemühen.
Jeder Sozialwissenschaftler würde allein beim Ausgangsszenario von Deponia Schnappatmung kriegen und irgendwas von Konsumgesellschaft, metaphorischen Müllhalden und Eskapismus schwadronieren. Ganz abwegig wäre das nicht. Das Spiel handelt nämlich von dem gleichnamigen Müllplaneten, der von einer elitären Oberschicht namens Elysianer beim Umzug in ihre fliegenden Städte zurückgelassen wurde. Die restliche Bevölkerung überlebt als Schrott-sammelnde Improvisationskünstler. Euer Abenteuer beginnt im dreckigen, aber beschaulichen Dorf Kuvaq.
In einer solchen Gemeinschaft als chaotischer Nichtsnutz, Messie, Faulpelz und Träumer abgestempelt zu werden, ist eine Leistung für sich. Dem Antihelden Rufus gelingt das Kunststück spielend durch seine missglückten Versuche, die Müllhalde hinter sich zu lassen und ins vermeintliche Paradies der Elysianer abzuhauen. Nachdem seine bisherigen Fluchtpläne katastrophal scheiterten, haust der Depp von Deponia (Ta-Tusch) nun pleite und arbeitslos bei seiner nörgelnden Ex-Freundin - beirren lässt sich der Pechvogel durch die Rückschläge freilich nicht.
Also begleitet ihr ihn in den ersten Spielminuten bei seinem neuesten Fluchtversuch, an dessen Ende die hübsche Elysianerin Goal vom Himmel fällt und komatös ins Rathaus von Kuvaq gekarrt wird. Klarer Fall - Rufus müsste nur die Schönheit aus ihrem Schlummer wecken, um mit ihrer Hilfe nach Elysium zu gelangen. Was folgt, ist eine Odyssee, an deren Ende der Held nicht nur seine Sicht auf die Heimatwelt in Frage stellt, sondern auch sein angespanntes Verhältnis zu Putzutensilien. Zwei weitere Teile sind schon in Arbeit - Deponia wird eine Trilogie.
Man muss Daedalic Respekt zollen, dass sie mit den üblichen Erwartungen brechen und wirklich eine originelle Rahmenhandlung schaffen wollen. Es ist außerdem nachvollziehbar, dass der Schluss des ersten Teils einer Trilogie vieles offen lässt. Auch eine gewisse melancholisch-nachdenkliche Note tut der insgesamt witzigen Geschichte keinen Abbruch. Nur geschieht dieses ein bisschen mühsame Erzeugen eines Cliffhangers spürbar zu Lasten der Charakterentwicklung. Um es mal mit der alten Star-Wars-Trilogie zu vergleichen: Stellt euch vor, man hätte den ersten Teil des Sternenkriegs nicht gesehen und wäre erst bei "Das Imperium schlägt zurück" eingestiegen. Klar würde ich wissen wollen, wie es weitergeht. Aber ich hätte ohne den ersten Film eine weniger enge emotionale Beziehung zu den Helden aufgebaut und fände das Ende überraschend düster. Auch dem ersten Teil der Deponia-Trilogie hätte etwas mehr Beschäftigung mit seinen Protagonisten gut getan. Denn vor allem die skurrilen und schrulligen Nebencharaktere sind eine Klasse für sich.
Die Rathaus-Thekentranse Lotti, der Arzt-Polizist-Feuerwehrmann Gizmo, die kettenrauchende Ex-Freundin Toni, der Bürgermeister Lotek (trägt eine Schlafmütze und pennt in seiner Schreibtischschublade), der stichelnde Zwergen-Kumpel Wenzel, der verschrobene Bastler Doc - allein bei der Aufzählung ahnt man, wie viel Potential in den Figuren steckt. Da hätte man sich schon ein bisschen mehr Zeit mit ihnen gewünscht, zumal sie überzeugend und mit hörbarer Leidenschaft auf Deutsch vertont wurden. Allein wenn Lotti regelmäßig von ihrer Fistelstimme in einen kehlig-männlichen Biker-Bass abrutscht, kann man sich das Grinsen nicht verkneifen.
Rufus selbst wirkt im direkten Vergleich zu dieser knallbunten Truppe fast ein wenig blass. Und damit meine ich nicht den Zeichenstil. Optisch gesehen zaubert Daedalic nämlich eine sehenswerte Mischung aus Anime und Steampunk auf euren Bildschirm und so manche Zeichentrickserie im Vormittagsprogramm wäre dankbar für derartige Charaktere. Herrje, der Held trägt sogar eine Fliegerbrille - längst das Accessoire der Wahl für Computerspiel-Heroen. Trotzdem sprang ausgerechnet bei ihm der Funke nicht über.
Rufus' Sprüche sind für den ein oder anderen Lacher gut, viele Witze verpuffen aber einfach im Nirgendwo. Seine demonstrativ zur Schau gestellte Selbstbezogenheit und Faulheit sind anfangs ulkig, später wirkt das nur noch aufgesetzt. Dem Kerl fehlt ein echter Sidekick. So ein total gegensätzlicher Begleiter, an dem sich der Chaot reiben könnte und der ihm des Öfteren mal verdient eins auf den Hinterkopf dotzt. Selbst die Quasi-Heldin Goal und die bösen metallbärtigen Organons bleiben enttäuschend farblos. Vorerst. Vielleicht wird das im nächsten Teil besser.
Man muss es den Machern bei Daedalic lassen. Sie wissen, wie ein handwerklich perfektes Adventure auszusehen hat. Alte Hasen und Neueinsteiger im Adventure-Genre können getrost zugreifen, zumal der Ladenpreis von 30 Euro erfreulich moderat ist für die gebotene Unterhaltung. Die Rätsel in Deponia sind vielleicht etwas linear geraten, doch derart solide hat man schon lange nicht mehr gepuzzelt. Vor allem durch seine Geschichte und die grandiosen Figuren punktet das neue Adventure. Statt einer stereotypen Heldensaga bekommt ihr eine intelligente Geschichte erzählt, die eben nicht nur Schwarz und Weiß kennt, sondern auch Grautöne auslotet und dabei jede Menge Wortwitz versprüht. Der abrupte Schluss wird nicht jedem gefallen, aber er lässt zumindest niemanden kalt. Dabei hätten besonders die Nebenfiguren etwas mehr Aufmerksamkeit verdient, denn von ihnen hängt ab, ob mir das Schicksal des Müllplaneten zu Herzen geht oder am Allerwertesten vorbei. Für sich alleine genommen fehlt dem Titel in meinen Augen die Balance zwischen Exposition und Cliffhanger. Außerdem hätte es knackigere Rätsel am Ende gebraucht, denn die zweite Hälfte des Spiels plätschert zu zügig dem Schluss entgegen. Ich werde mir aber auf jeden Fall auch den nächsten Teil zu Gemüte führen, einfach weil ich wissen will, wie es mit Rufus, Goal und dem Rest der Müll-Mischpoke weitergeht.