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Die größten Überraschungen dieser Generation - Alex

Teufelsgeheul, zweifach verdrehte Planeten und grandios gescheiterte Experimente.

Die größten Überraschungen dieser Generation - Alex

Die vielleicht am einfachsten zusammenstellende Liste unserer Generationenrückschau bringt euch die Spiele und Entwicklungen, die mich aus dem toten Winkel mit ungebremster Wucht erwischten. Gerade in Sachen XBLA und dem Erwachsenwerden der Indies hat ja Martin gestern schon einiges erzählt. Aber in acht Jahren ist viel passiert, und so ist die Schnittmenge der Dinge, die einen unvermittelt traf, auch so noch erstaunlich gering. Ein wunderbares Zeugnis der kreativen Kraft und Vielfalt dieses Mediums.


Insanely Twisted Shadow Planet

Es ist leicht, kurz und ging 2011 leider ziemlich baden. Und doch war es mein Lieblingsspiel dieses Summer of Arcade. Und das will schon was heißen, wenn in derselben Aktion ein Bastion feilgeboten wird. Dieser Metroidvania-Klon zitiert visuell die Science-Fiction-Filme der 60er Jahre, Patapon und Scherenschnitttheater. Als kleines, wackelndes und zirpendes UFO entschlüsselt ihr mit verschiedenen Gadgets herrlich animiert nach und nach die Unterwelt eines lebendig gewordenen Monsterplaneten. Die Handhabung mit zwei Sticks - einer für die Bewegung, der andere für die Waffen und Werkzeuge - ist bei unermüdlichen 60 Bildern ein Traum, die Aufgabenstellungen und Physikpuzzles zu entschlüsseln hat beinahe Spielzeugcharakter.

Vielleicht ist auch das der Grund, warum viele es als als zu seicht empfanden. Ich dagegen habe das lebhafte, motivierende und herrlich organisch vor sich hinfließende Spielchen für immer in mein Herz geschlossen.

Flott, fantasievoll und charmant. Insanely Twisted Shadow Planet sah man so wenig kommen, dass einige gar nicht merkten, dass es existierte.

Dragon's Dogma

Da ist mir Björn mit seinen Überraschungen ein wenig zuvorgekommen. Dennoch will ich es mir nicht nehmen lassen, Capcoms Open-World-Drachenjagd unter den großen unverhofften Freuden zu vermerken. Gerade technisch der Titel sicher nicht das geworden, von dem man erwartete, dass es weltweit 10 Millionen Einheiten absetzen würde. Es ist inkonsequent in Sachen Weltendesign, man muss ein Faible für lange Fußmärsche haben und schon einiges an Initiative reinstecken, denn das Spiel kommt euch kein Stück entgegen. Sieht man aber darüber hinweg, findet man einen hoch-atmosphärischen RPG-Brawler mit einem interessanten und auf alle zu meisternden Klassen gesehen durchaus facettenreichen Kampfsystem. Es ist ein Spiel, das sich in dieser Mischung wie nichts anderes anfühlt. Es besticht durch Bewegungsfreiheit, seine natürlich wirkende Buff-Logik, das überraschend tiefe Crafting-System und vielfältige Ausrüstungsfunktionen. Es zwingt einen regelmäßig in die Knie, nur um einen dann mit dem nächsten Sieg über einen haushohen Titanen wieder auf ein Podest zu stellen.

"Selten ging ein Action-Rollenspiel weder in Sachen Prügel noch beim RPG-Anteil so wenig Kompromisse ein."

Dreißig Stunden drin in der Kampagne, und man findet immer noch was Neues heraus …

Im Verlauf der viele, viele Stunden dauernden Hauptquest erlebt man so einige WTF-Momente, die einen regelrecht aus den Bärenfellstiefeln fegen. Wer es noch nicht hat, sollte sich unbedingt Dark Arisen holen, denn die Erweiterung beinhaltet zum schmalen Preis auch das Hauptspiel. Selten ging ein Action-Rollenspiel weder in Sachen Prügel noch beim RPG-Anteil so wenig Kompromisse ein.


ilomilo

Wenn man alleine schon im Titelbildschirm eine ganze Weile hängen bleibt, will das schon was heißen. Zuerst findet man nur die Musik toll, dann merkt man, dass das Rauf-und-runter des Cursors einzelne Töne auf der Solo-Gitarre zupft und wenn man dann nach gut einer Viertelstunde Steuerkreuz-Jam-Session, mit der keiner gerechnet hatte, dann auch noch ein Achievement ("Musiker") aufploppt, ist es um einen geschehen.

Doch die Musik ist nicht das Einzige, was an diesem Kleinod aus Schweden einfach hinreißend ist. Freischwebende und drehbare Labyrinthe auf verschiedenste Weisen zu lösen, um die beiden Knuddel-Filzebälle Ilo und Milo wieder zusammenzuführen, ist hammerhart, dabei immer zuckersüß aber niemals für nicht schwindelfreie Spieler. Und nebenher bekommt man die bittersüße Liebesgeschichte zweier Menschen, Milton und Ilona, erzählt. Eines der schönsten Spiele auf XBLA.

"Wenn man alleine schon im Titelbildschirm eine ganze Weile hängen bleibt, will das schon was heißen."

Der Jingle und die dazu passende Choreografie, die auf dieses Treffen hin passieren, gehören zu dem schönsten Stück Animation dieser Generation.

Singularity

Dieses düstere Zeitreise-Spiel, in dem sich BioShock und Wolfenstein auf halbem Weg in einer unwahrscheinlichen, aber leidenschaftlich trashigen Umarmung treffen, hätte deutlich mehr Erfolg verdient gehabt. Leider übersah Activision, was es an Raven's vielleicht bestem Spiel hatte, und versäumte es daher, die Qualitäten von Singularity passend zu kommunizieren. Umso überraschter war ich, was für ein ausgereiftes und interessantes Spiel es dann letzten Endes war. Die Augenblicke, in dem man merkt, dass man mit der Rettung eines Mannes in der Vergangenheit selbst die zukünftige Katastrophe zu verantworten hatte, war ein ordentlicher Knalleffekt und eine erfrischend andere Art, den Spieler voll ins Geschehen zu ziehen.


Hotline: Miami

Mein Gott, ist das ein kranker S*****. Extreme Gewalt unterlegt von Klängen, die jemand Kluges mal als "Musik, zu der man Drogen verkauft" beschrieb, war schon immer eine gute Kombination. Aber so seltsam und - in Ermangelung eines zivileren Wortes - 'bekackt' habe ich mich diese Generation kein zweites Mal gefühlt. Karneval der Kulturen in Berlin ist für mich mittlerweile eine gewaltige No-Go-Zone, denn wann immer ich Tiermasken sehe, krieg' ich schon wieder dieses komische Zucken in den Handgelenken ...

"Mein Gott, ist das ein kranker S*****."

Das ätzendste Spiel der letzten Jahre. Und das ist als Kompliment gemeint.

Alone in the Dark

Das ist jetzt nicht ganz einfach, aber wie sich einige vielleicht noch erinnern, waren Martin und ich damals trotz aller Probleme sehr angetan von Aloen in the Dark. Heute ist es schwierig zu spielen, ein tollpatschiges Konvolut vieler kluger Gedanken, die nicht immer in die gleiche Richtung gingen. Und doch stecken viele wahnsinnig unverbrauchte, unvorhergesehene Momente und Mechaniken in diesem physikverliebten Adventure, aus denen andere Studios mehrere einzelne Spiele gemacht hätten. Die finalen Rätsel im Dungeon unterm Central Park, die Entdeckung die man daraufhin macht und das Ende, das eine vortreffliche Steilvorlage für einen Nachfolger in den freien Raum schoss, der jetzt wohl niemals genutzt wird - an all das erinnere ich mich gerne. Es ist ein Spiel, über das man viel Schlechtes sagen kann, aber die Häme, mit der einige Leute darüber herzogen, hatte es sicher nicht verdient. Es ist in vielerlei Hinsicht böse auf die Nase gefallen. Aber mir ist ein Spiel, das an seinen Ambitionen zugrunde geht, allemal lieber als eines, das nicht weiß, wie man das Wort schreibt.


I Am Alive

Noch so ein kaputtes Kleinod von einem Spiel. Spielerisch unausgereift und technisch schwach wurde I Am Alive trotz der turbulenten Entwicklungsgeschichte in meinen Augen doch noch zu einem wichtigen Spiel in dieser Generation. Die Aussichten sind düster, Überleben in einer Welt, in der nicht ein Tier, nicht ein Blatt Grün mehr existiert, eine Worthülse ohne Bedeutung. Mit klugem Einsatz von Ausdauer machte I Am Alive als eines der wenigen Spiele mit Free-Climbing-Mechaniken das Klettern sogar tatsächlich spannend: Erreicht man die rettende Kante noch, bevor sich die Spielfigur nicht mehr halten kann und abstürzt?

I Am Alive macht als eines der wenigen Spiele mit Free-Climbing-Mechaniken das Klettern sogar tatsächlich spannend."

Man spürt den Aschefilm fast auf der Haut.

Dazu kommt der unerbittlich böse Ton, der sich an mehr als einer Ecke an Cormack McCarthys brillanten Roman The Road anlehnt und in seinen besten Momenten echt und ehrlich deprimiert. Lebst du noch, oder existierst du nur? Auf diese Frage gibt es vor dem Hintergrund keine Antwort. I Am Alive weiß das nur zu gut. Irgendwie passend, dass es endet, wie es endet.

DMC: Devil May Cry

Auch ich war nach der Ankündigung darauf eingestellt, die Verwestlichung Dantes letzten Endes zu verteufeln. Und dann habe ich es gespielt. Es dauerte nicht lange, bis klar war: Wer sich "Fan" nennt und es diesem Spiel trotzdem an jeder Ecke schwer macht, der hat es nicht anders verdient, wenn Capcom der Serie auf ewig 'Adieu' sagt. Dieses Reboot von DMC mag nicht das tiefste Kampfsystem aller Dante-Games haben und nicht so flamboyant-japanisch daherkommen, aber es ist trotzdem das rundeste, ausgewogenste Spiel der Reihe.

Wenn ihr ehrlich seid, liebt ihr es doch auch!

Fantastisches Level- und Weltendesign trifft sich mit eingängigen Mechaniken und packenden, spektakulären Kämpfen. Wenn Pixar irgendwann mal einen Actionfilm für Ältere macht, werden dessen Highlight-Szenen wohl auch kaum besser choreografiert sein, als diese Bosse hier. Nach DMC 4 schrieb ich im Test von Gof od War 3 irgendwas von "Dante May Cry". Die Situation hat sich nach Ninja Theory's blendendem Arbeitsnachweis mittlerweile ins Gegenteil verkehrt.


Papo & Yo

Auch wenn es von vorneherein unmissverständlich kommuniziert wurde und das Spiel seine Metapher offenherzig vor sich herträgt, überraschte letzten Endes doch, wie berührend und endgültig Vander Caballero in Papo & Yo mit der Misshandlung durch seinen alkoholkranken Vater abschloss. Es hat nicht immer Spaß gemacht, weil der Titel durch die Steuerung, die Kamera und das ewige Gejagtwerden vom bipolaren Monster hier und da zum Geduldspiel mutierte. Wer aber jemals mit dem Verlust eines Elternteils konfrontiert war, den wird der letzte Level emotional auf eine harte Probe stellen. Festhalten, durchhalten und dann doch loslassen müssen. Alles in Spielform - unterlegt von dem vielleicht besten Stück Musik dieser Generation. Es ist ein alter Hut, dass Spiele häufig als Katharsis funktionieren, doch dieses hier bringt es auf den Punkt wie kein anderes. Ich freue mich auf alles, was Minority in Zukunft auf die Beine stellt.

"Festhalten, durchhalten und dann doch loslassen müssen - unterlegt von dem vielleicht besten Stück Musik dieser Generation."

Spiele als Ausdrucksform - selten beziehen sie so klar Position wie in Papo & Yo.

Super Mario Galaxy

Nun gut, dass ein Super Mario Spiel verteufelt gut ist, ist alles andere al seine Überraschung. Mich hat allerdings vollkommen auf dem falschen Fuß erwischt, wie Nintendo die etablierte Formel so neu erfand, dass jede Welt aufs Neue eine echte Entdeckungsreise war. In Super Mario Galaxy geht der Klempner so ausgeruht und frisch ans Werk wie nie und hätte ich keine Wii gehabt, ich hätte mir hierfür eine geholt. Auch wenn man es dieser Tage kaum mehr glauben mag, ist doch gerade Mario alle Jahre wieder der Inbegriff der Erneuerung. Dass dazu weder Reboots noch ein neues Entwicklungsstudio vonnöten sind, sagt viel über das gewaltige Talent und die explosive Kreativität aus, das noch immer in Nintendos Tokyo EAD Studio zu Werke geht.

Und wenn man denkt, man hätte schon alles gesehen ... kommt man auf den nächsten Planeten.

Die Demokratisierung der Spieleszene

Zu guter Letzt noch etwas, das mit keinem einzelnen Spiel zu tun hat, und dennoch die vielleicht umwälzendste Entwicklung der vergangenen Jahre war: Die Demokratisierung der Spieleszene. Nie lag in den Händen der Spieler so viel Macht wie heute. Alleine durch Mundpropaganda werden vermeintlich kleine Spiele nachhaltig Teil des täglichen Dialogs. Diskussionen zu entschieden auf den Hardcore ausgelegten Titeln wie Demon's / Dark Souls, Fez oder Braid übernehmen zeitweise komplette Messageboards, anfangs lustige, später nervige Memes entstehen und über kurz oder lang sind die betreffenden Spiele auf einmal veritable Hits, die Signalwirkung haben. Die Souls-Titel haben mit einem Handstreich das komplette Genre der Roguelikes wiederbelebt, besonders harte Zusatzschwierigkeitsgrade haben auf einmal wieder Konjunktur und clevere Plattform-Puzzler sind plötzlich wieder en vogue.

Durchschnittlich geschätzte 3,8 versteckte Botschaften pro Bildschirm - das ist Fez.

Es ist die soziale Komponente, die ungebremst über das Netz diesseits der 2000er hinwegschwappte und mehr Macht in die Hände derjenigen legte, für die die Spiele letzten Endes gemacht werden. Dieser Kultur des Weitersagens ist es zu verdanken, dass Kickstarter und andere Crowdfunding-Plattformen mittlerweile eine vollkommen legitime Plattform sind, angeblich unprofitable Genres wiederzubeleben. Es ist ein Trend, der in voller Blüte steht, die Früchte ernten wir auf PC schon jetzt, in der kommenden Generation dann auf den neuen Konsolen, die bereits fleißig um die Indies balzen. Die Großen werden weiterhin ihre wundervoll verschwenderischen Blockbuster bauen - und das ist gut so. Aber hier und da werden sich auch etablierte Studios dieses kreativen Influx' von unten nicht erwehren können - und sei es nur, weil deren Erfolg auch ein Gradmesser dafür ist, welche Ideen den Markt - das seid auch und vor allem ihr - gerade umtreiben. Das werden spannende sechs bis acht Jahre. Ich freue mich drauf!