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Erstkontakt - System Shock 2

Kann man ein 14 Jahre altes Spiel immer noch als Meisterwerk bezeichnen, wenn man es zuvor nie gespielt hat?

Manchmal ist es mir schon ein bisschen peinlich, wenn sich alle über die großen PC-Klassiker der späten 90er unterhalten und ich absolut nichts beisteuern kann. Natürlich kenne ich die wichtigen Namen und kann Informationen aus Artikeln, Videos oder Wikipedia rezitieren. Wirkliche Wissenslücken habe ich in dem Fall nicht. Doch über eigene Erfahrungen sprechen? Sagen, warum der Titel für mich wichtig oder herausragend ist? Nein, da musste ich bisher immer abblocken und die anderen reden lassen.

Dabei habe ich die Spiele damals nicht absichtlich in den Regalen stehen lassen. Ich wusste einfach nichts von ihnen. Immerhin benutzte ich einen PC, der mich mit seiner geringen Rechenleistung eher in den Wahnsinn trieb, und konzentrierte mich ausschließlich auf Konsolen. Jahre verstrichen und erst seit dem Aufblühen von Steam sowie anderen Online-Anbietern habe ich den PC für mich wiedererkannt. Also warum nicht ein paar freie Nachmittage nutzen, um verpasste Erlebnisse nachzuholen?

Party like it's 1999

Die Veröffentlichung von System Shock 2 auf GOG.com kam da gerade recht. Als Fan von BioShock wollte ich den spirituellen Vorgänger schon immer ausprobieren und persönlich herausfinden, ob der Titel seinen Ruf als frühes Meisterwerk auch heute noch stemmen kann. Schließlich sind 14 Jahre eine verdammt lange Zeit und ich kann nur schwer einschätzen, wie sehr sich manche Leute in diesem Fall von nostalgischen Gefühlen blenden lassen.

Nach der Arbeit ein bisschen abhängen ... Ok, ich geh' schon.

Von Verblendung kann man im Fall von System Shock 2 allerdings nicht reden. Als nach knapp 15 Stunden der Abspann lief, wollte ich nur noch in eine Zeitmaschine einsteigen, um mein damaliges Ich zum Spielen zu zwingen. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie sehr mich der Titel damals umgehauen hätte. Was nicht heißen soll, dass ich nicht auch heute wirklich beeindruckt war. Ganz im Gegenteil sogar. Nur spürt man beim Spielen den lästigen Zahn der Zeit.

Besonders optisch wirken die unheimlichen Korridore der Von Braun nicht mehr so gespenstisch. Es fällt schwerer, sich in die Situation hineinzuversetzen, wenn mein Schraubenschlüssel wie ein mickriger Roboterarm aussieht und jede Person im Spiel das gleiche Dreiecksgesicht trägt. System Shock 2 bewegt sich leider im grafischen Limbo der späten 90er, als 3D noch in seiner grässlichen Entwicklungsphase steckte und Beschriftungen von Gegenständen zur Identifikation nötig waren. Das kann man dem Titel zwar schwerlich ankreiden, nur fällt es für mich heute schwer, über solche Limitationen hinwegzusehen, wenn sie so deutlich meine Erfahrung beeinträchtigen.

Gleiches gilt für die Steuerung. Ich weiß nicht, wie oft ich beim Ausweichen an irgendwelchen Objekten hängen blieb oder mein Charakter vor einer Stange auf dem Boden pausierte, obwohl er zuvor noch munter große Treppenstufen bezwang. Ganz schlimm wird es bei den wenigen Sprungpassagen. Aus dem Stand springen geht schon einmal gar nicht und manchmal wollte meine Figur selbst während des Sprints lieber am Boden bleiben. An Leitern klebte er genauso gerne fest und es hatte den Anschein, er würde sie am liebsten ständig mit sich rumtragen.

Gute Geschichten altern nicht

Abgesehen davon hatte ich allerdings keine Probleme und die Handlung zog mich schnell in ihren Bann. Immerhin war es der Grund, warum mir BioShock so gut gefiel. Viel von der Faszination mit Irrational Games Unterwasser-Abenteuer ist direkt darauf zurückzuführen, dass man Aufbau, Pacing und bestimmte weitere Elemente aus System Shock 2 übernahm. Direkt nach dem Start führt euch eine Person anhand hilfreicher Anweisungen durch die von Parasiten überrannte Raumstation. Überall findet ihr dabei Audiologs, die persönliche Schicksale erzählen und euch Stück für Stück darüber aufklären, was genau passierte und wie es zur feindlichen Übernahme kam. Manche Beiträge enthalten zwar auch wichtige Informationen für eure Missionen, doch meist hört ihr euch die Notizen aus purer Neugier an. Richtig großartig sind spätere Nachrichten, bei denen ihr an der Stimme die Veränderungen der Persönlichkeit durch den Parasiten erkennt. Das füllt die Lücken besser als jeder Erzähler.

Ich weiß nicht, wie oft ich beim Ausweichen an irgendwelchen Objekten hängen blieb oder mein Charakter vor einer Stange auf dem Boden pausierte, obwohl er zuvor noch munter große Treppenstufen bezwang.

Ich kann bereits hören, wie sie meine Existenz beleidigt.

Der einzige Schandfleck liegt in der enormen Spannbreite der Sprecherqualität. Während besonders die Hauptpersonen der Geschichte großartige Monologe von sich geben, lesen andere Personen bloß ihre Zeilen vom Blatt. Da steht jemand vor seinem unmittelbaren Tod und redet so als hätte er eine Packung Valium geschluckt.

Bevor ich mich weiter der Handlung widme, packe ich an diese Stelle eine große Spoilerwarnung für jeden, der nichts davon wissen möchte. Springt in diesem Fall einfach zur nächsten Überschrift. Ich möchte nämlich über die große Auflösung in der Mitte des Spiels reden, die mir durch BioShock leider vollkommen versaut wurde. Was jedoch nicht bedeutet, dass ich die Genialität des Moments nicht zu schätzen weiß. Nachdem ihr in der ersten Hälfte den Anweisungen von Dr. Polito gefolgt seid, stellt sich bei der Ankunft in ihrem Büro heraus, dass sie längst tot ist und die künstliche Intelligenz SHODAN ihre Identität genutzt hat, um euch für ihre Zwecke einzusetzen. Während die surreale Verwandlung des Raums sowie SHODANs Projektion auf alle Wände einfach umwerfend wirkt, war ich von dem Twist nicht wirklich überrascht.

Einen Vertrauensbruch hatte ich bereits in BioShock erlebt und war deshalb wesentlich anfälliger für das seltsame Verhalten von Dr. Polito, die sich mir gegenüber immer aggressiver verhielt. Außerdem präsentiert sich SHODAN großflächig auf dem Cover des Spiels. Eine solch große Überraschung ist es also nicht mehr. Aber es liegt wohl eher an meiner bisherigen Erfahrung mit BioShock und vielleicht auch Filmen mit ähnlichen Hintergehungen.

Bin ich der Einzige, der diese Konzeptzeichnung gerne als Cover gehabt hätte?

Trotzdem stelle ich den Moment ganz klar an die Spitze des Spiels. Die Art, in der SHODAN Stück für Stück aus ihrer Rolle fällt und euch im Nachhinein ständig verspottet, bildet einen fantastischen Charakter, mit dem man als Spieler eine gezwungene Allianz eingehen muss. Man ist bloß ein kleiner Spielball und sehnt sich nach dem Moment der Rache. Und wenn dieser endlich kommt und euer Charakter auf SHODANs Bestechungsversuch mit einem locker "Nah!" reagiert, fühlt man sich beim letzten Pistolenschuss großartig. Es ist diese Motivation und die fragwürdige Moral eurer Handlungen, die System Shock 2 für mich so großartig machen.

Entscheidungszwang

Viele preisen dazu das Gameplay und eure Entscheidungsfreiheiten bei der Gestaltung des Charakters. Und obwohl ich den Reiz daran verstehe, erkenne ich, warum sie für BioShock überarbeitet wurden. Bei meinem ersten Durchgang wusste ich beispielsweise nicht, welche Auswirkungen frühe Entscheidungen haben. Mag ich den Umgang mit Psi-Kräften überhaupt? Wie stark sind die Waffen im Vergleich? Kriege ich denn dann überhaupt genug Munition? Und wie stark ist das Hacken von Objekten im Spiel vertreten? Daher bin ich bei der Auswahl meiner ersten Klassenpunkte zu Beginn ahnungslos durch die Gänge getreten und habe erst zum Ende hin gemerkt, worauf ich meine Punkte hätte verteilen sollen. Für manche ist diese Herausforderung des Ungewissen sicherlich ein zentraler Punkt ihrer Freude. Für mich dagegen entwickelte es sich eher zu notgedrungenen Experimenten.

Im Hinblick darauf wirkt der 1999 Modus in BioShock Infinite auf mich wie die perfekte Entscheidung. Lasst mich zunächst normal durch das Abenteuer stapfen, um meine Vorlieben auszutesten und kennenzulernen. Im Anschluss kann ich mir zumindest einen ungefähren Weg zurechtlegen, dem ich dann folge. In System Shock hatte ich zu Beginn Punkte in Psi-Kräfte investiert, nur um nachher festzustellen, dass es überhaupt nicht zu meiner Spielweise passt. Am Ende haben mir dann schlussendlich diese Punkte gefehlt, um starke Waffen oder Modifizierung benutzen zu können.

In System Shock hatte ich zu Beginn Punkte in Psi-Kräfte investiert, nur um nachher festzustellen, dass es überhaupt nicht zu meiner Spielweise passt.

Ich hätte ein wenig Angst vor dir, wenn du nicht so eckig wärst.

Wo wir gerade bei den Waffen sind. Hat man so viel in die Produktion der Von Braun investiert, dass nachher kein Geld mehr für ordentliche Waffen übrig blieb und man sich billige Imitationen kaufen musste? Keine zehn Feinde vernichtet und schon muss das Drecksding repariert werden. Ein starker Fokus auf Survival-Horror ist ja gut und schön, aber irgendwo muss auch ein Schlussstrich gezogen werden.

Ok, das geht mir schon wieder zu sehr auf die negative Seite. Aber so etwas ist wohl zu erwarten bei einem 14 Jahre alten Spiel, dessen indirekter Nachfolger viele Elemente überarbeitet und oder schlichtweg verworfen hat, weil sie auch aus meiner Sicht zu sehr vom Fokus der Handlung sowie der Spielwelt ablenken. Für mich war das Gameplay eher eine Möglichkeit, den Horror der Umgebung auf den Spieler zu übertragen. Ihm zwar die Möglichkeiten zur Verteidigung zu geben, gleichzeitig aber dafür zu sorgen, dass er sich ständig verwundbar fühlt. Die wahre Stärke von System Shock 2 ist die Atmosphäre, von der leider einiges über den Jahren verloren ging. Es symbolisiert sicherlich nicht mehr das, was es einmal war. Und das ist vollkommen in Ordnung. Die Serie hat sich weiterentwickelt und neue Welten erkundet, die sich in den für mich wichtigeren Aspekten stärker entwickelt haben.

Auch ohne Nostalgie lässt sich System Shock 2 noch heute wunderbar spielen und bietet eine Erfahrung, die manche im Gegensatz zu den Leuten von 1999 zwar vielleicht schon kennen, es aber nicht als Ausrede benutzen sollten, um den Titel abzuschmettern. Falls ihr es bisher nie gespielt habt, ist nun die perfekte Zeit dafür gekommen, bevor euer Eindruck nach BioShock Infinite weiter geschwächt wird. Und sei es nur, damit ihr beim nächsten Gespräch nicht wieder Wikipedia zitieren müsst.

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