Der Soundtrack zu Stellar Blade: „Man soll sich an das Spiel erinnern, wenn man die Musik hört.“
Schon das Probehören dauert Stunden!
Mehr als zehn Stunden ist er lang. Sony beziehungsweise Entwickler Shift Up haben vor einigen Wochen endlich den vollständigen Soundtrack zu ihrem Nier- und Soulslike-angehauchten Action-Adventure Stellar Blade auf den üblichen Streaming-Plattformen veröffentlicht. „Endlich“, weil ich seit der Veröffentlichung des Spiels darauf gewartet habe. Der Mini-Soundtrack mit seinen gerade mal acht Titeln war ja viel zu wenig. Jetzt sind es satte 189! Und das Warten hat sich nicht nur wegen der Länge des Albums gelohnt.
Zum einen gefällt mir die Musik nämlich nach wie vor ganz hervorragend und zum anderen bekam ich die Gelegenheit, einigen der dafür Verantwortlichen ein paar Fragen zu stellen, die mir ein paar Monate lang auf der Zunge gelegen hatten. Und so haben mir nicht nur Sound Director JooEun Hwang, sondern auch die Komponistin YoungJee Lee sowie ihr Kollege HyunMin Cho einen kleinen Einblick in die Entstehung dieses Mammutwerks gegeben, an dem freilich noch weitere Künstler beteiligt waren.
Hättet ihr zum Beispiel gewusst, dass Nier-Komponist Keiichi Okabe viel weniger mit dem Soundtrack zu tun hat, als es im Vorfeld oft hieß? Ich hatte das auch falsch verstanden, aber tatsächlich sind es hauptsächlich zwei Komponisten aus Okabes Monaca-Studio, Keito Inoue und Oliver Good, die insgesamt 14 Titel für Stellar Blade geschrieben haben.
„Stellar Blade ist von der Nier-Serie inspiriert, aber wir wollten den Stil von Nier nicht kopieren“, schreibt Sound Director Hwang deshalb. „Die Komponisten von Monaca und ich haben dasselbe Ziel verfolgt: einen einzigartigen Stil für Stellar Blade zu erschaffen, der sich klar von Nier absetzt.“
Nicht nur Nier
Was ihnen denn auch mit Bravour gelang. Trägt die Musik von Good und Inoue mit ihrem melodischem Verlauf und dem häufigen Gesang zwar eindeutig die DNS der Inspirationsquelle in sich, ist sie doch längst nicht so melodramatisch und oft von so modernen Einflüssen geprägt, wie sie in Nier nichts verloren hätten.
Das ist nämlich ein wesentliches Merkmal des Soundtracks: Viele Stücke gehen ausgesprochen rockig nach vorn, andere könnten problemlos die Hitlisten der Popmusik erobern und gelegentlich werden sie auch von elektronischen Klängen angetrieben. Ich zähle einfach mal die chartverdächtigen Everglow, Hypertube und Dawn auf. Oder nehmt fast alle Bosskämpfe als Beispiele für eher druckvollen, mitunter gar schwer metallischen Klang.
„Der Stil von Director Hwang ist es, allen Musik- und Soundeffekt-Komponisten die Möglichkeit zu geben, ihren eigenen Stil einzubringen, indem er ihren Input respektiert und dann erst entscheidet, was er daraus macht“, beschreibt Cho die Arbeit und begründet damit sicherlich auch die sehr verschiedenen musikalischen Impulse.
Alles in einer Hand
Der Posten des Sound Directors umfasste im Fall von Stellar Blade dabei tatsächlich alles, was mit Klang zu tun hat. Denn wie mir Hwang erklärt: „Das Arbeitsfeld des Sound Directors variiert von Spielestudio zu Spielestudio und von Projekt zu Projekt, da einige von ihnen Musik und Soundeffekte trennen, andere hingegen das Erstellen von Grundlagenmaterial vom Einbau desselben und dem technischen Audio-Design.“
„Im Fall von Stellar Blade“, so Hwang weiter, „ist der Sound Director für alle Aspekte des Klangs, einschließlich der Musik, Soundeffekte, Planung der Soundregie, des haptischen Feedbacks, Design des Soundsystems sowie der Richtlinien des Einfügens in die Engine verantwortlich. Es geht nicht nur um das Erstellen von Soundressourcen; es geht auch darum, wie sie klingen und sich in den Entwicklungsprozess einfügen. Bei Stellar Blade war es uns wichtig, dass wir viel kontextuelle Variation hatten sowie Möglichkeiten, das alles auf einzigartige Weise ins Spiel einzufügen.“
Hwang war also von vorn bis hinten dafür verantwortlich, wie Stellar Blade klingen würde. Aber das vielleicht nur am Rande. Mich interessieren diese Einblicke in Entstehungsprozesse immer sehr.
Ein koreanischer Kessel Buntes
Wobei es mir übrigens sehr gefällt, dass verschiedene Themen mehrfach aufgegriffen werden, um eine Entwicklung darzustellen oder emotionale Bindung zu vertiefen. Das mächtige, von Chor und sich abwechselnden Solisten getragene Elder Naytiba etwa wirkt dadurch noch stärker, als es das ohnehin schon tut. Immerhin führt Monaca-Komponist Oliver Good dort die Melodie seines Flooded Commercial Sector fort, an dessen kurzer elektronischer „Verzerrung“ im Refrain ich mich schon seit Veröffentlichung des Mini-Soundtracks gar nicht satthören kann. Lost Memories von YoungJee Lee zieht später einen ebenso wehmütigen wie befreienden Schlussstrich unter das Thema.
Überhaupt ist der komplette Soundtrack extrem vielseitig. Natürlich gibt es im Verlauf der zehn Stunden auch mal Phasen, die weniger markant den Hintergrund beschallen. Allerdings fängt sich das Album stets nach erstaunlich kurzer Zeit wieder und spielt sich mit starken Stücken zurück ins Rampenlicht. Das muss man über eine solche Dauer erst mal hinbekommen.
Um nur mal ein paar Beispiele zu nennen: In Shelter ziehen mich Klavier, Gitarre, Streicher und Gesang zu einem ruhigen Ort, an dem die Melancholie von Nier gar nicht so weit scheint. Und sollte das melodische Metall von Belial je durchs Autoradio laufen, würde es meinen Fußballen wohl mit Nachdruck gen Bodenblech schieben.
Für alle, die Stellar Blade gespielt haben, dürften außerdem jene Titel erinnerungswürdig sein, mit denen sie viel Zeit beim Erkunden des Wastelands verbracht haben. Bei deren verträumtem Gesang ist die Nähe zu Nier für mein Empfinden mit am stärksten spürbar.
Nicht zu vergessen auch die Musik eines ganz bestimmten Bosskampfs, auf die ich mit am meisten gewartet hatte. Bekanntlich werden Gefühle in audiovisuellen Medien ja zum größten Teil über die Musik transportiert und tatsächlich habe ich besagten Kampf nur wegen seiner emotionalen Schlagkraft schon mehrmals wiederholt. Jetzt kann ich seine Musik endlich jederzeit hören – und anschließend gleich noch jene Variante, die auch im Spiel recht häufig vorkommt. Deren stampfende Percussion trägt den Gesang quasi auf Flügeln in große Höhen. Ihr wisst vermutlich, wie das gemeint ist.
Und dann zeigt Cho mit May your memories live on, Forever [sic] beziehungsweise dem nach der ersten Minute in eine dunkle Leere kippenden Bass und dem ihm leise hinterherrufenden Klavier, dass er auch klassischen orchestralen Soundtrack kann.
Filmische und koreanische Klassik
Irgendwann hatte ich beim Hören unterwegs ganz profan folgenden Stichpunkt notiert: ‚Man kann irgendein Stück anmachen und es ist schön‘. Das lasse ich jetzt einfach mal so stehen. Wobei mich auch interessiert hat, welche Stücke eigentlich bei den Komponisten selbst den größten Eindruck hinterlassen haben.
Dazu sagt der eben genannte Cho selbst: „Das Thema aus Flooded Commercial Sector wird auf verschiedene Art mehrmals im Spiel verwendet. Es kommt vor allem zum Schluss hin häufig vor, wodurch man das Gefühl erhält, verschiedene Fäden miteinander zu verbinden. […] Dieses Stilmittel kennt man schon aus Klassikern und ich finde, es hinterlässt nach wie vor einen starken Eindruck.“
Seine Kollegin Lee hebt dagegen ein anderes Stück hervor: „Ich mag […] White Knight, was man hört, wenn man zum ersten Mal nach Xion kommt. Der Song fängt die Sensibilität und die einzigartige Musikalität Koreas, welche man nicht oft in Spielen zu hören bekommt, sehr überzeugend ein.“
Furioses Finale
Man könnte auch das jazzige Gwen Hair Salon (welches in der Tat ohne Genitiv auskommt) oder die wehmütige E-Gitarre in Train Graveyard nennen – und immer etwas finden, das den Soundtrack zu Stellar Blade hörenswert macht. Dabei habe ich noch gar nicht den gewaltigen Höhepunkt des Ganzen erwähnt: Lees stimmgewaltiges Democrawler.
„Stimmgewaltig“, weil es als klassische Arie beginnt; von Chor und Orchester begleitet – sowie von einem Beat, der im zweiten Teil erst richtig Fahrt aufnimmt, um sowohl den Gesang als auch die Instrumente so wuchtig vor sich her zu treiben, dass sich das in seiner ganzen Pracht aufspielende Democrawler als ausgewachsene Pop-Oper entpuppt. Und endgültig klarmacht, wie sehr Stellar Blade zwar von dem oft opernhaften Nier inspiriert ist, gleichzeitig aber seinen ganz eigenen Weg geht.
Immer da – auch nach dem Spielen
Trotzdem will ich noch eine weitere Idee hervorheben, die beide Spiele gemeinsam haben: die Tatsache, dass in praktisch jedem Augenblick Musik zu hören ist. „Musik in Videospielen untermalt heute einzelne Situationen, aber ich wollte die Sensibilität traditioneller Spielemusik vermitteln, bei der Räume und Charaktere beschrieben werden“, sagt Hwang, weil ich ihn genau darauf angesprochen habe. „Man soll sich an das Spiel erinnern, wenn man sie hört.“
Komponistin Lee macht es an dem Titel Beyond Fate genauer und schreibt, dass dieses nicht nur ihre erste Ballade war, sondern auch auf eine Weise fließen sollte, die man sonst nicht aus Videospielen kennt. Daraus sei die ikonische Melodie des Stücks entstanden. Und ich kann ihr bei dieser Einschätzung nur beipflichten. Beyond Fate gehört zu den melodiösen Eckpfeilern des Spiels.
Überhaupt erreicht der Soundtrack mit ganz viel Nachdruck das, was er laut Hwang und seinen Komponisten erreichen sollte: Es bleiben Stimmungen und Schauplätze hängen – sowie die Melodien, die man dort gehört hat. Nicht, weil sie aufdringlich sind, sondern weil sie auf ebenso vielseitige wie markante Art ein Abenteuer begleiten, in dessen Mittelpunkt erinnerungswürdige Momente stehen. Schön, dass man jetzt ganze zehn Stunden lang in diesen Erinnerungen schwelgen kann!