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Fallout 4 - Test

Wie erwartet.

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In der schieren Breite faszinierendes Weltbild mit technischen, erzählerischen und rollenspielerischen Schwächen.

Ist doch schön zu wissen, dass man bekommt, was man erwartet. Im Falle der Bethesda-Rollenspiele eine vom Hundertsten ins Tausendste geratene Welt, in der man von der Blechdose bis zur Zuckertüte alles anfassen und verschieben kann, in der auch ein Mülleimer im hinterletzten Kaff des Boston-Umfelds noch kleine Kostbarkeiten zwischen den üblichen Nippes quetscht. Damit errichten sie in erster Linie eine Spielwelt und in zweiter Linie ein Zeitbild 250 Jahre in der Zukunft. Alles liegt hier. Ihr könnt es sehen, erreichen und mitnehmen. Man erkennt es an Firmengebäuden wie denen von Poseidon Energy und Greenetech Genetics mit ihren hastig umgeworfenen Möbeln, als die Bomben fielen, an E-Mails in den PCs und Holobändern.

Bethesda schafft die Ausgestaltung einer in den Fünfzigern stecken gebliebenen Gesellschaft. Mit Hunderten Locations (zum Zeitpunkt des Tests hatte ich knapp 200 entdeckt...), die in ihrer Anordnung mehr Sinn ergeben als die im dritten Teil. Kurzum: Größere und hauptsächlich verrückte Ausreißer wie Lamplight erspart man sich, und dazu fällt mir vor allem Gutes ein. Das städtische Umland von Boston - bloß ein kleiner Teil der Spielwelt - ist ein von Ladezeiten und blockierenden Schutthaufen befreiter Traum für jeden Wanderer, dessen Erlebnis in diesen Spielen über die Dichte der zu entdeckenden Ortschaften definiert ist. Gassen zwischen den Gebäuden gestalten das Hier-entlang so ungezwungen wie nur möglich.

Ein so dichtes Gedränge an Locations, die man alle als einzelnen Schnellreisepunkt entdecken kann, gibt es nicht regelmäßig zu sehen. Wer pro Tag nur zwei bis drei Stunden spielt und am liebsten wandert, dürfte lange, sehr lange beschäftigt sein. Da muss man sich erst mal ausruhen.

D.C. und die Vegas-Enklave in den Vorgängern wirken dagegen wie eine Fingerübung, auf geringerer Fläche zusammengedampft auf die paar Häuser und Ruinen, weil es mit der alten Technik offenbar nicht anders klappte. Wenn man in Fallout 4 nun von Nordwesten nach Lexington läuft, vorbei an Diners und Donutläden, in Richtung Stadt und immer weiter nach Quincy im Südosten, weiß man, dass es das in dieser Dichte lediglich bei Bethesda gibt. Nur wenige etwas größer bemessene Siedlungen wie Diamond City oder Goodneighbor sind vom Rest abgetrennt, vermutlich weil dort mehr KI-Routinen und so was greifen müssen.

Selbst wenn man ein Ziel hat, sind die schieren Umgebungen in Sachen Ablenkung ganz groß. Da ist der scheinbar allgegenwärtige Highway, den man auf halber Strecke zugunsten eines Hauses verlassen kann, geradewegs über eine aus Brettern zusammengeschusterte, von jemandem hinterlassene Brücke. So manches Gebäude steht nicht nur "für sich", sondern als Teil eines größeren, in die Vertikale gehenden Verbundes. Bethesdas Spiele waren schon immer mehr Entdecker- als Erzählwerke, abseits von Lore-Büchern besser gebaut als geschrieben, und Fallout 4 macht hier trotz aller Mühe nur selten eine Ausnahme.

Die Dialoge gehen viel natürlicher aus der Welt hervor und das Geschehen wird nicht mehr angehalten. Heißt, es können auch mehrere Personen am Gespräch beteiligt sein (was nicht so oft passiert) und Gegner können euch währenddessen aus allen Rohren feuernd überraschen. Leider sind die Gespräche zu selten wirklich reaktiv.

Dafür sind es einnehmende Wanderungen in mondlandungsweiter Ausdehnung zueinander, wenn man von den zuweilen schnarchig präsentierten Hauptgeschehnissen um Syntheten die Nase voll hat. Ich will nicht wissen, wie viele hundert Leute hier Assets schaufeln durften. Diese Vielfalt schafft eine nahezu gespenstische Greifbarkeit, mit all den angelaufenen Reklameschildern, Logos und löchrigen Fünfzigerjahre-Postern.

Gestalterisch ist Fallout 4 ein Koloss und auf ähnlichem Niveau wie Witcher 3 dieses Jahr. Technisch dagegen, um das vom Zettel zu bekommen, bleiben wir im soliden Bereich mit Ausreißern nach unten. Man muss sich nur mal ins Luftschiff der Brotherhood of Steel stellen und runterschauen. Architektur und Geometrie sind auf gutem Level, wo Texturen und Streaming oft auf Halbmast hängen. Mal verschwindet der Level-Boden mitsamt der Gegner, mal rennt man zu schnell zum Pier, bevor dieser überhaupt erscheint. Das ist wirklich so skurril, wie es gerade klingt.

Die Texturen sind oft nur sehr solide und nicht alle Objekte oder Charaktere werfen einen Schatten. Rein technisch gesehen ernüchtert Fallout 4. Es lebt von seiner unglaublich verkramten, riesigen Spielwelt.

Ruckler bis runter in den einstelligen Bereich passieren auf der Xbox One nicht hinter jeder Hausecke, doch gelegentlich und immer öfter, je länger man sich bewegt. Sie stören den Spielfluss genauso wie die zweisekündigen Kompletthänger, beispielsweise, wenn man von Raketenwerfer oder Granate zu Tode gesprengt wird. Sogar Abstürze sind drin. Gemessen an der Größe, der Objektmenge und Level-Geometrie ist das sicher leichter hinnehmbar, aber es passiert nun mal und wird euch auffallen. Der Launch-Patch ist auf der One übrigens 500 MB schwer und richtet hier nicht viel aus, außer die Ladezeit beim Starten drastisch zu verringern. Unsere Digital-Foundry-Freunde haben hierzu schon tiefergehende Herleitungen parat, weitere werden folgen.

Halten wir fest, dass die nackte Technik nach innerer Schönheit strebt, und nutzen diesen holprigen Übergang zur Erzählung. Bethesda pflegte hier schon immer weniger die Feinheiten, als das große Ganze in Form eines zeitlichen Abbilds greifbar zu machen. So ist es auch in Fallout 4. Was ihr Jahr 2288 mit seinen Hinterlassenschaften erzählt, ist richtig unterhaltsam, durch und durch. Warum? Dieses satte "Katschinggg"-Geräusch einer sich öffnenden Kasse, sobald man einen neuen Ort entdeckt und nur seinen Namen kennt, bis man ihn erkundet. Bethesdas Art, eine Sandbox zu gestalten und die Locations gleichwertig zu behandeln, sie setzt sich hier fort. Selbst wenn man in einer Quest nur Krams von irgendwo holen soll - was nicht allzu selten geschieht -, hat man zumindest nie das Gefühl, das Kraftwerk, der Hardware-Store oder Supermarkt sei extra dafür hergerichtet, weil man einen Ort brauchte. Das meiste fühlt sich an wie ein natürlicher Teil der Welt.

Neben all den Schnellreisepunkten gibt es noch diverse kleine Locations, die nicht auf der Weltkarte verzeichnet werden. Bis man so weit ist, dauert es eine ganze, ganze Weile.

Und was man alles entdecken kann. Vielleicht ein Skelett, das seinen im Astronautenanzug steckenden Teddy umklammert. Vielleicht zwei Skelette, von denen eines das andere über einen Tresor gelehnt würgt, gefangen in ihrem letzten Moment, bevor die Welt vor die Hunde ging. Vielleicht einen kleinen Betrieb mit eigener, trauriger Geschichte, die man entlang des Weges von A nach B nachleben kann. Oder man biegt auf der Straße davor Richtung Westen ab und hat nie von ihr oder dem Funksignal um die Ecke gehört, doch sie sind da. Bethesda stellt eurem Eigenantrieb dieses Rüstzeug an die Seite und ihr könnt entscheiden, wie viel ihr davon benötigt.

Aber es ist auch eine Sandbox, die ihre Stärke eher von innen heraus aus sich selbst bezieht, der scheinbaren Endlosigkeit in den Industrieanlagen, der Tür, die man als spontane Einladung empfängt, zu sehen, wohin sie führt, der hundertsten hinterlassenen E-Mail all der armen Irren mit schrägen Storys über Ameisenfarmen und was nicht alles. Das Erleben des puren Drumherums. Es ist die Art von "Environmental Storytelling", die nötig ist, wo die Quests sich oft nur dem gehobenen Durchschnitt verschreiben.

Schlösserknacken und Hacken funktionieren genauso wie in den Vorgängern, nur dass ein Fehlschlag am Terminal dieses nicht mehr permanent sperrt, sondern bloß noch zehn Sekunden. Ihr könnt es so oft versuchen, wie ihr wollt. An manchen Stellen gibt es nicht mal einen Alternativweg, man muss durch dieses eine Terminal. Haarklammern werden auch nicht gerade eure Sorge sein. Man findet mehr als genug, damit sie euch nie ausgehen.

Fallout 4 ist nicht New Vegas und die Auftragsqualität schwankt zwischen "beinahe schenkelklopferisch lustig" und "nett, dass ihr der zigsten Fetch-Kiste wenigstens etwas Hintergrund gebt". Manche Geschichten wie "Silver Shroud" und "Die letzte Reise der USS Constitution" sind mit das Witzigste, was Bethesda je geschrieben hat, und gemessen an meinem Grinsen noch einige Tage später ein Volltreffer. Und man muss dem Studio zugutehalten, sehr viel weniger Wegwerf-NPCs ins Rennen zu schicken als in ihren vorherigen Spielen, auch wenn die meisten Charaktere hier nur nettes Beiwerk sind. Auf den Fraktionen liegt mehr Gewicht als in The Elder Scrolls, wo sie oft nebeneinander her liefen, unberührt voneinander, weil man ja gefälligst Oberhaupt aller Gilden gleichzeitig sein will.

Fallout 4 zwingt euch zumindest an wenigen, deutlich hervorgehobenen Points-of-no-Return zum Stellungbeziehen und wenn man plötzlich den Tritt im Hintern spürt, der einen vor die Tür setzt, ist das immerhin konsequent. Weniger konsequent ist, wenn mich die Brotherhood viermal hintereinander zum Eintreiben der Ernte in dieselbe Siedlung schickt, zum selben Typen, der jedes Mal so tut, als hätte er mich nie gesehen. Das System, bestimmte Locations oder Items dem Zufall zu überlassen, ist bekannt aus Skyrim und kommt hier in ähnlicher Form zum Einsatz, besonders als Füllmaterial bei allen Fraktionen. Nichts gegen ein zwischengequetschtes Gerumpel im Super Duper Mart oder an zig anderen Orten, schnell alle Ghule töten, Kassen plündern, paar Schlösser knacken, rumschnüffeln und raus da. Aber etwas mehr Konsistenz wäre gut gewesen. Und vielleicht etwas weniger "Hol uns mal das von dort, damit wir hier weitermachen können, und danach kannst du gleich noch...", was der Hauptgeschichte bis in die hinteren Stunden immer wieder einfällt.

Das Waffengefühl ist herrlich diversifiziert und grundlegend überarbeitet. Als Shooter macht Fallout 4 Spaß und jede Menge richtig, auch wenn der Gegner-KI manches Mal die irrwitzigsten Fehler unterlaufen. Etwa null Ausweichbemühungen beim Granatenwurf. Dennoch, ich habe nach 70 Stunden immer noch Freude damit.

Bethesda benutzt Aufträge seit jeher mehr als notwendige Abläufe und Stütze, euch so gut wie möglich durch ihre letzten vier Jahre Weltdesign zu führen, in der sie Tausende Spuren hinterließen. Eure Freunde werden andere Geschichten erzählen, weil sie oder ihr Blick woanders waren. Wie das eine Mal, als ich jemanden in einer Ruine treffen und töten sollte. Eine Patrouille der Bruderschaft kam vorbei, triggerte die Aufmerksamkeit, es rummste zweimal, Kerl tot, Ziel erfüllt. Hier hat Fallout fast etwas von Stalker.

Das aber alles nur, solange ihr vor Ort seid. Denn nach wie vor muss sich jede Quest in jeder Minute einfrieren lassen, notfalls für eine Ewigkeit, man muss weggehen können, weil es das ist, wieso diese Spiele funktionieren. Es ist eine sehr spielbezogene Funktionalität, keine der Geschichte gegenüber. Wenn der Kontaktmann drei Monate vor der verabredeten Location wartet, obwohl er es vorher eilig hatte, ist das auch hier so.

Die Begleiter sind bemüht um lebendiges Verhalten vor jedem Hintergrund, vor den ihr sie zerrt. Ich habe nicht alle stundenlang auf ihre Reaktionen abgeklopft und Kaliber wie Arcade Gannon oder Boone aus Vegas sucht man vergeblich, doch gemessen an den Situationen, in die man geraten kann, sind ihre Einwürfe eine fantastische Angelegenheit. Bei Cait etwa wunderte ich mich ein ums andere Mal, zu wie vielen Dingen sie etwas zu sagen hat, sei es ein Quest-Dialog oder eine Ruine am Wegesrand. Manchmal rührt sie auch Eintopf in einem Kessel mit ihrem Gewehr um, was mich gleichzeitig ängstigte und zum Lachen brachte.

Der Siedlungsbau ist eines der größten Themen, um die man sich lange Zeit nicht kümmern muss, wenn man nicht will.

Der vertonte Hauptcharakter mit den vier Face-Buttons als Dialogoptionen mag im Zeitgeist wandeln und modern aussehen, unterliegt aber ärgerlichen Beschränkungen. Low-Intelligence-Dialoge aus den Teilen 1, 2 und New Vegas sind nicht mal gemeint, die gab es schon in Fallout 3 nicht. Einschränkungen entstehen, da man nie mehr als vier Antwortmöglichkeiten für eine Szene hat. Im Verlauf der Hauptmission muss man sich mit einer Fraktion zusammentun und ab diesem Punkt sind die jeweiligen Ansprechpartner auf diese Angelegenheit gepolt. Heißt: Man hat bei ihnen nur die vier an die potenzielle Zusammenarbeit gebundenen Gesprächsoptionen. Will man eine vorher aktive Nebenaufgabe bei ihnen abschließen, geht das nicht, bis man die oberste "Dialogschicht" aus dem Weg hat.

Es sind diese Sachen, ebenso wie die selten reaktiven Dialoge, die Fallout 4 mehr in der Breite als in der Tiefe interessant machen. Wer keine Siedlungen übernehmen möchte, lässt es eben. Wer nicht an der Werkbank tätig werden und seine Ortschaften mit Getränkeständen, Möbeln oder Teppichboden verschönern möchte, lässt es. Dabei kann man im Baumenü Badewannen zu Keramik, Öfen zu Stahl und Tische zu Holz zerlegen. Eine komplett zerstörte Ruine? Anvisieren und zack, hat man diesen Schandfleck aus der Landschaft geklatscht und gleich noch neue Materialien im Lager. An Waffenbänken lassen sich aus Schrott Mods fertigen, wenn es das sein soll.

Alles ist wie immer so weit in die Breite gedrückt, dass man nicht umhinkommt, in der scheinbaren Endlosigkeit eine Zeitlang Begeisterung zu finden. Gefolgt von dem Gefühl, dass als spielerbestimmtes RPG und besonders in technischer Hinsicht mehr möglich gewesen wäre. Fallout 4 ist ein hinreißend ins gefühlt Unendliche aufgebauschtes Abenteuer, das euch für Monate in Beschlag nimmt, wenn ihr ein in atomarer Schockstarre gefangenes Weltbild in seinen Hunderten Einzelheiten abklopfen wollt. Ihr werdet so vieles tun und vieles gleich wieder vergessen haben, so mancher Schema-F-Quest mehr Rückhalt in der Welt wünschen und die Technik an ihren miesen Tagen verfluchen.

Wenn es diese Entbehrungen sind, die man in Kauf nehmen muss, fällt mir für den kommenden Winter kaum ein besserer Stundenfresser ein. Besonders wenn man trotz all der nicht zu ignorierenden kleineren Mängel so ewig und ziellos versumpfen kann wie hier.

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