Filmkritik: Black Swan
Herz vs. Kopf
Wo Darren Aronofskys frühere Werke eher der zerebralen bis ätherischen Kunstfilm-Nische zuzuordnen waren, hat der gebürtige New Yorker seit zwei Streifen ein neues Steckenpferd gefunden: Er hat beschlossen, einer der besten Regisseure charaktergetriebener Dramen zu werden, die die Welt gesehen hat. Nach The Wrestler unterstreicht er diese Ambition mit Black Swan erneut und zeigt, dass es aktuell niemand besser versteht, aus Schauspielern jeglichen Ranges und Namens absolut bemerkenswerte Darstellungen herauszukitzeln.
Dabei ist es scheinbar vollkommen egal, ob es sich um ausgebrannte Eighties-Ikonen (Rourke) oder chronisch überbewertete ewige Talente handelt, deren erstes Mal vor einer Spielfilmkamera auch ihr bestes war (Portman). Wen Aronofsky vor die Linse stellt, der bleibt den Rest des Jahres im Gespräch.
Bis zur Oscarsaison und – wenn alles gut verläuft – auch darüber hinaus. Doch auch der Film dahinter hat jede Zeile, die derzeit über ihn geschrieben wird, verdient. Nicht nur aufgrund der durch die Bank unverhofft starken Auftritte seiner Haupt- und Nebendarsteller.
Im Grunde geht es in Black Swan um das gleiche Thema wie schon in The Wrestler. Beide Male führt uns Aronofsky ganz nah heran an Charaktere mit alles andere als alltäglichen Beruf(ung)en. Im Zentrum steht hüben wie drüben der Willen der Figuren, sich in ihrer Profession zu verlieren, auch wenn es die totale Selbstzerstörung bedeutet.
Wo The Wrestler uns ganz tief in das große, kranke Herz des bodenständigen Schaukämpfers Randy 'The Ram' Robinson blicken ließ, schauen wir in Black Swan jedoch in das gepeinigte Oberstübchen einer angehenden Primaballerina. Um den Unterschieden der beiden Figuren gerecht zu werden, muss der Film bei allen Parallelen natürlich einen komplett anderen Verlauf und Ton annehmen. Portmans zerbrechliche Schwanenkönigin ist eine ewige Kindfrau mit komplexem, stets unterkühltem Wesen und muttergetriebenem Ehrgeiz. Im Gegensatz zu 'The Ram' sind Sayers Tanz, Geist und Entwicklung eine Kopfsache, aber niemals Herzensangelegenheit – so sehr sie das auch glauben mag.
Von allen Seiten fühlt sich das Mädchen zu einer Perfektion gepeitscht, die sie aufgrund ihrer angedachten (Doppel-)Rolle als schwarzer Schwan aber eigentlich niemals erreichen darf: Für das düstere Gegenstück zu ihrer Schwanenkönigin muss die verkopfte Nina Leidenschaft und Feuer in sich entdecken. Züge, die ihr fremder nicht sein könnten.
Folglich reibt sie sich zwischen Ambitionen, Versagensangst und einer Paranoia auf, die in der lebensfrohen Lily (nur eine von vielen Überraschungen: Mila Kunis) ein perfektes Behältnis findet. Und zwar so lange, bis Aronofsky nichts anderes mehr bleibt, als den Abstieg der Ballerina in den Wahnsinn mit teils extrem verstörenden Bildern zu dokumentieren.
Wenn ich an einem der allein schon rein handwerklich besten Filme dieses Jahres etwas zu meckern habe, dann, dass Ninas so eindringlich inszenierter Untergang zwar Mitleid erregt, geradezu bitter schmeckt, nicht aber wirklich berührt. Zum Ende von The Wrestler hatte ich Tränen in den Augen, nach Black Swan war ich zunächst einfach nur sprachlos. Aber das könnte in dieser Konstellation auch passender nicht sein: Der "Herz"-Film, das war nun mal The Wrestler.