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Ein Videospiel als Workout – oder: wie ich meinen inneren Rocky Balboa entfesselte

Ich schreibe den Artikel, sobald ich meine Arme wieder über die Schreibtischkante heben kann ...

Ich will nicht sagen, ich wäre rund geworden über die Jahre. Aber mit dem "Alter" hat sich ein Verhalten eingeschlichen, bei dem man auf Rückenprobleme eher mit dem Kauf eines besseren Bürostuhls reagiert, als mit einem angepassten Workout (das ich, um es anzupassen, ohnehin erstmal wieder aufnehmen müsste). Das viele Sitzen in diesem Job, dank erstem Kind weniger Zeit für alles und schon purzeln die Pfunde - aber nicht wie ihr denkt: Meine drahtigen 67 Kilo auf 175 Zentimetern Länge "purzeln" von den einst Basketball-gestählten Schulter- und Rückenmuskeln als "Wohlstandspolster" in Richtung Gürtellinie.

Aber ich würde lügen, wenn ich behauptete, ich hätte die Disziplin oder den Ehrgeiz, was dagegen zu tun und mich deshalb mit "The Thrill of the Fight" beschäftigt. Nein, ich spiele jetzt schon seit einer Woche täglich fast eine Stunde die Box-Simulation auf meiner Oculus Rift, weil ich einfach simulierten Boxsport liebe und lange auf die perfekte Abbildung der "Sweet Science" gewartet habe. Denn so sehr bisher auch viele Games in dieser Richtung - Fight Night unter anderem - eine Menge Spaß machten, mit dem echten Sport hatten sie wenig zu tun. Die massiven Schweißausbrüche und der lähmende Muskelkater sind nur ein angenehmer Nebeneffekt und zusätzliche Motivation.

Das war ich nicht, der sah schon vorher so aus!

Wo fange ich bloß an? Nun, vielleicht einfach damit, nochmal zu betonen, wie schwer meine Arme und wie knallhart versteift mein Rücken die ersten Tage hindurch war - und wie schweißüberströmt ich schon nach 15 Minuten hiermit bin. Und das, obwohl ich in der beneidenswerten Situation bin, dass mein Körper all die Jahre der Faulheit hindurch eine erstaunliche Grund-Fitness gehalten hat. Natürlich kann Boxen auch in VR nie wirklich komplett realistisch sein, immerhin schattenboxt man hier. Ihr spürt nie wirklich den Widerstand, wenn eure Fäuste mit eurem unglückseligen Ziel kollidieren und werdet niemals selbst benommen, wenn ihr am anderen Ende einer guten Geraden steht. Aber darum geht es hier nicht.

Die Abläufe - Fäuste oben halten, Kopf aus der Schlagbahn bewegen, auf Angriffsmuster des Gegners reagieren und Lücken ausnutzen - sind so irrsinnig nah an der Realität, dass mittlerweile echte Kampfsportler The Thrill of the Fight - der Titel ist eine nette Anspielung an den dritten Rocky-Streifen - im Oculus Store als Workout empfehlen. Roomscale sollte es aber schon sein, denn Teleportieren oder das stufenweise Drehen, wie andere VR-Titel ihre Fortbewegung regeln, sind hier nicht vorgesehen. Ihr umkreist euren Gegner selbst und allein das erzeugt Spannung, bis ihr merkt, dass das Kabel so langsam auf Spannung ist und ihr im Sinne eurer Grafikkarte vielleicht einen Halbschritt zurückgeht. Kabelloses VR kann nicht früh genug kommen.

Das Schadensmodell wirkt aktuell noch, als sei es lediglich kosmetischer Natur. Daran dürfte Fitz noch arbeiten.

Das Spiel, das Solo-Entwickler Ian Fitz komplett im Alleingang stemmt, bringt auch nette Trainingsmöglichkeiten abseits des Rings mit. Sandsack, Speedbag und Konsorten liefern nützliche Telemetrie die euch dabei hilft, eure Entwicklung im Blick zu halten: Binnen einer Woche konnte ich durch verbesserte Technik meiner rechten Geraden die Schlagkraft um 500 Newton steigern und auch das Tempo des Punches steigerte sich um einen guten Meter pro Sekunde. Keine Ahnung, wie wissenschaftlich korrekt diese Messwerte sind. Aber die Relation der Ergebnisse zueinander blieb die Woche hindurch konsistent steigend.

Selbst in meinen Jab (die schnelle Linke, die den Gegner auf Distanz hält) kann ich nach dem Training der letzten Woche und ein paar erläuternden Boxtechnik-Videos auf Youtube mittlerweile deutlich mehr Stärke legen.

Die Kirsche auf der Torte sind jedoch die Kämpfe gegen immer stärkere Gegner, für die man sich gerne brav an den Trainingsgeräten aufwärmt. Nachdem ich zwei Tage lang an dem "Reverend" scheiterte und mich beim dritten Mal nur wegen eines ärgerlichen Knockdowns in der letzten Runde unentschieden von ihm trennte, obwohl ich die ersten zwei Runden deutlich dominiert hatte, streckte er am Tag darauf in unserer dritten Begegnung nach Punkten die Waffen. Das war ein irre erbaulicher Moment und ein Beleg dafür, dass ich nicht nur besser in einem Computerspiel wurde, meine Schläge trafen härter und zielsicherer. Sehr befriedigend. Aktuell macht mir "die Spinne" zu schaffen. In einem genialen Kniff stellt euch Fitz immer grundlegend unterschiedliche Boxer in den Weg - und die Spinne ist gut und gerne einen ganzen Kopf größer als ich und ist entsprechend schwieriger zu treffen und hält mich auf Distanz.

Der Unterschied zwischen der Spinne und mir aktuell: Nach einem Kampf bekommt er die Arme noch nach oben. Meine hängen zitternd an den Seiten runter.

Mir imponiert vor allem, wie ehrlich dieses Spiel ist. An Spektakel ist es nicht interessiert, was man daran sehen kann, dass mir in der kompletten Woche zwei Knockdowns gelangen. Großzügiger budgetierte Konkurrenten wie Creed: Rise to Glory wollen jeden Fight zur Sensation machen und setzen Minispiel-Elemente und Konditionsmechaniken ein, über deren Abwesenheit bei TTotF ich ausdrücklich froh bin: Ich bin es, dessen Puste ausgeht und dessen Arme schwer werden - meine Fäuste fliegen nur langsamer, wenn meine Arme schwer werden, nicht die einer virtuellen Figur mit einem zweiten Satz Charakterwerte zusätzlich zu meinen eigenen. Nein, dieser Ein-Mann-Produktion gelingt es besser, mich überzeugender in einen virtuellen Boxring zu transportieren, auch wenn die Optik deutlich schmuckloser ist.


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Ich sehe jedenfalls noch kein Ende, weil mir diese authentische, ungeschönte Feedbackschleife so gut gefällt. Auf dem normalen Schwierigkeitsgrad dominiere ich die meisten Kämpfe mittlerweile, und merke, dass ich länger einen hohen Druck fahren und harte Punches schlagen kann. Ich finde häufiger die Lücke und werde nicht oft getroffen. Aber der Power Puncher, der sie reihenweise auf die Matte legt, bin ich nicht. Noch nicht. Meine beiden Knockdowns gelangen mir in den letzten beiden Tagen - eine schöne Bestätigung, dass ich besser werde, in dem, was ich tue und meine Fäuste schneller und exakter dort landen, wo es wehtut. Schade ist aktuell noch, dass die Runden ausschließlich nach angerichtetem Schaden gewertet werden und nicht nach Aktivität und Trefferquote. Das ist das einzige Zugeständnis ans Videospiel, denn im Sinne der Balance schlägt die KI auf normal deutlich seltener, dafür härter zu als ein durchschnittlicher Spieler.

Wer hart schlagen will, muss hart schlagen. Eine bewundernswert einfache Faustregel (HA!)

Kurzum: Lacht nur, aber das hier ist auf absehbare Zeit mein bevorzugtes Workout, bis die Knockouts reihenweise folgen und der nächst höhere Schwierigkeitsgrad dafür sorgt, dass ich wieder härter an meiner Verteidigung arbeiten muss. Es gibt in VR eine Menge Alternativen in Sachen Boxen, aber nichts - nicht einmal die reale Partie Basketball, die ich letztens auf dem Straßenplatz um die Ecke mit ein paar anderen Leuten daddelte - brachte mich so ins Schwitzen wie das hier. Beeindruckend.


Entwickler/Publisher: Ian Fitz Erscheint für: Oculus Rift/HTC Vive - Geplante Veröffentlichung: Early Access erhältlich - Angespielt auf Plattform: Oculus Rift

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Alexander Bohn-Elias Avatar
Alexander Bohn-Elias: Alex schreibt seit über 20 Jahren über Spiele und war von Beginn an bei Eurogamer.de dabei. Er mag Highsmith-Romane, seinen Amiga 1200 und Tier-Dokus ohne Vögel.
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