Die Eurogamer-Textwerkstatt: Anatomie eines Spieletests
Theorie, Praxis und der Spielraum dazwischen
Objektiv-Deskriptiv vs. NGJ
Gedanken zu den verschiedenen Philosophien, an einen Videospieltest heranzugehen.
Jeder Schreiber hat seinen eigenen Stil, so wie auch jede Seite und jedes Heft ihren eigenen Stil verfolgt. Dieser muss nicht immer von vornherein geprägt sein, aber mit der Zeit kann man Grundschemen herauslesen und wie Spiele sich in Genres verteilen lassen, kann man auch Seiten den Stilen zuordnen.
Meine eigenen Beobachtungen sagen, dass man es auf zwei Extreme herunterbrechen kann, zwischen denen dann alle Abstufungen möglich sind. Der erste Ansatz hatte seine Extremauslegung in den späten 80ern und frühen 90ern. Kann sich hier noch einer an die Power Play erinnern? Wenn nicht, auch egal, der Aufbau aller ihrer Tests bis in die 90er rein war identisch. Es gab einen Hauptabschnitt, in dem das Spiel erklärt wurde und zwar bis in die Details der Story, der Steuerung, des Ablaufes, der Levelzahl, der Extras und so weiter. Wer diesen Abschnitt hinter sich hatte, wusste ziemlich genau, was er technisch kauft, hatte aber keine Einschätzung, ob dies gut oder schlecht sei. Dieser Teil steckte in einem kleinen Meinungskasten, normalerweise wesentlich kürzer gefasst und mit ein paar Eindrücken zu den Einzelaspekten und zwei Sätzen zum Gesamteindruck. Dazu die Wertung. Wenn man Labels verteilen möchte, würde ich es die reinste Form des objektiv-deskriptiven Tests nennen.
Es ist die "natürliche" Art, etwas zu testen. Man nennt dabei alle Merkmale des Produktes und versieht es mit einer wertenden Gesamteinschätzung. Dieser Ansatz unterscheidet sich kaum von Produkttests technischer Geräte aller Art oder anderer physischer Objekte. Auch Anwendersoftware wird häufig so getestet. Bei einem Spiel funktioniert dieser extreme objektiv-deskriptive Ansatz nur bedingt, da Spiele als Unterhaltungsmedium einen anderen Zweck erfüllen sollen als ein Kleinwagen oder eine Textverarbeitung. Wie Musik, Film oder Roman zielen sie auf emotionale Reaktionen beim Spieler ab. Die Summe der beschriebenen Bestandteile sagt oft wenig über diesen Effekt aus, auch wenn ein erfahrener Spieler so zumindest einschätzen kann, ob ihm das Spiel generell gefallen könnte. Er kann herauslesen, dass es ein Shooter ist und welche Elemente ihm daran liegen könnten.
Dieser Ansatz verfolgt die Theorie, dem Leser die Werkzeuge, sprich Informationen, an die Hand zu geben, damit er selbst eine Wertung treffen kann. Dies soll weitestgehend unabhängig von zwangsläufig subjektiven Einschätzung des Testers geschehen, der dann bei seiner Meinung ebenfalls möglichst sachlich und frei persönlicher Geschmäcker auf "messbare" Mängel und Qualitäten hinweist. Der Leser soll so unbeeinflusst zu einem eigenen Schluss kommen.
Wie gesagt, dies ist die extreme Auslegung dieser Herangehensweise und wird in solcher Konsequenz eigentlich von niemandem praktiziert. Der Gegenpol ist der subjektiv-emotionale Test, ein Stil, der häufig in Verbindung mit dem New Gaming Journalism (NGJ) genannt wird. Diese Schule ist weit jünger - daher auch "New" - und wurde von Kieron Gillen, damals Redakteur für eurogamer.net, in seinem 2004er "Manifest" des NGJ angestoßen. Erfunden hat er es nicht - und er ist sicher der Letzte, der das behaupten würde -, sondern es ist in erster Linie eine Ausformulierung des durch die Möglichkeiten des Internet aufkommenden Trends, neue, teilweise sehr radikale Wege auszuloten, einen Text zu einem Produkt zu schreiben.
Das Manifest ist die Beobachtung, dass es neben dem bisherigen Weg, eine Einkaufberatung zu geben und Featurelisten abzuarbeiten, Möglichkeiten gibt, anders über Spiele zu sprechen. Diese setzen stark auf persönliche Eindrücke und Prägungen, sogar kleine Anekdoten, sie schaffen Kontext zu gesellschaftlichen Richtungen und Phänomen, ordnen das Spiel zugunsten einem neuen Inhalt in der Aussage des Textes unter. Man kann den Text am Ende als eine Art Reisebericht begreifen, nur dass es eine imaginäre Reise innerhalb eines Spiels oder sogar nur einer einzelnen Situation darin ist.
Der wahrscheinlich berühmteste Text, den auch Gillen als Inspiration nennt, ist bis heute "Bow Nigger", der eindrucksvoll aus einem einzelnen Kampf in Jedi Knights Multiplayer einen Bogen in die theoretischen Betrachtungen zur Wahrnehmung anderer Menschen in einem anonymen Medium bis hin zu Gedanken über den Rassismus in unserer Zeit schlägt. Und den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, nur halt ohne den Star-Wars-Kitsch innerhalb eines Star-Wars-Spiels.
Es ist ein unbedingt lesenswerter Text, der zeigt, was sich mit dem Thema Videospiel auf journalistischer Basis anfangen lässt. Der eine Nähe zwischen realen, gesellschaftlichen Strömungen und dem davon häufig genug losgelösten Medium Videospiel schafft und dies noch dazu mit einer eigene Leichtigkeit und gleichzeitig Dramatik bewältigt. Nur über das Siel selbst erfährt man in dieser "reinen" Interpretation des NGJ praktisch nichts. Nicht, ob es gut oder schlecht ist, wie die Grafik aussieht, wie viele Level man für sein Geld bekommt. Nur, dass jemand im Multiplayer eine sehr intensive Erfahrung hatte.