Filmkritik: X-Men - Erste Entscheidung
Nichts für Hardcore-Fans
Der Comic-Publisher Marvel hat ja anfangs den Fehler gemacht, einfach seine wertvollen Lizenzen herauszugeben und sich nicht selbst darum zu kümmern. Auf diese Weise entstanden Nullnummern wie Ghost Rider, Punisher, Daredevil oder Elektra. Vergewaltigungen des hervorragenden Ausgangs-Materials, die beim Zuschauen körperliche Schmerzen bereiteten und zurecht an der Kino-Kasse versagten. Seit Iron-Man hat der amerikanische Comic-Riese bei jedem Titel mit seiner Produktionsfirma Marvel Films die Finger im Spiel. Und siehe da, seitdem konnte nahezu jede Umsetzung überzeugen.
Vor allem, wenn es um Authentizität und Material-Treue geht, sind die neuen Filme mit dem alten Mist kaum vergleichbar. Umso geschockter war ich, als ich X-Men: Erste Entscheidung zu Gesicht bekam. So viel vorweg: Unterm Strich ist auch der neuste Film unterhaltsam und dank der schauspielerischen Leistung und einiger netter Action-Sequenzen sein Geld wert. Doch Hardcore-Fans werden sich über die veränderte Entstehungsgeschichte der X-Men, die seltsamen Helden und den wirklich grausigen Anfang ärgern. Das passt zwar zu den anderen X-Men-Filmen und soll wohl eine Art What-If-Szenario darstellen, ist aber trotzdem ärgerlich.
X-Men: Erste Entscheidung spielt hauptsächlich in den Sechzigern. Los geht es aber im Zweiten Weltkrieg, genauer gesagt in einem Konzentrationslager. Hier wird der junge Erik Lehnsherr (der spätere Magneto) von seinen Eltern getrennt und offenbart dabei zum ersten Mal seine Fähigkeiten. Ein deutscher Wissenschaftler versucht natürlich, sofort Kapital daraus zu schlagen und zwingt den Jungen zu einer Vorführung seine Kräfte. Das Ganze ist dabei noch nicht mal schlecht gespielt, doch leider sorgt das miserable Deutsch der Schauspieler in der englischen Version für einen kontinuierlichen Brechreiz.
Allen voran Kevin Bacon, der durchgeknallte Wissenschaftler, der sich später als Anführer des Hellfire Clubs, Sebastian Shaw, entpuppt – was für ein Humbug, löst mit seinen gestammelten Worten Verwirrung aus. Hier hätte ich mir wirklich eine Synchro gewünscht, auch weil andere Deutsche ganz normal sprechen. Für Amerikaner klingt das wohl nicht sonderlich schräg, ich habe mich dagegen heftig fremdgeschämt. Bei der deutschen Version hat man das Problem zum Glück nicht. Ich empfehle hiermit also erstmals, einen Film nicht im Original zu schauen. Das Ganze geht zwar nur ein paar Minuten, ist aber echt qualvoll.
Als Gegengewicht zur dramatischen Kindheit von Erik wird auch die Jugend von Charles Xavier gezeigt, der als wohlhabender Junge in England aufwächst. Früh trifft er die Gestaltwandlerin Raven aka Mystique und hilft ihr, sich in der Welt der Menschen zurecht zu finden. Da ist zwar putzig gelöst und gut gespielt, passt aber so gar nicht zu der Serie. Auch später gibt es Dutzende solcher Ungereimtheiten. So taucht zwar Alex Summers aka Havok auf, aber nicht sein Bruder und X-Men Mitbegründer Scott Summers aka Cyclops. Das sind zwar für normale Zuschauer unbedeutende Details, für mich als Fan aber unverzeihlich. Lustigerweise habe ich gerade eben mit einem Kollegen ohne Vorkenntnisse gesprochen, der fand die ganze Geschichte, den Zwiespalt des Nazi-Opfers und die Tiefe der Beziehung zwischen Charles und Erik beeindruckend. Für ihn einer der besseren Superhelden-Streifen.
Und natürlich gibt es auch für mich ein paar Highlights. Zum Beispiel January Jones als Emma Frost. Die unterkühlte Telepathin verströmt eine Aura, die gut zu ihrem Namen passt. Die Fähigkeit sich in Diamant zu verwandeln hatte sie zwar damals auch noch nicht, aber egal. Etwas nervig sind ein paar neue Mutanten, dabei eine junge Frau mit Libellenflügeln. Oder ein Typ namens Darwin, der sich an Gefahren anpasst und dem unter Wasser zum Beispiel Kiemen wachsen. Und auch bei den Bad Guys gibt es wenig Besseres. Einen Sturm-Typ, den teleportierenden Vater von Night Crawler, später Mystique und Shaw selbst, der Energie zum Frühstück verspeist und umlenken kann.
Überraschenderweise hält sich der Film bei der Action stark zurück. Die komplette Handlung spielt während des Kalten Krieges. Shaw versucht, die Sowjetunion in einen Atom-Krieg zu ziehen. In der anschließenden Endzeit will er dann über die Menschen herrschen. Gut, dass die X-Men dort noch ein Wörtchen mitzureden haben. Die Paranoia der Zeit, die Aufbruchsstimmung wurde gut eingefangen. Doch die Verknüpfung mit der Realität, die Einbringungen von realen Ereignissen, wie hier der Kuba Krise wirkt aufgesetzt. Ja, das Rache-Motiv von Magneto ist stark, das Erwachsenwerden der Protagonisten interessant und die Schauspieler talentiert, doch mit den Comics hat es hier wenig zu tun.
Um das nochmal abschließend klar zu stellen: Wer mit den X-Men bisher nur über die Filme in Kontakt kam, wird mit "Erste Entscheidung" seinen Spaß haben. Es sind alle Bestandteile da, um aus dieser Umsetzung einen guten, vielleicht sogar sehr guten Film zu machen. Schauspieler, Action und Kamera, zum Teil absolut erstklassig. Aber reicht das Comic-Fans aus? Für meinen Geschmack nicht, aber ich bin ja auch ein absoluter Nerd und X-Men-Fan. Da gibt es wenig Spielraum. Mir ist die Geschichte zu dünn, zu voll mit internen Logikfehlern und einem höchstens mittelmäßigen Superhelden-Cast. Ganz sicher nicht so schlecht, wie die eingangs aufgezählten alten Machwerke. Aber für mich eine ganze Klasse schlechter als Thor.
X-Men – Erste Entscheidung – 2011 – 132 Minuten – Regie: Matthew Vaughn – Buch: Ashley Miller, Zack Stentz – Darsteller: James McAvoy, Michael Fassbender, Kevin Bacon, January Jones – ab Donnerstag im Kino