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Eurogamer.de - Ein Jahr ohne Wertungen

Was hat sich geändert, seit es die 8/10 nicht mehr gibt?

Vor einem Jahr haben unsere englischen Kollegen, einige andere Seiten des Gamer Network und auch wir uns von den 10-Punkte-Wertungen verabschiedet. Was in den nächsten Tagen folgte, war eine starke Reaktion von allen möglichen Seiten und in allen möglichen Facetten. Fast jede Seite berichtete auf die eine oder andere Weise darüber. Einige beklagten es bitterlich, andere feierten es. Manche sagten uns den Untergang in wenigen Monaten voraus, das Absinken in die Bedeutungslosigkeit binnen Wochen. Enthusiasten sahen uns als Speerspitze einer No-Wertungs-Bewegung, die innerhalb kürzester Zeit alle Wertungen in der Medienlandschaft verschwinden lassen würde. Der Verzicht auf die Metacritic-Wertungsliste würde uns jeder Aufmerksamkeit der Publisher berauben. Der Verzicht auf Metacritic würde uns zu einem gleichwertigen Gegengewicht zu dem Wertungsaggregator machen. Und vieles mehr noch wurde prophezeit.

Ich wusste schon in den Tagen vor der Veröffentlichung dieses Artikels, mit dem wir aus Sicht der Propheten unser Schicksal auf die eine oder andere Weise besiegeln würden, dass solche Reaktionen kommen würden, aber jenseits der Vorfreude war ich gelassen. Vielleicht bin ich einfach alt genug, vielleicht weil ich gut genug wusste, wie die Seite und Beziehungen zu unseren Lesern, den Publishern und Entwicklern funktionieren, und dass ich mir keine Sorgen machen muss - ich war nicht wirklich in innerer Aufruhr.

Wie es sich zeigt, lag ich damit richtig. Wie jede Seite verfolgen wir sehr genau, wie sich unsere Leserzahlen entwickeln, und das letzte Jahr bot keine großen Überraschungen, auch nicht bei den Tests, die ja als Erstes von der Änderung hätten betroffen sein müssen. Vergleicht man es mit dem Jahr davor, also 2014, verlief 2015 sehr ähnlich. Ein leichter Zuwachs um ein paar Prozent im Schnitt, unisono mit dem Zuwachs der restlichen Seiten. Es gab keinen Knick nach unten, keine Spitzen nach oben, auch ohne Wertungen war 2015 ein gutes, aber kein besonderes Jahr, was die Leserzahlen für Tests anging. Die Leserschaft bekam Zuwachs, wie auch ein paar regelmäßige Leser abwanderten. So wie in jedem Jahr. Die Zahlen deuten eher auf Zuwachs, aber der betrifft die Seite generell und steht im Verhältnis zu dem üblichen Zuwachs, der in jedem der letzten Jahre zu verzeichnen war. Das lässt sich also nur von den Zahlen her nicht allein auf die Tests und ihren Modus Operandi fixieren.

Was die Gespräche mit Publishern angeht: Es hat sich nichts geändert. Wir bekommen unsere Testmuster wie eh und je, komplizierte Publisher und Entwickler bleiben kompliziert, umgängliche bleiben umgänglich, wir sprechen freundlich mit allen, alle sprechen freundlich mit uns. Manchmal gibt es Knatsch, wenn ein Test nicht ihren Vorstellungen entspricht, aber das ist auch nicht anders als vorher. Es ist sicher auch ein positiver Nebeneffekt, dass wir statt über irgendwelche Zahlen nun häufiger mit der Publisher/Entwickler-Seite direkt über die Mängel und Vorzüge eines Spieles sprechen. Das macht mehr Spaß und erspart allen die eh nutzlosen Wertungsfeilschversuche, die zuvor zwar auch selten waren, aber eben doch noch gelegentlich vorkamen.

Bei der Einschätzung der Verteilung der zwei Award-Logos und des „Finger weg!" in schönem Rot lag ich falsch, als ich sagte, dass Spiele ohne Logo sicher am häufigsten vorkommen. Andererseits, das war auch absehbar. Zum einen haben Spiele heutzutage eine generell relativ hohe Qualität, vor allem jedoch testen wir keineswegs alles, was da des Weges kommt. Wir sind nicht die größte Redaktion und mit der Masse an Veröffentlichungen gerade im Indie- und Halb-Indie-Bereich auf allen Plattformen ist das schlicht nicht mit der Gründlichkeit möglich, die wir euch bieten möchten. Also konzentrieren wir uns auf die Titel, die entweder so groß sind, dass sie von vielen Spielern wahrgenommen werden, die dann wissen wollen, wie es um dieses Spiel steht. Oder wir stellen die Spiele vor, die gut waren und die wir empfehlen möchten, auch wenn sie nicht so bekannt sind. Oder eben, in einigen Fällen, die wir nicht ganz so gut fanden - vorsichtig gesagt - und bei denen es nur Finger weg heißen kann. Im Ergebnis halten sich damit Empfehlungen und kein Award die Waage, mit jeweils Ausreißern nach oben und unten. Eigentlich auch nicht viel anders als vorher. Würden wir wirklich alles testen können, was es gibt, denke ich, dass meine Einschätzung richtig gewesen wäre. Und um euch mal zu fragen: Sollten wir mehr Spiele mit rotem Award gezielt suchen, selbst wenn das hieße, eigentlich irrelevanten Mist zu testen, und dass es sicher auch zulasten anderer Titel gehen würde (Zeit ist nun mal begrenzt)? Was ist eure Ansicht dazu?

Ist es jetzt für mich als Kritiker leichter geworden? Nein, aber auch nicht schwerer. Das liegt natürlich an den Awards und dem Grenzbereich, wo man einen herausrückt oder auch nicht. Ich glaube, mein schwerster Fall war Cities Skylines und vielleicht auch der einzige, wo ich im Nachhinein zwar mit keiner Zeile des Tests, aber mit der Vorenthaltung des Silbers zu zögerlich war - etwas, das ich zum Glück mit dem ersten Add-on für dieses wundervolle Spiel korrigieren konnte. Es gibt eine Reihe solcher Titel, Unravel war gerade erst so einer. Ich weiß, dass Alex bei XCOM 2 lange hin und her überlegte, ob jetzt Gold oder Silber, Just Cause 3 auf den Konsolen war ein schwieriger Fall oder der erste ganz groß debattierte Award für The Order 1886. Daran knabbert man mental länger, als dies in den allermeisten Fällen zuvor bei einer Zahl der Fall war. In der Masse jedoch wurde es leichter. Bei den meisten Spielen weiß man eben fast sofort oder zumindest, wenn man es ausschaltet, ob es das jetzt war oder nicht. Vor allem jedoch steht der Text, der eh schon immer unser wichtigstes Element war, noch mehr im Vordergrund, jetzt auch ungestört von einer dummen Zahl in den Gedanken des Testers.

Und, bin ich immer noch überzeugt, dass wir uns vor einem Jahr richtig entschieden haben, als wir beschlossen, dem Beispiel von Eurogamer.net zu folgen (was ja nicht verpflichtend war, siehe Eurogamer Italien)? Auf jeden Fall. Ich habe den Eindruck, dass eure Diskussion unter einem Test nicht nur in der Zahl der Kommentare zunahm, sondern auch in der Substanz zugelegt hat. Es gibt halt nicht mehr das plumpe „Das ist keine 8, das ist eine 7!", sondern oft Argumente, warum ein Spielelement besser oder schlechter ist, als der Tester das sieht. Es findet mehr Auseinandersetzung mit dem Text und damit vor allem mit dem Spiel statt, und das ist auf jeden Fall eine gute Sache. Und da wir auch sonst wie gesagt eher positive als negative Effekte beobachten konnten: Ja, wir haben das Richtige getan.


Da ich aber nicht allein teste, hier auch ein Eindruck von allen regelmäßigen Testern unter den Redakteuren, die ja nun ein Jahr Zeit hatten, über diese Umstellung zu reflektieren:

Alexander Bohn-Elias: "Ich geb' denen drei Monate", haben sie gesagt. "Das war's dann wohl mit denen", haben sie gesagt. Ein Jahr später sind wir immer noch hier und können nicht behaupten, wir würden den Schritt bereuen. Ehrlich gesagt wundere ich mich, dass der große Knall erst ein Jahr her ist. Mir kommt es so vor, als hätten wir es immer schon so gemacht. So halb stimmt das wohl auch. Im Grunde weht hier schon seit Jahr und Tag der Geist durch den Raum, uns mehr mit dem Wert eines Spiels auseinanderzusetzen als mit seiner Einordnung in ein Wertungssystem. Denn Letzteres war schon immer die Komponente, die euch, unseren Lesern, für sich genommen am wenigsten über einen Titel verriet. Heute - mit Gold, Silber und all den schönen Abstufungen, die die deutsche Sprache ermöglicht, setzen wir uns aus meiner Sicht entspannter und befreiter mit Spielen auseinander als je zuvor. Und das ist nicht nur für uns ein Gewinn, sondern auch für euch.

Benjamin Jakobs: Das war also das erste Jahr ohne Wertungen. Hat auch ganz und gar nicht wehgetan. Im Gegenteil: Es wirkte irgendwie befreiend, sich nicht mehr ständig Gedanken um irgendwelche unsinnigen Zahlen machen zu müssen, die für sich allein genommen nicht immer das Wesentliche über ein Spiel aussagen. Es ist deutlich angenehmer, einfach den Text ohne diese ständigen Hintergedanken - wird das nun 7 oder 8? Oder eine 8 oder 9? - zu schreiben und darin darzulegen, was das Spiel kann und was nicht. Das spricht ja dann für sich und ihr solltet selbst einschätzen können, ob das Spiel womöglich etwas für euch ist - und dann gibt es eben in besonderen Fällen noch eine Warnung oder eine Empfehlung dazu. Es freut mich auch, dass ihr die Änderung so gut aufgenommen habt, obwohl hier und da noch darüber diskutiert wird, ob ein Spiel nun doch eher eine Empfehlung verdient oder herausragend ist - so ganz könnt ihr es wohl nicht lassen, was? Aber ist schon okay, ein bisschen dürft ihr das. Aber Hauptsache ist, dass ich keine elendig langen Wertungsdiskussionen mehr ertragen muss. Alleine dafür liebe ich unser System.

Sebastian Thor: Wie wird man einem Spiel in Zahlen gerecht, das viele Macken hat, ein bisschen kaputt ist, aber auch extrem viel Spaß macht? Man unterliegt keinem Zwang, den Text, der hoffentlich nachvollziehbar aufzeigt, wieso man trotz aller Verfehlungen viel Freude hatte, mit einer beides berücksichtigenden Endnote zuzuspitzen. Er muss die Ziffer am Ende nicht mehr rechtfertigen und kann sich zusätzlich auf interessante Aspekte konzentrieren, über die es sich zu reden lohnt. Die Frage, die ich mir stellen muss: Hat es mir so viel Spaß bereitet, dass ich es empfehlen würde? Hat es mich so sehr mitgenommen, dass ich auf ein herausragendes Erlebnis zurückblicke? Außerdem bekommen mit Empfehlung bedachte Spiele, die in Zehnernoten vielleicht ein Grenzfall gewesen wären, mehr Aufmerksamkeit - auch weil unsere Homepage die Auszeichnungen schön spoilert -, weil sie nämlich genau das sind: gute, erlebenswerte Spiele mit runzeligen Aliens, süßen Schildkrötendrachen oder dicken Wummen, über die es interessante Dinge zu sagen gibt. Und nicht irgendeine kleine Ziffer.

Björn Balg: In einem Wort: befreiend. Ich habe mich die ganzen Jahre über nie sonderlich an den Zahlen gestört. Doch gerade das vergangene Jahr hat mir deutlich gemacht, wie sinnlos sie letztendlich waren. Ich muss mir nicht länger den Kopf zerbrechen, ob ein Titel nun die Fünf, Sechs oder Sieben verdient, sondern kann mich ganz sorgenfrei auf die Frage konzentrieren: Würde ich es empfehlen? Wenn ich so auf meine vergangenen Zahlenwertungen blicke, gibt es schon ein paar, bei denen ich mir nicht mehr so ganz sicher bin, ganz im Gegensatz zu allem, was im Text stand. Hatte das Spiel wirklich eine Acht verdient? War die Vier hier nicht doch ein wenig zu hart? Solche Gedanken kommen mir mittlerweile gar nicht mehr in den Kopf. Besonders der innere Kampf zwischen einer Neun und einer Zehn war für mich immer das Schwierigste. Obwohl es nur eine dumme Zahl ist, umgab die Zehn eine mysteriöse Aura, der man sich ständig bewusst war. Und jetzt? Ein Herausragend raubt der Zehn seine einstige Kraft und sagt bloß: Passt auf, dieses Spiel ist etwas ganz Besonderes! Und das sagt alles, was gesagt werden muss.

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