Dustborn im Test: Woke, warmherzig - und hoffentlich wegweisend
Sprachgewaltig.
Bevor es gleich um Dustborn geht, lasst mich mit einem Augenblick in dem Erzählspiel Draugen beginnen, als ich mich dort mit der Begleiterin meines Alter Ego unterhielt und dabei kurz in der Umgebung umsah. Macht man in einem Videospiel schließlich so. Und da ermahnt sie mich doch glatt, dass ich ihr bitte in die Augen schauen soll, während sie mit mir redet!
Warum ich das erwähne? Weil ich solche unerwartet „echten“ Momente liebe. Und Dustborn hat gleich mehrere davon. Denn auch wenn es kein Erzählspiel ist, entstand es genau wie Draugen im norwegischen Studio Red Thread Games, das sich die Entwicklung moderner Adventures auf die Fahnen geschrieben hat.
Im Fall von Dustborn stehen dabei Dialoge im Vordergrund, mit denen Red Thread auf der einen Seite der Tradition von The Walking Dead oder Life Is Strange folgt, diese Gespräche aber auf der anderen Seite um einiges dynamischer und lebendiger inszeniert, als man das bisher kannte.
Es geht vor allem um viele kleine Dinge, die diesen Unterschied ausmachen. Da man sich in den Unterhaltungen etwa frei umsehen darf, kann man manchmal mitten in der Unterhaltung etwas ansprechen, das man in der Ferne entdeckt. Oder es stehen gar nicht alle Multiple-Choice-Optionen von Beginn an zur Verfügung, da manche erst hinzukommen, wenn die andere Person bei dem entsprechenden Punkt angekommen ist. So lange sollte man sie also vielleicht reden lassen. Allerdings verschwinden gelegentlich einige Antwortmöglichkeiten, falls man den Moment verstreichen lässt, in dem sie angebracht wären…
Keine Angst: Man verpasst nichts! Es gibt in Dustborn nur einfach kein „perfektes“ Videospiel-Gespräch und schon gar keine Liste an Antworten, die man abarbeiten muss. Es geht vielmehr darum, sich so in den jeweiligen Moment einzubringen, wie man das gerade tun will. Um anschließend zu sehen, was sich daraus ergibt. Man trifft daher auch selten diese eine wegweisende Entscheidung. Man wird stattdessen erleben, wie sich die Personen um Protagonistin Pax irgendwann ändern – je nachdem, wie man sich über einen längeren Zeitraum ihnen gegenüber verhält.
Drei Ausprägungen kann eine solche Beziehung dabei annehmen und je nachdem, welche gerade aktiv ist, so reagiert die Person auf Pax und in verschiedenen Situationen. Das äußert sich zum großen Teil nur in Nuancen. Weil man zusätzlich aber eine recht hohe Entscheidungsfreiheit bei der Art und Weise hat, wie man Probleme lösen will, können sich erstaunlich viele Szenen auf sehr unterschiedliche Art entwickeln oder mitunter auch gar nicht oder gerade deshalb erst stattfinden. Ich war jedenfalls überrascht davon, wie oft in der Zusammenfassung eines Kapitels zu sehen ist, dass manche Spieler diesen oder jenen Moment gar nicht erlebt haben. Und wie hoch die Anzahl der veränderlichen Momente ist.
Ob Pax sich noch mal an ihre ehemalige Flamme heranmacht oder lieber auf Abstand bleibt, gehört ebenso dazu wie die Fragen, ob man jeden Abend den Abwaschen machen will, einen neuen Song lernen und einen gefundenen Gegenstand unbedingt als Geschenk anbieten will oder das vielleicht lieber lässt. Nicht alle Geschenke sind nämlich wirklich passend; auch darüber sollte man also nachdenken, anstatt einfach alles, das man möglicherweise tun kann, unbedingt abzuhaken.
Das geschieht alles völlig nahtlos und weniger offensichtlich als in einem Spiel etwa von David Cage. Dustborn reibt einem die Entscheidungen nicht ins Gesicht. Red Thread ist vielmehr darum bemüht, die Feinheiten menschlicher Kommunikation so natürlich wie möglich erscheinen zu lassen. Weshalb sich einige der Charaktere auch sehr lange miteinander unterhalten, ohne dass man mit Pax an sie herantritt. Selbstverständlich unterbrechen sie ihre Unterhaltung aber, sobald sie das tut und sind im „schlimmsten“ Fall sogar genervt davon.
Dann hat man immerhin oft die Möglichkeit, sich auch schnell wieder auszuklinken, weil man sicherlich spürt, dass zwei Turteltäubchen lieber alleingelassen werden wollen. Ist die Unterbrechung vorbei, fahren sie nach einem kurzen „Wo war ich gerade? Ach, ja!“ dann wieder dort fort, wo sie unterbrochen wurden. Noch einmal: Es geht nicht darum, jede Zeile abzuklappern! Zwanghafte Videospiel-Vervollständiger sind hier fehl am Platz. Es geht darum, sich seinem Gefühl nach sinnvoll einzubringen.
Nicht zuletzt mag ich es übrigens, dass ein kurzer Klick auf eine Antwort zunächst Pax' Intention verrät, die sie damit verbindent. Erst ein längerer Klick würde die Antwort dann aktivieren. Das ist eine der vielen Kleinigkeiten, um die sich Red Thread Gedanken gemacht hat, denn es verhindert falsche Antworten, wie es sie in fast allen Spielen mit Mulitple-Choice-Dialogen leider recht häufig gibt.
Und vielleicht sollte ich so langsam mal darauf eingehen, worum es erzählerisch eigentlich geht. Wer ist Pax eigentlich und warum ist sie mit ihrer Band, den Dustborn, in einem gelben Tourbus quer durch die Vereinigten Staaten unterwegs? Wobei… Verzeihung: Es sind gar nicht die Vereinigten Staaten. Es ist die Republik Amerika, bestehend aus sechs verschiedenen Hoheitsgebieten.
Genauer gesagt schreibt Dustborn das Jahr 2030 einer alternativen Parallelwelt, in der statt John F. Kennedy dessen Freu ermordet wurde, weshalb er später Marylin Monroe geheiratet hat. Der für das Spiel wichtigere Unterschied ist aber ein Ereignis zur Jahrtausendwende, bei dem auf dem gesamten Kontinent ein seltsames Rauschen zu hören war und nachdem einige Menschen feststellten, dass sie mit der Kraft ihrer Worte ihre Umwelt beeinflussen konnten.
So kann Pax Anderen ihren Willen aufzwingen, während ihre beste Freundin Sai zwar keine Berge, aber ganze Kleinwagen versetzt. Pax‘ Schwester Ziggy kann sich hingegen in ihre Moleküle auflösen und Eli die Geschichten, die er erzählt, visuell wahr werden lassen. Das Thema des Spiels, die Macht der Worte, bezieht sich also nicht nur das interaktive Inszenieren der Dialoge und andere Elemente, sondern auch auf die Geschichte. Ich mag diese Art kreativer Konsequenz.
Auf jeden Fall hat man deshalb manchmal die Wahl, ob und welche Fähigkeit Pax einsetzen soll, um Gesprächspartner zu manipulieren. Womöglich gelingt es ihr dadurch, feindlich gesinnte Polizisten zum Wegschauen zu bewegen. Denn dass ihre Band durch die Sich Uneinigen Staaten tourt, hat nicht nur mit Musik zu tun, sondern auch damit, dass sie wertvolle Informationen an die gegenüberliegende Küste schmuggeln will. Und leider auch damit, dass sie als Personen mit diesen besonderen Fähigkeiten verfolgt werden.
Das ist ohnehin interessant: Dustborn spielt in einer dystopischen Zukunft, stellt aber eine Gruppe Menschen in den Vordergrund, die trotz aller Schwierigkeiten mit viel positiver Energie nach vorne blicken. Visuell wird das von zahlreichen Menüs und Einblendungen getragen, die wie ein ebenso schicker wie ausnehmend farbenfroher Comic gestaltet sind. Erzählerisch wird es dort klar, wo etliche Identitäten und Orientierungen zusammenkommen, ohne dass die Normalität dieser Tatsache je hinterfragt wird. Selbst ein Roboter ist von der Partie und gerade dabei, sich als Person zu finden.
Falls ihr mit einem derart progressivem Weltbild nichts anfangen könnt: kein Thema! Nur ist Dustborn in seinen Werten eben so woke wie kein anderes Spiel – ohne in irgendeiner Form belehrend zu sein. Und persönlich fühle ich mich mit seinem toleranten Optimismus ausgesprochen wohl.
Wobei ich durchaus anmerken will, dass der utopische Roadtrip nicht durchgehend hochklassig ist. So gelungen die vielseitige Kommunikation auch ist, so starr wirken die Charaktere doch in ihren Animationen und so plakativ werden zum Glück nicht alle, aber doch einige der Konflikte aufgelöst. Ausgerechnet die Spannungen zwischen Pax und Ziggy werden zum Beispiel mehr (z)erklärt, als dass man über kleine Blicke oder zwischen den Zeilen versteckte Anmerkungen ein Gefühl dafür bekommt, was zwischen den Schwestern geschieht.
Abgesehen davon bin ich mehrmals auf kleine Skriptfehler gestoßen. Wenn die Ansprache einer Reihe Polizisten vor einem Kampf etwa nicht abgebrochen wird, weil man sie nicht bis zum Ende anhören will, dann ist das spätestens dann ulkig, wenn die noch reden, nachdem sie längst geschlagen sind. So sehr mir Dustborn in seinen Ambitionen und auch in dem, was es tatsächlich erreicht, gefällt: Man merkt ihm gleichzeitig klar an, auf welche Aspekte das Studio die begrenzten Ressourcen konzentriert hat.
Damit vielleicht kein falscher Eindruck entsteht, will ich außerdem darauf hinweisen, dass die Unterhaltungen freilich auch hier nicht so komplett frei sind, wie sie es in der Realität wären. Man ist ja nach wie vor an die Optionen gebunden, die vom Spiel vorgegeben sind. Nur sind das eben in unterschiedlichen Situationen ganz verschiedene und grundsätzlich mehr beziehungsweise nicht immer so starr vorhersehbare, wie man das aus anderen Spielen kennt.
Wie gesagt: Grundsätzlich ähnelt Dustborn seinen geistigen Vorgängern wie The Walking Dead oder Life Is Strange sehr deutlich – auch in der Art, wie man den aktuellen Schauplatz erkundet. Wobei man auch dort mehr Möglichkeiten hat als in den genannten Abenteuern. Immerhin löst man dann so etwas wie kleine Rätsel, um den Bus wieder flottzumachen oder anderes zu erledigen.
Gut, richtige Rätsel sind das auch hier nicht. Allerdings hat Pax oft mehrere Möglichkeiten ein Problem zu beseitigen, was oft bedeutet, dass sie einen ihrer Begleiter um Hilfe bitten muss. Und fast immer ist Sai dabei eine einfache Option, weil sie mit ihrer Kraft Schlösser aufbrechen, Türen einrennen und andere Hindernisse aus dem Weg räumen kann.
Dustborn ist sowohl in der regulären Fassung digital als auch als Deluxe Edition im Handel erhältlich. Der reguläre Preis beträgt dabei knapp 30 Euro, während die erweiterte Fassung mit knapp 40 Euro zu Buche schlägt.
- Deluxe Edition bei Amazon
- Steam
- PlayStation Store
- Xbox Store
- Lebendig inszenierte Dialoge, in die man auf verschiedene Art eingreifen kann…
- Langfristiges Entwickeln der Beziehungen, das sich auf viele Kleinigkeiten auswirkt
- Warmherzige und weltoffene Geschichte um Identität, Rassismus und Beziehungen vor dem Hintergrund einer dystopischen Gesellschaft
- Comichafter Stil in zahlreichen Einblendungen und Menüs
- Unterhaltsame Kämpfe mit ausbaubaren Fähigkeiten und Rhythmus-Minispiel
- … von denen einige recht plakativ geschrieben sind
- Animationen und Filmszenen wirken vergleichsweise starr
- Kleine Skriptfehler, wie das Fortsetzen einer Diskussion, die bis nach dem Kampf andauert
Der Kniff ist aber: Gerade Sai ist sehr sensibel und will nicht nur als Dampfwalze bekannt sein. Nun könnte man das ignorieren und sie trotzdem rufen. Nur wird ihre Beziehung zu Pax dann bald eine andere sein, als wenn man Sai in Ruhe lässt und ihr später zudem ein Ohr leiht, anstatt sie mit Nachdruck an die angespannte Situation zu erinnern, in der sich die Band befindet. Auch beim Lösen der Rätsel stehen somit die Menschen und ihre Beziehungen zueinander im Vordergrund.
Weniger tiefsinnige Überlegungen stellt man dagegen bei den Auftritten an, die die Band an manchen Abenden hat. Dann absolviert man ein kurzes Rhythmusspiel und hat zuvor sogar die Wahl, welchen der Songs man spielen will, die man zuvor eventuell einstudiert hat. Das ist eine spielerisch harmlose, aber durchaus gelungene Abwechslung.
Noch mehr Abwechslung gibt es in Form von Kämpfen, die sich mitunter nicht vermeiden lassen. Bei denen handelt es sich zwar um ein recht simples Aneinanderreihen von Kombo-Attacken mit gelegentlichen Reaktionsspielen für besonders starke Angriffe, doch auch dort nutzen Pax und die Anderen ihre Stimmen, indem sie die Feinde gegeneinander aufbringen, durch Illusionen täuschen oder sich auf andere Art mit ihren Fähigkeiten Vorteile verschaffen. Als starke Action würde ich das nicht bezeichnen. Spaß haben mir die Prügeleien aber allemal gemacht, zumal man Pax‘ Baseballschläger schrittweise verbessern kann, wenn man beim aufmerksamen Erkunden die dafür notwendigen Ressourcen findet.
Dustborn im Test – Fazit
So sehr Dustborn an ähnliche Spiele erinnert, so stark baut es die Idee der dialoglastigen Inszenierung also aus und ich hoffe, dass sich andere Titel ein Beispiel daran nehmen werden. Die gelegentliche Action sowie das Rhythmusspiel sind dabei „nur“ gelungene Ergänzungen des Roadtrips – im Vordergrund stehen Unterhaltungen, in die man auf vielseitige Art eingreifen kann und in denen es nicht darum geht, ein perfektes Ergebnis zu erzielen. Wichtig ist vielmehr die Art und Weise, wie man vor allem auf die Gefühle der Gesprächspartner reagiert. Dass sich dadurch deren Gemütslage und sogar ihre Beziehung zu Protagonistin Pax ändern kann und dass sich viele Szenen auf sehr unterschiedliche Art entwickeln können, spiegelt die Vielseitigkeit der Dialoge. Schade, dass einige Konflikte etwas zu plakativ abgehandelt werden. Alles in allem habe ich mich in diesem modernen Adventure aber sowohl erzählerisch als auch spielerisch verdammt wohl gefühlt!
Dustborn | |
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