FAR: Changing Tides - Test: Bezaubernde Seefahrt ohne ein einziges Wort
Dass man nicht unbedingt eine Okomotive braucht, um auf Schienen durch die Welt zu reisen, beweist Teil zwei des wundervollen Endzeit-Abenteuers.
Vorne auf dem Bug, da ist mein Platz. Wenn der Wind mit voller Kraft ins Segel greift und das behäbige Schiff in die wehrhafte Gischt drückt, schaue ich vom Rand des Boots aus in die Ferne. Ruinen stehen da, wo Dörfer waren. Stählerne Gerüste greifen wie knöcherne Finger ins Leere. Steinerne Türme erstrecken sich in große Höhen. Eindrucksvolle Zeitzeugen einer vergangenen Apokalypse.
Wasser statt Sand
Erinnert ihr euch an FAR: Lone Sails? Auch da wurde kein einziges Wort gesprochen. Die Geschichte war der Reim, den der Kopf auf die starken Bilder fand. Es war ein kleines Spiel im Stil von Inside oder Unravel, bei dem man allerdings nicht nur die Hauptfigur von links nach rechts und über Plattformen schob, sondern mit ihr in einem großen Vehikel unterwegs war; einer mit Dampf und Wind betriebenen Okomotive. Und genau da macht FAR: Changing Tides jetzt weiter. Nur dass man diesmal nicht Lokführer ist, sondern Kapitän.
Denn zog man in Lone Sails noch über ausgetrocknete Meeresböden, passiert man in Changing Tides überschwemmte Ortschaften. Was es damit auf sich hat, erzählen die Umgebung, wenige Zeichnungen und überraschende Momente, die ich natürlich nicht vorwegnehme. Auch warum man überhaupt unterwegs ist, erfährt man irgendwann. Wobei man darauf verschiedene Antworten finden könnte. Ich will gar nicht mehr draus machen als drinsteckt: Changing Tides ist weder Epos noch verkopftes Arthouse. Es lädt einfach nur zum Träumen und darin Versinken ein. Es lebt von der liebevollen Art und Weise, mit der das kleine Alter Ego durch die große Apokalypse wuselt, und hat ein paar tolle Aha-Momente, wenn man erkennt, wie die Welt eigentlich funktioniert.
Volle Kraft voraus!
In der spielt die Physik nämlich eine große Rolle - nicht die akkurat berechnete einer Simulation, aber eine mit logischen Zusammenhängen. Immerhin muss man das Segel des Schiffs erst einmal so drehen, dass es im richtigen Winkel zum Wind auch dessen ganze Kraft aufnimmt. Und man ist ja nicht ausschließlich auf dem Boot unterwegs. Vielmehr wird man immer wieder aufgehalten, muss vielleicht auf einen hohen Turm klettern, um im Inneren eine Maschine in Gang zu setzen, die dann das verschlossene Tor öffnet oder einen Kran so dreht, dass man ein schweres Gerät auf das Schiff herablassen kann. Oder man ebnet sich einen Weg, indem man sich einen Schlauch schnappt, mit dem man Wasser entweder einsaugt oder ablässt.
Man löst also leichte Rätsel, um voranzukommen, zumal man diesmal nicht nur vertrocknete Erde findet, sondern eine überflutete Welt erkundet. Der Seemann taucht deshalb in die Tiefe, um über enge Rohre einen Weg zu finden oder Treibstoff in Form verlorengegangener Alltagsgegenstände zu sammeln. Die hängt er im Bauch seines Fortbewegungsmittels an kleine Haken, damit er sie später per Knopfdruck in den Ofen des Maschinenraums befördern kann. Hat er den Kessel anschließend angeheizt, muss er den Druck noch erhöhen, die Maschinen auf „volle Kraft voraus" stellen und schon schnauft das Boot voran.
Alles im Griff
Tatsächlich ist das bullige und für mein Empfinden übrigens ungemein schicke Transportmittel wie schon im Vorgänger der eigentliche Star. Einfach schon, weil es sich verdammt gut anfühlt keine anonyme, jederzeit verfügbare Beschleunigungstaste zu drücken, sondern alle wichtigen Handgriffe selbst auszuführen. Keine Sorge: Das ist nie komplex. Man kann ohnehin nicht sterben, das Schiff nicht zerstören oder in sonstige Sackgassen geraten. Es ist nur ungemein befriedigend, wenn man es z.B. hinbekommt, dass die Maschine auf vollen Touren läuft, während das Segel gleichzeitig so steht, dass beide Antriebe für maximalen Schub sorgen. Dafür muss man seine Handgriffe schließlich mit etwas Finesse aufeinander abstimmen. Und wenn man es dann noch schafft, den kurzen, aber mächtigen Boost zu aktivieren...
Hinzu kommt das Tauchen in größere Tiefen oder unter Hindernissen hinweg, denn die Geräte, die man an Haltepunkten mit dem Vehikel verbindet, erweitern es um zusätzliche Fähigkeiten. Erinnert ihr euch an die Schläuche, mit denen man Wasser ansaugen oder ablassen kann? So einer befindet sich auch an Bord - zusammen mit einem Anschluss, über den man die Tanks des Boots befüllen oder entleeren kann, um die Tiefe des Tauchgangs zu verändern. Klasse! Ich habe meine helle Freude daran, dass diese Welt mit ihrer vereinfachten Logik so schlüssig funktioniert und dabei erfreulich zugänglich ist. Viele Schalter stecken etwa in der Decke, sodass man sie von unten einfach "super-mario-t". Auf andere hüpft man drauf, Türen öffnen sich von selbst, Hebel greift man und läuft damit in die gewünschte Richtung.
FAR: Changing Tides Test - Fazit
Man könnte FAR: Changing Tides durchaus vorwerfen, dass die letzten Kilometer dieser Reise vor allem spielerisch nicht mehr ganz so interessant sind, weil man irgendwann praktisch alles schon gesehen hat. Es gibt diesen Punkt, an dem es sich so anfühlt, dass Spiel und Spieler nur noch das Ende erreichen wollen. Sogar eins der interessantesten physikalischen Elemente wird da nur angerissen und fast sofort wieder fallengelassen.
Sei's drum. Die letzte Minute sah mich dann wieder mit einem breiten Grinsen im Stuhl versinken und den Abspann in vollen Zügen genießen. Wie schon im Vorgänger mag ich das starke Artdesign sowie den liebevoll gezeichneten Protagonisten, ganz besonders aber die Handhabung des Schiffs, das man wie eine reale Maschine verstehen und bedienen kann. Ich kann euch diese kleine große Reise jedenfalls nur wärmstens ans Herz legen.