Die Chip-Enthüllung der Xbox Series X: Ist das hier der größte Konsolenprozessor aller Zeiten?
Und was sagt uns das über die mögliche Leistung?
Microsofts schrittweise Enthüllung der Xbox Series X geht weiter: Xbox-Boss Phil Spencer liefert einen neuen Hinweis auf die technische Zusammensetzung der Konsole. Oberflächlich betrachtet mag es keine große Sache sein, dass er sein Twitter-Profilbild mit einem niedrig aufgelösten Bild des Project-Scarlett-Chips upgedatet hat. Doch wenn es Microsofts erklärtes Ziel ist, die stärkste Konsole der Next-Gen zu erschaffen, nehmen Technikinteressierte und -kommentatoren (uns eingeschlossen!) natürlich jede Gelegenheit wahr, etwas Neues über das Gerät zu erfahren. Und alles deutet darauf hin, dass es sich um den größten Konsolenprozessor handelt, den Microsoft oder Sony je veröffentlicht haben. Das stützt natürlich die extrem hohen Performance-Erwartungen.
Tatsächlich ist es nicht so einfach, aussagekräftige Messwerte aus diesem kontrollierten Microsoft-Leak zu ziehen. Das ist zum Teil sicher beabsichtigt, das Bild ist von niedriger Auflösung, ist aus einem ungünstigen Winkel aufgenommen und durch einen seltsamen Linseneffekt verzerrt. Die Vermessung des Chips ist für unsere Zwecke aber wichtig. Es ist davon auszugehen, dass der Scarlett-Prozessor mithilfe derselben 7nm-Lithografie gefertigt wurde wie AMDs neueste Zen-2- und Navi-Chips - es sind die zentralen Bausteine der kommenden neuen Konsolen. Im Direktvergleich mit AMD-Teilen, die auf denselben Produktionstechniken basieren, erhalten wir einen Eindruck von den Dimensionen des Grafik-Cores.
Die Größe des Chips liefert uns Hinweise auf seine architektonische Zusammensetzung, aber nicht nur das: Der Platz auf einem Mikroprozessor selbst ist alles andere als günstig. Jeder Quadratmillimeter steigert die Produktionskosten und muss daher sinnig genutzt werden. Ja, Vergleiche mit anderen AMD-Komponenten könnten aufschlussreich sein, aber die Chip-Abmessungen neben die früherer Konsolengenerationen zu halten, vermittelt außerdem einen Eindruck davon, wie viel Microsoft in diese neue Konsole investiert - und damit, wie viel er in der Herstellung kostet und was wir Kunden letzten Endes möglicherweise dafür bezahlen müssen.
Nach Phil Spencers erstem Tweet hat David Prien, Senior Director of Xbox Hardware bei Microsoft, ein weiteres Bild des neuen Prozessors hochgeladen. Da Spencer selbst bereits eine voll funktionstüchtige Series X besitzt, handelt es sich bei den für die Beispielbilder genutzten Chips vermutlich um Ausschussexemplare aus der Produktion - Bauteile, die aufgrund von Defekten die Tests der Qualitätssicherung nicht bestanden. Die sind zwar nicht gerade gut dazu zu gebrauchen, eine Konsole zu betreiben, wohl aber dafür, die Diskussionen über die Next-Gen-Geräte anzuheizen. Wiederum: Auch das neue Foto wurde aus angewinkelter Perspektive geschossen, aber das hält Leute wie uns nicht davon ab, den Chip zu vermessen.
Unsere früheren Versuche - auf Basis des E3-2019-Trailers zu Project Scarlett - deuteten auf einen Prozessor mit einer Grundfläche von 380mm2 hin. Verglichen mit der Xbox One X ist das ein Zuwachs von 5,8 Prozent, während man vom 16nm- auf den 7nm-Prozess umstieg. Das bedeutet, dass mehr Transistoren auf dem Die wohnen und es trotzdem mehr Platz gibt. Kürzliche Leaks und Microsoft-Kommentare (ganz zu schweigen von der schieren Größe des Gehäuses der Series X) deuten aber auf ein absolutes Biest von einer Konsole hin, mit gemunkelten 12 Teraflops Rechenleistung. Leaks von AMD-Testergebnissen legen außerdem nahe, dass der Chip der Series X über 56 Compute Units verfügt. Dieser Leak ist natürlich keine abschließende Bestätigung, lässt aber ebenfalls einen Chip bislang ungesehener Größe vermuten.
All das sorgte dafür, dass diverse Online-Fachleute die Bilder des Scarlett-Chips mit beinahe forensischer Beflissenheit sezierten. Mit Photoshops Linsenverzerrungs- und Perspektivkorrektur-Filtern kann man die Microsoft-Bilder in normale Daraufsicht-Bilder verwandeln und schon fallen die Messungen leichter. Was allerdings fehlt, ist ein Vergleichsgegenstand, der es ermöglicht, den korrekten Maßstab zu ermitteln.
Anfangs dachte ich, der Scarlett-Prozessor wäre auf dem gleichen 50mm-Quadrat verbaut wie die Scorpio-Engine der Xbox One X. Nachdem der neue Chip aber entsprechend skaliert war, wurde schnell klar, dass die Grundfläche des Prozessors damit kleiner wäre als die der Xbox One X, nur etwa 90 Prozent so groß. Ein solcher Chip würde vermutlich nicht die ausladenden Dimensionen des Series-X-Gehäuses erfordern. Ich musste also umdenken.
Auf dem Chip sind jedoch auch andere Echtwelt-Gegenstücke zu sehen. Die der Oberfläche ringsum den Prozessor montierten Teile sind in der Regel Standardgrößen und in diesem Fall scheinen sie die gleichen Abmessungen zu haben wie die der Xbox One X. Ausgehend davon hat Wccftech eine mehr als einleuchtende Größenschätzung erbracht, die einen Die von etwa 401mm2 ergeben würde. Das wäre 11,7 Prozent größer als in der One X und bei Weitem der größte Konsolenprozessor aller Zeiten - zumindest nach meinem Kenntnisstand.
Natürlich ist nichts davon wirklich sicher. Grundsätzlich ergeben Messungen auf Basis suboptimaler Fotos, die durch ungezählte Photoshop-Filter gejagt wurden, keine wissenschaftlich genauen Werte. Das könnte erklären, warum einige andere Kommentatoren den Abstand zwischen den Komponenten an der Oberfläche als Basis für ihre Messungen nutzten. Ich persönlich entschied mich für einen Hybrid-Ansatz, der sowohl Fläche als auch Komponentengröße berücksichtigt. Ich skalierte das Bild, bis die Komponenten des Scarlett-Prozessors in allen Ecken des Bildes deckungsgleich mit denen des One-X-Chips waren, und ermittelte so 405mm2, also nur ein kleines Bisschen mehr als die Wccftech-Schätzung und beinahe 13 Prozent größer als die Scorpio-Engine. Eine faszinierende Analyse des Reddit-Users _rogame, basierend auf dem späteren, deutlich besseren Foto von David Prien, ergab vergleichbare 407mm2.
Die nächste Frage liegt auf der Hand: Trägt dieses Ergebnis irgendetwas zu den Leaks bei, die wir bisher sahen - widerlegen sie vielleicht sogar etwas? Die grundsätzlichen 7nm-Bausteine Zen 2 und Navi sind uns bekannt und es gibt diverse Beispiele, mit denen wir arbeiten können. Die Radeon 5700XT verfügt über 40 Compute Units und einer Reihe Die-integrierter Features, die wahrscheinlich ihren Weg auch auf die Konsolen finden werden. Und die AMD Navi 10 GPU hier nimmt 250mm2 Platz in Anspruch. Ein Octo-Core Zen-2-CPU-Setup samt "Kleber" und mit reduziertem L3-Cache im Vergleich zu den Desktop-Äquivalenten wäre vermutlich 65mm2 groß. Kombiniert man diese beiden zentralen Elemente, erhält man einen Prozessor in vergleichbarer Größe wie die PS4 Pro, die auf einen Chip von 325mm2 setzt, der auf dem älteren 16nm-Fertigungsprozes basiert. Die PlayStation 4 hatte einen 348mm 348mm2 bei 28nm.
Prozessorgröße | Fertigungsprozess | Compute Units/TFLOPs | CPU-Architektur | |
---|---|---|---|---|
Xbox Series X | zirka 405mm2 (unbestätigt) | 7nm | 56/12TF (unbestätigt) | Zen 2 |
Xbox One X | 359mm2 | 16nmFF | 40/6TF | Jaguar |
PlayStation 4 Pro | 325mm2 | 16nmFF | 36/4.2TF | Jaguar |
PlayStation 4 'Slim' | 208mm2 | 16nmFF | 18/1.84TF | Jaguar |
PlayStation 4 | 348mm2 | 28nm | 18/1.84TF | Jaguar |
Xbox One S | 240mm2 | 16nmFF | 12/1.4TF | Jaguar |
Xbox One | 363mm2 | 28nm | 12/1.31TF | Octo-Core Jaguar |
Angenommen, die Messung von über 400mm2 stimmt, wäre das eine Menge Extra-Platz - mit Leichtigkeit genug, um dem großen Zuwachs an Shadern aus dem jüngsten AMD-Leak ein Zuhause zu geben. Man sollte zudem bedenken, Microsoft bestätigte bereits, dass die Series X über Hardware-basierte Features verfügt, die existierende AMD-Navi-Karten noch nicht haben. Raytracing und VRS-Unterstützung zum Beispiel - und die dürften ebenfalls Auswirkungen auf die Größe des Scarlett-Prozessors haben.
Dann wiederum kann man nicht oft genug sagen, dass wir hier eine Menge Schlussfolgerungen aus Bildern ziehen, die auf unnatürliche Weise verzerrt und verfremdet sind. Doch obwohl ich bisweilen an meinen eigenen Photoshop-Skills zweifelte, scheinen die Ergebnisse und die Methodologie des Reddit-Posts durchaus plausibel. Die genauen Abmessungen des Chips werden höchstwahrscheinlich bei der kompletten Enthüllung des Gerätes offen gelegt, das war schon bei der One X der Fall. Aber im Hier und Jetzt hat Microsoft erreicht, was es wollte: Die Vorfreude steigt weiter und die Series X sieht noch stärker aus als zuvor bereits gedacht.
Vielleicht bin ich auch ein wenig zynisch hier, aber ich würde sagen, kontrollierte Veröffentlichungen dieser Art seitens Microsoft sind genau darauf ausgelegt, diese Sorte Diskussionen auszulösen - und ich schätze es funktioniert! Meine Schlussfolgerungen aus den neuen Bildern bestätigen jedenfalls nur meinen ersten Eindruck von der Konsole. Die traditionellen Limitationen, denen das Design von Konsolen bisher unterlag, werden mit der nächsten Generation neu definiert. Microsoft will eine leistungsstärkere Box, also ist der Prozessor das größte und in seiner Transistorendichte ambitionierteste Design, das ihnen möglich war - und das erfordert wiederum ein größeres Gehäuse und Innovationen in Bezug darauf, wie man mit der entstehenden Hitze umgeht. Gleichzeitig wirft dieser kompromisslose Ansatz weiter die Frage auf, wie teuer die Herstellung des Geräts sein wird und was Microsoft meint, dafür verlangen zu können. Während wir auf die endgültige Enthüllung der genauen Spezifikationen der Series X wohl nicht mehr allzu lange warten müssen, dürften wir den Preis der Konsole vermutlich nicht vor der E3 erfahren.