Detroit: Become Human - "Kontinuität ist der Horror"
Quantic Dreams' CEO über reale Bezüge des Adventures, Lernprozesse und gehaltvolle Erlebnisse.
Das war eine handfeste Überraschung. Ich hatte Quantic Dreams CEO Guillaume de Fondaumiere auf einer Games Convention in Leipzig vor gut acht Jahren bereits einmal interviewt. Damals im Messeautopilot ohne groß Nachzudenken auf Englisch. Als wir uns kürzlich zum Gespräch trafen, begrüßte er mich in lupenreinem Deutsch, mit österreichischem Akzent. Wie sich herausstellt, war de Fondaumiere als Junge nach Österreich gezogen und hat sich auch heute noch, wo er nach eigenen Angaben sein Deutsch nur noch einmal im Jahr auspackt, einen absolut flüssigen Umgangston bewahrt. Ich bin nicht ganz sicher, aber es könnte das erste Mal in elf Jahren sein, dass ich ein Interview auf Deutsch führe.
De Fondaumiere geht damit deutlich gelassener um als ich, mir fallen ein ums andere Mal englische Fragen ein, die ich im Kopf zunächst umformulieren muss. Mein Gegenüber ist jedoch geduldig - und mir unmittelbar sympathisch. De Fondaumiere ist die Sorte Mensch, die einem ein unkompliziertes Gefühl von Vertrautheit vermitteln, und das passt auch zu dem Spiel, das die Franzosen im Anlauf auf den Release im nächsten Jahr so langsam in ansteigender Frequenz präsentieren. Das hier ist Heavy Rain, von der kontextabhängigen Steuerung mit den Halb- und Viertelkreisen der Sticks, über Finger-Twister-Übungen und verzweigte Handlungsfäden bis hin zu den verschiedenen spielbaren Charakteren, die allesamt im Verlauf der Handlung sterben können.
Aber es ist auch ein Heavy Rain, das gut 200 Entwickler mit fast einer Dekade technischer Verbesserungen und vielen, vielen Lektionen unterfütterte, die man in der Zwischenzeit und im Nachgang des weniger geglückten Beyond: Two Souls lernte. Guillaume de Fondaumiere ist allerdings recht schnell mit einer Abgrenzung gegenüber dem vielbeachteten PS3-Erstling bei der Hand: "Der große Unterschied zwischen Heavy Rain und Detroit ist, dass die Handlungsfäden von Detroit je nach Entscheidung und pro Spieler sehr stark voneinander abweichen kann - und zwar von Anfang an." Ich verspüre an diesem Punkt kurz den Impuls, de Fondaumieres eigenes Spiel zu verteidigen. Immerhin konnte Heavy Rain bei allen nicht ganz fairen Ablenkungsmanövern, Anschlussschwächen und hanebüchen konstruierten Plot-Momenten vom Hollywood-Ende bis hin zum Tod aller Hauptdarsteller samt des vermissten Kindes und einem schönen Lebensabend für den Killer alle möglichen Schattierungen annehmen. Aber die Betonung liegt eben auf "von Anfang an".
Heavy Rains Problem war seinerzeit auch, dass Quantic Dream wohl nicht ganz den Mut aufbrachte, den Spieler diese Studie in Schwarzmalerei auch aufzubürden. Wollte man auch die schlimmsten Enden sehen, musste man sich schon reichlich dämlich anstellen. Mit der viel früheren Verzweigung der Handlungsfäden, auch und vor allem im Hinblick darauf, dass es bei der Androidenrevolte Detroits anders als bei der Suche nach einem vermissten Kind keinen Fail-State gibt, sondern nur andere eingeschlagene Richtungen, dürften die Erlebnisse diverser Spieler dieses Mal weiter auseinanderliegen.
Überhaupt hat Quantic Dream in den vergangenen vier Jahren seit Beyond: Two Souls erschien, viel darüber nachgedacht, auf welche Weise sie den Spieler künftig an den einzelnen Handlungsfäden zerren und zuppeln lassen wollen. Wie offensichtlich oder unmerklich will man Entscheidungen in dieser Sorte Spiel darstellen? "Das ist eine gute Frage, die uns lange beschäftigt hat", entgegnet de Fondaumiere. "In Beyond haben wir versucht, die Entscheidungen sehr organisch umzusetzen. Man hat fast nicht gemerkt, wann man eine Entscheidung traf, die sich auswirkte. Das war sehr problematisch für manche Spieler, die nicht wussten, was sie falsch oder richtig gemacht hatten oder was sie hätten anders machen können."
Mit Detroit will der Entwickler nun ein besseres Gleichgewicht finden. "Erst einmal gibt es eine viel größere Spannbreite an Möglichkeiten und zum anderen machen wir es meistens für die Spieler sehr klar, wann sie vor einer sehr grundsätzlichen Entscheidung stehen. Ich glaube, das ist wichtig, denn solche Entscheidungen will man bewusst fassen." Das bisher erbrachte User-Feedback bestätige ihn, dass man auf dem richtigen Weg sei. Dass es trotzdem nicht zu durchsichtig und absehbar wird, dafür stehen die Zeichen ganz gut. Die gezeigte Aufstandsszene, als Widerständler Marcus zwischen gewaltsamem und friedlichem Vorgehen wählte, machte es sich in ihren sehr binär erscheinenden Marschrichtungen für meinen Geschmack zwar zu einfach. Die Geiselszene, die ich spielen durfte, verlangte mit ihrem geheimen Zeitlimit im Rahmen der langsam eskalierenden Szene aber auf angenehme Art ein Auge für das Wesentliche, was ich ihr hoch anrechnete.
Ich entschied mich aktiv, die Szene gründlichst abzusuchen, in Erwartung besserer Aussichten bei der Verhandlung mit dem Geiselnehmer. Das liegt einem Videospieler einfach im Blut. Irgendwann - und zwar nach nicht gerade übertrieben langer Zeit - wurde die Situation jedoch so bedrohlich, dass mich das Spiel förmlich vor den Geiselnehmer schubste. Ob ich nun bereit war oder nicht, jetzt ging es darum, das Leben eines Mädchens zu retten. Es war ein cooler Moment, der direkt an die vielen Augenblicke erinnerte, in denen Heavy Rain unvorbereitet etwas zumindest scheinbar unfassbar Wichtiges von euch sehen wollte. Ich erinnere mich immer gerne an die Szene auf dem Polizeirevier kurz nach dem Verschwinden von Ethans zweitem Sohn, Sean, von dem Spielplatz. Meine absolute Unfähigkeit, den Beamten zu beschreiben, welche Kleidung mein eigenes Kind trug, bevor es entführt wurde, war einer der ganz großen leisen Momente eines Spiels, das von dieser Sorte viele hatte. Es hat den Anschein als hätte auch Detroit ein paar dieser Tricks auf Lager.
Es muss ein kniffliger Drahtseilakt zwischen Transparenz und gewollter beziehungsweise verschleierter Absehbarkeit sein, wenn man überlegt, was man dem Spieler aufbürden will. "Wenn es zum Beispiel um das Leben der Charaktere geht und wenn besonders brenzlige Entscheidungen getroffen werden müssen, ist es in Detroit nie nur eine Entscheidung, die zur finalen Konsequenz führt, sondern immer eine Serie", erklärt der CEO. Ein guter Vergleich wäre hier wohl das eine Quick-Time-Event auf dem Förderband, bei dem Heavy-Rain-Ermittler Norman Jayden für geschätzte 80 Prozent der Spieler sein Leben ließ. In Detroit hätte es für dieselbe Szene vermutlich eine Gelegenheit gegeben, dass der Kampf sich erst gar nicht auf dieses Förderband verlagert.
Klarheit der Entscheidungen hin oder her, die Konsequenzen sind es, bei denen eine gewisse Unabsehbarkeit immer attraktiv ist. Besonders, wenn man sich fragen muss, ob die eigenen Moralvorstellungen sich später nicht vielleicht doch noch rächen. De Fondaumiere jedenfalls verspricht viele Graustufen bei euren Wahlmöglichkeiten und will von eindeutigen Antworten auf die Fragen, die dieses Spiel stellt, nichts wissen. "Wir versuchen, den Spieler mit Entscheidungen zu konfrontieren, die wirklich fraglich sind, bei denen er überlegt, 'was würde ich tun?' Am liebsten habe ich es, wenn wir Szenen entwickeln, in denen der Spieler den Controller weglegt und wirklich drüber nachdenkt, was für ihn richtig ist. In Detroit gibt es einiger solcher Stellen."
Become Human nimmt sich als Spiel großer Themen an, Parallelen zur Sklaverei sind leicht zu ziehen und auch die sozialen Spannungen seit dem Amtsantritt von Donald Trump verleihen dem Spiel einen Kontext, der so nie da war, als vor vier Jahren die Entwicklung begann. Folglich will de Fondaumiere Detroit auch nicht als Analogie auf historische Ereignisse verstanden wissen. Mir schwante zunächst, er mache es sich damit ein wenig zu einfach, als er auf diese Frage antwortete. Schließlich schafft niemand irgendetwas in einem von Umwelteinflüssen bereinigten Vakuum. Aber: Im Nachgang sind Parallelen zu brenzligen Themen immer leicht zu ziehen. Macht man sich bewusst, dass die Entwicklung dieser Geschichte als Sci-Fi-Gedankenspiel wie so viele andere startete, ist de Fondaumieres Aussage nur logisch.
"Wir wollten mit Detroit keine spezifische historische Lage widerspiegeln." Stattdessen habe die Entwicklung mit der alten Fragestellung zur zunehmenden Automatisierung der Arbeit begonnen. Was, wenn Jobs für Menschen ersatzlos schwinden? Und was, wenn auch die Verantwortlichen dafür, die Maschinen, plötzlich empfindsam werden und ihren Platz in der Gesellschaft einfordern? So betrachtet, klingt Detroit auf einmal nach einem mehr oder weniger apolitischen Gedankenspiel, wie sie viele Science-Fiction-Autoren bereits anregten. De Fondaumiere klingt aufrichtig, wenn er zu verstehen gibt, dass ein Android manchmal eben wirklich nur ein Android ist und keine Metapher auf Zeitgeschichtliches. Es bleibt euch überlassen, ob ihr das schade findet oder gut.
De Fondaumiere jedenfalls begrüßt ausdrücklich, wenn die Öffentlichkeit diese Parallelen dennoch zieht: "Wir versuchen, gehaltvolle Geschichten zu erzählen. Selbstverständlich ist es uns wichtig, dass sich die Leute Fragen stellen und ich denke, verschiedene Menschen werden auf verschiedenen Ebenen einen persönlichen Zugang zu dieser Geschichte haben. Die Themen, die wir ansprechen, sind ziemlich universell", meint er. "Ich glaube, jeder kann dazu Stellung nehmen und sich seine eigene Meinung schaffen. Wir selbst beziehen keine moralische Stellung. Wir stellen es nur da, sagen 'das sind die Probleme, das könnte passieren' und 'wie würdet ihr reagieren?'"
In jedem Fall betont de Fondaumiere, dass das Team seit Fahrenheit viel gelernt hat. Vor allem darüber, wie man auf Feedback reagiert. "Ich glaube, wir haben gelernt, besser zuzuhören, Kritik besser aufzunehmen und das Spiel mehr mit den Spielern zusammen zu entwickeln. Unsere Spiele sind nicht online und es hat gedauert, bis wir verstanden haben, wie man Spieler in den Entwicklungsprozess mit einbezieht. Aber jetzt führen wir viele User-Tests durch, haben sehr oft Spieler im Studio zu Gast und haben von dieser kontinuierlichen Auseinandersetzung mit ihnen sehr viel gelernt." Bei aller Lernfähigkeit, die de Fondaumiere hier betont, sei es gleichzeitig aber schwierig, weiter sein eigenes Ding durchzuziehen. Besonders David Cage reagiere empfindlich auf negative Kritik. "Wir müssen sehr aufpassen, dass wir nicht ins eine oder andere Extrem kippen, nicht von unserer Vision abweichen. Erneuern und bereichern muss man sie, ja. Und das ist jedes Mal eine interessante Herausforderung."
Das stimmt wohl fast immer, wenn da Spiel selbst in einem 200-Personen-Studio noch so sehr an einem Mann hängt, wie hier an Co-CEO und Chefautor David Cage. Der hat zwar nun auch ein Team an Autoren um sich, die vor allem an der Kontinuität dieser weit verzweigten Geschichte schrauben. "Kontinuität ist der Horror", lacht de Fondaumiere. "Das sind alleine Jahre an Arbeit und wahrscheinlich das, was am Projekt am längsten dauert. Konsequent die Handlung weiterführen, darauf achten, dass alles kohärent ist, das ist wirklich schwierig."
Dass ein solches Projekt in der Spur bleibt, dafür sind bei Quantic Dream zu Beginn immer die Tech Demos verantwortlich. Wer erinnert sich nicht gerne an das "The Casting" Demo oder auch Karas erster Auftritt in etwas, das man mittlerweile als Teaser für Detroit begreifen könnte. Tatsächlich sind diese Demos aber auch und vor allem für Quantic Dreams Belegschaft selbst gemacht. "Am Anfang des Projektes hat David Cage noch kein Skript, trotzdem wollen wir unserem ganzen Team den Maßstab des Projektes vorführen", erklärt de Fondaumiere. "Das beginnt jedes Mal mit einem Prototyp. Intern haben wir noch sehr viel mehr Prototypen gemacht. Zu Heavy Rain existieren alleine drei oder vier. Alles nur, um die Messlatte zu setzen und dem Team so eine Vision zu geben, auf die es hinarbeiten kann."
Quantic Dreams Werk ist nicht unumstritten. Tonal sitzt nicht alles so felsenfest, wie man sich das wünschen würde und auch ich habe keinen Hehl daraus gemacht, dass ich es gerne sähe, wenn sich das Team mehr auf die kleinen, persönlichen Geschichten konzentrierte, die es immer wieder so gut inszeniert. Dinge wie den Vater-und-Sohn-Abschnitt in Heavy Rain, die Krankenhausszene mit der an Demenz erkrankten Frau. Oder sogar den einen Augenblick, in dem ihr den Abzug eines Revolvers drückt - oder auch nicht. Das sind die leisen, aber machtvollen Schnappschüsse, die bei mir hängenbleiben, nicht die Saw-Anleihen, die Anlehnungen an einen frühen David Fincher oder nun die weltumspannende Roboter-Revolution. Allein besagte Tech-Demos wie "The Casting" und "Kara" skizzierten schon Spiele, die ich immer noch gerne sähe. Ein Spiel über eine gescheiterte Ehe, oder eine interaktive Pinocchio-Geschichte über einen Androiden mit einem Geheimnis. Dieses Spiel steckt irgendwo noch in Quantic Dream, daran glaube ich. Und wenn sie es nur in kleinerem Rahmen umsetzen als bisher.
De Fondaumiere jedenfalls hört meine Kritik und verspricht schon für Detroit haufenweise intimer Charaktermomente. Ich habe keinen Grund, ihm nicht zu glauben, denn demonstriert, wozu sie fähig sind, haben sie Mal um Mal. Ein Weg vorbei an Detroit existiert für mich ohnehin nicht wirklich. Auch wenn ich mir manches Mal wünschen würde, Quantic Dream würde etwas anderes erzählen oder zumindest andere Worte dafür finden - als überraschende, waghalsige Erlebnisse, wie sie sonst niemand anderes macht, sind ihre Spiele an und für sich schon wertvolle Anomalien, die man nicht als selbstverständlich betrachten sollte.
Guillaume de Fondaumiere jedenfalls ist sich der Ausnahmestellung seines Studios bewusst, niemand sonst macht mit 200-köpfigen Studios derart dehnbare interaktive Geschichten unter Verwendung auch nur annähernd vergleichbarer Produktionswerte. All die Technik und den Hochglanz-Appeal sieht er aber im Dienst des Mediums an sich.
"Es gibt immer Dinge, die man im Nachhinein anders oder besser hätte machen können. Aber ich bin sehr stolz, an gehaltvollen, kulturell relevanten Spielen zu arbeiten. So viele gibt es davon nicht und ich kämpfe seit 25 Jahren dafür, dass das Kulturbewusstsein dieses Mediums größer wird", so Fondaumiere, der sich über die Konkurrenz durch Studios wie Telltale, Dontnod und Supermassive Games bestätigt sieht. "Ich liebe Spiele, die 'fun' sind, GTA, Call of Duty und Uncharted. Aber ich denke, es gibt auch noch Platz für Abenteuer, die mit einem Sinn erfüllt sind, der über bloßen Spaß hinaus geht. Ich bin stolz darauf, dass uns regelmäßig Leute schreiben, die sagen, 'das hat mein Leben', 'meine Weltanschauung verändert'. Das finde ich fantastisch."