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Disintegration - Test: Kein zweites Halo

Ein Jahr länger und es wäre vielleicht was geworden.

Eine gute Idee, allzu zahm und formulaisch umgesetzt. Ein waffenstarrendes Hoverbike muss doch eigentlich irgendwie aufregender gehen.

Wer den Namen Marcus Lehto kennt, denkt unweigerlich an Halo. Jahrelang war er bei Bungie einer der federführenden Kreativen an der Shooter-Reihe um den Master Chief. Mit V1 Interactive macht er nun sein eigenes Ding, mit einem kleinen 30-köpfigen Team, und das hat auf dem Weg nach draußen sichtlich eine gute Portion DNS des alten Studios beibehalten. Sci-Fi, schwebende Kampfgeräte, gut gemischte Gegnergruppen, die sich vor gottverlassenen Naturpanoramen bekriegen - all das kommt einem sichtlich bekannt vor.

Disintegration ist allerdings an einem deutlich taktischeren Ablauf gelegen, denn während ihr in einem schwebenden Gravcycle nicht nur Waffenfeuer, sondern auch simple Befehle für bis zu vier folgsame Roboter mit menschlichen Gehirnen aufs Schlachtfeld regnen lasst, kommt hier und da ein wenig Echtzeitstrategie-Feeling auf. Leider wirkt das Spiel von vorne bis hinten wie eine Machbarkeitsstudie, die eigentlich noch ein Stück des Weges bis zum fertigen Produkt vor sich gehabt hätte. Doch der Reihe nach.

Manchmal macht es 'klick'! Einige der Kämpfe machen Spaß und einer Übermacht Herr zu werden ist durchaus unterhaltsam.

"Disintegration" bezieht sich auf den Vorgang der Integration, bei dem die Menschen ihr Bewusstsein in einen Roboter übertragen. Natürlich lief einiges dabei schief, einige der Maschinen bekamen rote Augen, wurden also böse, und nun ist von den echten Menschen nicht mehr viel übrig. Der Spieler schlüpft in den stählernen Korpus von Romer Shoal, Gravcycle-Pilot, der zusammen mit dem Widerstand gegen die bösen Maschinen einen Trupp ins Gefecht führt.

Der Ablauf ist zu Felde erfreulich einfach gehalten: Eure Untergebenen folgen Romer autonom recht zuverlässig, greifen von selbst an oder konzentrieren auf Knopfdruck das Feuer auf einen bestimmten Feind. Sie manipulieren auf Bodenlevel Anlagen oder hacken Computer und man hat sie im Allgemeinen gut im Griff. Romer selbst verfügt je nach Gravcycle über eine Hauptwaffe und eine Sekundärfunktion, die nicht immer zerstörerischer Natur ist. Auch Kuppeln heilender Naniten oder Heilung verschießende Projektile sind im Angebot. Auch jeder eurer Kumpanen verfügt über genau eine Sekundärfähigkeit und die unter Berücksichtigung der Cooldowns taktisch klug auf dem Schlachtfeld wuselnder Roboter zu verteilen, ist neben dem Schießen eurer eigenen Waffen eure zentrale Aufgabe.

Anlagen bedienen oder in Schrotthaufen nach einförmigem Loot suchen, das machen eure Leute für euch. Wäre ja noch schöner.

Granaten, die Gegner betäuben, Energiekuppeln, die Feinde darunter betäuben, Raketenschwärme und Area-of-Effect-Bodenstampfer sind im Angebot und nicht bahnbrechend einfallsreich, aber effektiv. Auf eurer Mission lauft ihr von Checkpunkt zu Checkpunkt, durchbrecht Barrikaden der Gegnerfraktion der Rayonne, rettet Leute aus der Gefangenschaft oder sucht einfach ein gewisses MacGuffin. Der grobe Ablauf unterscheidet sich selten. Hier und da will der Weg frei gemacht oder ein Jammer lahmgelegt werden, der verhindert, dass ihr eure Waffen abfeuert. Dann müsst ihr euch auf eure Kollegen verlassen. Aber ansonsten ähneln sich die Abläufe sehr. Ich habe mich auf dem normalen Schwierigkeitsgrad sehr darauf eingeschossen, das Feuer auf den jeweils stärksten Feind zu konzentrieren. Die meiste Zeit reichte mir das. In haarigeren Szenen erinnerte ich mich dann an die Skills meiner Untergebenen und hatte dadurch dann wieder verhältnismäßig leichtes Spiel.

Es fühlt sich nicht übel an, wie all das hier funktioniert, vor allem, weil die Basics tatsächlich stimmen. Ich habe schon deutlich ärgerlichere Spiele gespielt. Aber es ist auch alles ein wenig handzahm, vor allem, weil das Gravcycle so eine behäbige, kraftlose und ungefährliche Angelegenheit ist. Mehr als 20 Meter geht es hier nicht in die Höhe, bevor ihr die unsichtbare Decke küsst, Kollisionen und Abstürze sind nichts, worüber ihr euch sorgen machen müsstet und spektakuläre Flugmanöver abseits eines Dash hinter Deckung sind nicht angedacht. Es ist ein schwebender, in Luftpolsterfolie eingepackter Panzer und manchmal würde ich mir im Sinne der Dynamik wünschen, er hätte mehr Biss und Rasanz.

Manche Missionen haben aber auch seltsames Pacing. Etwa wenn man sich einfach in ein Gebäude wie dieses zurückzieht, um sich in aller Ruhe zu heilen oder lange Wege zurück zur letzten Nanitenstation auf sich nimmt, um nicht zu sterben und zu einem der wenigen Checkpunkte zurückversetzt zu werden.

Nach ein paar Missionen denkt man noch, dass man auf diesen Basics gut aufbauen könnte und fragt sich, inwieweit sich das Konzept noch entwickelt. Aber es bleibt dabei, denn das Progressionssystem ist sträflich unterentwickelt. Nach der dritten (oder so) Mission sagt mir im Hub-Bereich der Mechaniker meiner Truppe, dass ich sein Vertrauen verdient hätte und nun gerne seine Werkstatt nutzen dürfte. Es bleibt ein Spruch, denn Änderungen kann ich bis zum Schluss an keinem der Gravcycles vornehmen. Ich dachte bis drei Viertel in die vielleicht zehnstündige Kampagne hinein tatsächlich, dass ich irgendein Terminal, irgendein Menü oder irgendeine andere Funktion übersehen hätte, so seltsam wirkt es.

Was mir bleibt? Nun, ich darf einen kurzen und nicht gerade breiten Skilltree für jede Figur in meinem Squad emporkraxeln, dessen jeweils fünf Werte auch noch streng gedeckelt sind und damit jede Spezialisierung unmöglich machen. Es bleibt eine Einbahnstraße, denn man muss seine Upgrade-Punkte zwangsweise gleichmäßig verteilen. Das sieht dann so aus:

Spannend, oder?

Doch es kommt noch besser: Man darf weder das Loadout des Gravcycle noch die Teammitglieder wählen, die man mitnehmen möchte, sondern muss die Waffen und Charaktere dulden, die das Spiel für die kommende Mission vorsieht. Das ging so weit, dass ich einen gigantischen Tank-Charakter befreite und ihn in dem darauffolgenden Einsatz nicht ausprobieren durfte. Wer denkt sich sowas aus?

Überhaupt ist alles, was zwischen der passablen, aber etwas eintönigen Action passiert, irgendwie seltsam. Man wird in seinem Hub abgesetzt, in dem statische NPCs und Crewmitglieder herumstehen und darauf warten, dass ihr sie auf ihre Sprechblasen abklappert. Dabei fallen immer zwei bis drei kurze Story- oder Charakterdialoge ab und drei Texte, die die Challenges für die jeweils nächste Mission darstellen, für die man einen weiteren Upgrade-Punkt auf dem langweiligen Skilltree bekommt. Gegen Ende sind bei den Herausforderungen so brillante Einfälle dabei, wie das Besiegen eines bestimmten Gegners - nur dass man an diesem Feind in der Mission so oder so nicht vorbeikommt. Sollten Challenges nicht eigentlich erfordern, dass man seine Spielweise ein wenig anpasst oder besondere Leistungen vollbringt?

V1 ist ein kleines Team - und an einigen Stellen ist ihnen sichtlich das Budget ausgegangen.

Gut, weil man wegen der flachen Progression diesen Nebenzielen eh nicht besonders intensiv oder interessiert nachgeht, ist es jetzt auch nicht weiter wild. Dass man die Dinger aber abholen muss - wozu man wohlgemerkt immerhin im etwas fußlahmen Feierabend-Jog einen recht gewaltigen Hangar durchlaufen muss, bis man mit jedem gesprochen hat -, damit sie aktiviert werden, ist Beschäftigungstherapie unterster Kanone.

Die Kampagne an sich schickt den Spieler immerhin durch nett unterschiedliche Umgebungen. Das hilft schon mal, auch wenn die Story nie wirklich interessiert, was sicher auch daran liegt, dass V1 Interactive ihre Fiktion an ein paar sehr bequeme Charakterkarikaturen und beliebige "Resistance"-Plots hängt. Brauchen wir 2020 wirklich noch fingerschnippende "Sassy Black Lady"-Roboter Stereotypen mit Creolen in den Ohren? Am Ende huscht man angetrieben von einem passablen Shooter mit leicht taktischen Management-Elementen halbwegs unterhalten durch die an Höhepunkten arme Kampagne und hat sie alsbald wieder vergessen.

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Und dann ist da noch der Online-Modus, den wir im Vorfeld eine handvoll Matches ausprobieren konnten. Die Kill-confirmed-Variante könnte ich mir durchaus eine Weile gefallen lassen, auch Domination spielt sich unter Ausnutzung der speziellen Disintegration-Mechaniken durchaus nett. Es ist die Sorte Multiplayer, die an den AA-Spielen der 00er Jahre immer ganz gut gefielen, aber nie so wirklich zwingend waren. Aktuell gibt es mit Valorant, Apex Legends, Hunt, Rainbow Six: Siege und Warzone gerade andere Titel, die unterm Strich noch einmal packender sind.

Disintegration wirkt ein wenig wie aus der Zeit gefallen. Und das meine ich erstmal nicht negativ. Ich erinnere mich gerne an eher die experimentellen, Gimmick-orientierten und oft genug Vehikel-getriebenen Spiele der späten Neunziger bis mittleren 00er Jahre. Die G-Polices, die Forsakens, die Red Dogs, die Battle Engine Aquilas oder an Experimente wie C&C Renegade, die munter Genres miteinander verschmolzen, bevor die Branche mit Macht einen Paradigmenwechsel in Richtung des klassischen First-Person-Shooters anordnete. Aber Disintegration bleibt von vorne bis hinten hinter seinen Möglichkeiten zurück, als hätte man nach drei Vierteln der Entwicklungszeit Fünfe gerade sein lassen und das Spiel einfach auf den Markt gebracht. Es macht, was es soll - hier und da ist das sogar Spaß. Das ändert nichts daran, dass es bei den Leuten, die sich Ende des Jahres noch daran erinnern werden, auf der Liste der Enttäuschungen 2020 landen dürfte.


Entwickler/Publisher: V1 Interactive/Private Division - Erscheint für: PC, PS4, Xbox One - Preis: ca. 50 Euro - Erscheint am: 16. Juni - Sprache: Deutsch - Mikrotransaktionen: nein - Getestete Version: PC

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