Frostpunk: Der schmale Grat zwischen Städtebausimulation, Survival-Spiel und moralischen Entscheidungen
"Ehrlich gesagt war es überraschend schwierig!"
Bevor sich die 11 bit studios mit This War of Mine einen größeren Namen auf internationaler Bühne machten, waren sie für ihre Anomaly-Reihe bekannt. Mit der Veröffentlichung des Survival-Spiels änderte sich das und das unabhängige Studio erlangte die Aufmerksamkeit eines größeren Publikums. Im Mittelpunkt des Titels steht nicht das Kämpfen wie in anderen Spielen. Vielmehr geht es darin um die Schicksale der Zivilbevölkerung. Die Charaktere treffen schwierige Entscheidungen und kämpfen ums tagtägliche Überleben. Als Inspiration für das Werk der polnischen Entwickler diente die Belagerung von Sarajevo während des Bosnienkrieges in den Jahren 1992 bis 1995.
Bei Kritikern und Spielern kam dieses Erlebnis bestens an. Und daher überrascht es nicht, dass viele gespannt auf den nächsten Titel der 11 bit studios warteten, der nach mehreren Jahren Entwicklungszeit endlich vor der Tür steht. Frostpunk geht erneut in Richtung Survival und ist gleichzeitig mehr als ein This War of Mine in einem anderen Gewand. Erneut geht es um Entscheidungen, Konsequenzen und das Überleben, diesmal auf einer größeren Ebene, da ihr euch um eine ganze Stadt kümmert.
"Die Idee entstand, bevor This War of Mine erschien. Wie du dir vorstellen kannst, hat Frostpunk eine lange Geschichte hinter sich. Ursprünglich begann alles mit dem Prototyp einer Steampunk-Städtebausimulation. Später brachten die Designer soziale Klassen mit ein und darauf folgten die Survival-Mechaniken. Mehr und mehr Ebenen kamen während der Evolution des Spiels hinzu und Frostpunk entwickelte sich zu dem, was es heute ist", sagt Senior Writer Pawel Miechowski im Gespräch mit Eurogamer.de.
Der eigentliche Gedanke entstammt den Köpfen von Pawel Miechowski, Marek Ziemak (Produzent bei 11 bits Vertriebsabteilung) und CEO Grzegorz Miechowski. Mehr als eine Idee war das nicht. Alles, was später folgte, entstand unter der Leitung von Creative Drector Michal Drozdowski, Art Director Przemyslaw Marszal, Lead Designer Kuba Stokalski, Lead Artist Łukasz Juszczyk und Lead Gameplay Programmer Aleksander Kauch. "Alle Mitglieder des Teams hatten kreativen Einfluss auf die Gestaltung des Spiels, aber diese Jungs hatten einen maßgeblichen Anteil daran", ergänzt er.
Was die Inspirationen betrifft, nennt er den Film Snowpiercer als Vorbild für den visuellen Stil. Das Science-Fiction-Buch Ice des polnischen Autors Jacek Dukaj hatte Einfluss auf die Geschichte. In der Erzählung geht es um eine alternative Version des frühen 20. Jahrhunderts, in der der Planet erfriert und alles komplett anders als in der Realität verläuft. Und Shining Rock Softwares Banished war eines der Spiele, die im Hinblick auf das Gameplay Eindruck bei den Entwicklern hinterließen.
Eine Städtebausimulation mit Survival-Elementen zu verknüpfen, ist eine ungewöhnliche Mischung. Und es war kein einfaches Vorhaben: "Ehrlich gesagt war es überraschend schwierig! Spieler beider Genres haben unterschiedliche Erwartungen und Spielstile, sie denken anders", erklärt Lead Designer Kuba Stokalski. "Diese zwei Genres setzen traditionell auf gänzlich unterschiedliche Spielerlebnisse. In einer Städtebausimulation wirst du kaum bestraft und experimentierst frei, in Survival-Spielen geht es um Herausforderungen und angstgetriebenes Gameplay. Beides miteinander zu vereinen, war eine extrem schwierige Designherausforderung. Das haben wir mit Blut, Schweiß und Tränen bezahlt, doch ich glaube, das Endresultat ist wahrhaft einzigartig."
Hinzu kommt die Empathie durch das Führen einer Gesellschaft als weiterer Faktor. Wie Stokalski angibt, fühlte sich die Kombination all dieser Elemente zum Teil an, als würde das Team versuchen, Wasser und Feuer zu vereinen. Viele "großartige" Ideen fielen der Schere zum Opfer, was bei einigen überraschend war, bei anderen weniger.
"Zum Beispiel würdest du annehmen, dass die Welt von Frostpunk nach Mechaniken schreit, die auf Schneestürmen und solchen Dingen basieren. In Tests stellten sie sich als mehr als irritierend heraus, lenkten von den eigentlichen Stützen des Spiels ab. Die Temperatur erwies sich als mehr als ausreichender Gegenspieler. Die sozialen Klassen waren ein weiteres Thema. Der klassische Konflikt zwischen Aristokraten und den armen Arbeitern erschien in einer Welt, in der jeder seinen Beitrag leistet oder zu Tode erfriert, nicht glaubwürdig. Natürlich wäre es möglich, dass einige dieser Ideen in irgendeiner Form zurückkehren, wenn wir das Spiel nach der Veröffentlichung unterstützen", sagt er.
Wichtige Lektionen lernte das Team bei This War of Mine im Bereich der Moral, der Grauzonen und Entscheidungen. Was dort auf einzelne Charaktere zutrifft, gilt in Frostpunk für eine ganze Gesellschaft. 11 bit führt das Experiment weiter, das mit This War of Mine begonnen hat. Wie weit geht ihr, um euer Überleben zu sichern? Bei This War of Mine haben die Macher gelernt, Spielsysteme zu entwickeln, die die Moral der Spieler konfrontieren. Mit Frostpunk wiederhole sich das nicht, vielmehr erforsche das Spiel diesen Bereich weiter.
"Ich denke, der größte Unterschied [zwischen This War of Mine und Frostpunk] ist die Größe der Gesellschaft, die wir im Spiel darstellen. In This War of Mine hatten wir bis zu vier Bewohner gleichzeitig aus einer Auswahl von zwölf", erläutert Game Designer Maciej Sułecki. Jeder von ihnen verfügte über eine eigene Hintergrundgeschichte und Persönlichkeit. Indem die Spieler ihre Verhaltensweisen, Ängste und Ziele kannten, entstand eine emotionale Bindung zwischen Spieler und Charakter. Als hilfreich erwies sich, dass sie ständig sichtbar waren, die Spieler sie beobachten konnten.
Sułecki weiter: "In Frostpunk haben wir viel mehr Leute als in This War of Mine, wir beobachten sie aus einer anderen Perspektive. Daher brauchten wir einen anderen Ansatz dafür, wie wir die Emotionen der Bewohner veranschaulichen."
Die Herausforderung bestand hier darin, die richtige Balance zu finden und dafür zu sorgen, dass das Persönliche und die Emotionalität nicht verloren geht. Ihr hört die Stimmen der Bewohner und ein Feed am unteren Bildschirmrand zeigt euch ihre Bedürfnisse und Ängste. Ihr habt die Möglichkeit, jede einzelne Person anzuklicken und mehr über sie und ihren Status zu erfahren.
"Du fühlst, dass es eine Gruppe von echten Leuten ist und nicht eine Zahl in einer Excel-Tabelle. Als Anführer erschaffst du gleichzeitig Gesetze, die alle Personen betreffen. Dein ultimatives Ziel ist, dass du sie als Gesellschaft betrachtest. Im Spiel geht es um den Konflikt zwischen dem, was eine Person braucht, und dem, was eine gesamte Gruppe benötigt. Das große Ganze gegen die Bedürfnisse von Individuen", erklärt Miechowski.
Das Spiel haben die Entwickler so erschaffen, dass die Bewohner eurer Stadt im Mittelpunkt stehen und nicht Personen ohne Namen, die sich hinter Zahlen verstecken. Als Anführer erhaltet ihr zudem eine ganze Menge an Optionen. Vom Regime-Tyrann bis hin zum erleuchteten Anführer und zahlreichen Möglichkeiten dazwischen ist alles machbar. Dadurch, dass eure Bewohner Namen, Gesichter und Familien haben, möchten die Entwickler eine emotionale Bindung zu ihnen aufbauen und dafür sorgen, dass ihr euch um sie kümmert und nicht als ersetzbar betrachtet.
"Startest du das Spiel, erscheinen dir deine Leute auf den ersten Blick als Statistik - Schachfiguren, die du herumbewegst. [...] Sie folgen deinen Anweisungen. Aber deine Entscheidungen haben Konsequenzen und normalerweise bekommen deine Leute die weniger angenehmen zu spüren. Bitte die Leute darum, in der Kälte zu arbeiten, aber sei nicht überrascht, wenn es zu Erfrierungen und Amputationen kommt. Lass Kinder arbeiten, doch was sagst du einer Mutter, die einen Sprössling bei einem Unfall verliert? Sicher, du hast die Möglichkeit, sie durchgehend als Drohnen zu behandeln. In gewisser Weise vermittelt das Spiel damit eine Nachricht. Machst du die Gesetze, wirst du zwangsläufig von deinen Leuten aus dem Amt entfernt. Belässt du es dabei? Oder machst du dir Gedanken darüber, wie deine Entscheidungen die Leben von denen beeinflussen, die sich auf dich verlassen? Das alles passiert ebenso in der realen Welt...", sagt Stokalski.
Das heißt nicht automatisch, dass es immer die beste Option ist, auf die eigenen Leute zu hören oder dem guten Pfad zu folgen. Natürlich habt ihr immer die Wahl, was ihr tun möchtet. Ihr folgt strikt dem einen oder dem anderen Weg - oder entscheidet bei jeder Frage von neuem, falls ihr keiner Agenda folgt. Es liegt bei euch. Wie Miechowski angibt, haben die Leute nicht immer recht. Glaubt nicht blind allem, was sie sagen. Auch ein rauer Führungsstil hat ein lohnendes Ergebnis zur Folge, wenn ihr das Überleben sichert. Um schwierige Entscheidungen kommt ihr nicht herum: "Letzten Endes kannst du ein guter und sorgsamer Anführer sein, aber es ist eine echte Herausforderung."
Klar ist, dass Frostpunk ein festes Ende hat. Ihr folgt einer Geschichte, in der ihr herausfindet, was mit der Erde und der Zivilisation passiert ist. Ihr spielt eine bestimmte Zahl an Tagen, wobei Abweichungen anhand eures Fortschritts in der Story möglich sind. Früher oder später kommt dann unausweichlich das Ende.
"Abhängig von deinem Spielstil und deinen Entscheidungen gibt es verschiedene Enden, die zeigen, welche Art von Gesellschaft du in der letzten Stadt auf der Erde hinterlässt. Ich bin mir nicht sicher, wie lange ein Durchgang dauert, da Spieler in den Tests unterschiedlich lange brauchten. Sagen wir zehn Stunden. Aber wir sprechen hier über das Standardszenario. Nach dem Ende gibt es zwei weitere Szenarien mit verschiedenen sozialen Klassen und Technologien, die ein anderes Erlebnis im Frostpunk-Universum ermöglichen", erklärt Miechowski.
Für 11 bit war es ein langer und harter Entwicklungsprozess, der nicht ohne amüsante Augenblicke blieb: "Wir hatten gewaltige Leute, die größer als die Generatoren waren, Bewohner verschwanden, nachdem sie ihre Arbeit anfingen, und die Automatons machten den Moonwalk... Oder ein riesiger Weihnachtsbaum statt eines Generators und Zelte in Form verpackter Geschenke. Das Letzte war sogar recht niedlich", sagt Stokalski.
Auf This War of Mine blickten die Entwickler bei der Arbeit an Frostpunk kaum zurück, obwohl Druck von außen vorhanden war. This War of Mine kam gut an und daraus resultieren zwangsläufig hohe Erwartungen an Frostpunk.
Miechowski dazu: "Was immer wir tun, unsere Aufgabe ist, mit der vorhanden Manpower und den Ressourcen daraus das bestmögliche Spiel zu machen. Wir können nicht auf das zurückblicken, was wir zuvor getan haben. Wir versuchen einfach sicherzustellen, dass wir alles dafür geben, um ein tolles Spielerlebnis zu bieten. So gehen mir mit dem Druck von außen um."
"Ich hoffe, wir machen in Zukunft verschiedene Spiele. Es hilft nicht, sie jedes Mal mit dem vorherigen Titel vergleichen. Es geht immer darum, die zu dem Zeitpunkt bestmögliche Qualität zu erreichen. Das Feedback der Presse und Community ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit, aber wir möchten uns nicht noch mehr unter Druck setzen. Wir versuchen dieses wertvolle Feedback anzuwenden und ein tolles Spielerlebnis abzuliefern, in der Hoffnung, dass es die Zeit wert ist, die Spieler und Journalisten darin investieren."
Zuerst bleibt Frostpunk dem PC vorbehalten, Miechowski hofft zugleich auf eine Umsetzung für Konsolen. Ob und wie das machbar ist, schaut sich das Team nach der Veröffentlichung der PC-Version genauer an. Primär hängt es davon ab, eine intuitive Steuerung für Gamepads zu entwickeln, was ihm zufolge keine einfache Aufgabe ist.
Was die inhaltliche Zukunft des Spiels betrifft, haben die Macher Ideen für Erweiterungen dieses Universums und er ist zuversichtlich, dass die umgesetzt werden. "Ich hoffe, dass wir in der Lage sind, coole Modding-Tools für das Spiel abzuliefern. Wir haben das bei This War of Mine getan, also sollten wir das bei Frostpunk ebenfalls", fügt er hinzu.
Bis jetzt ist das alles noch Zukunftsmusik. Erst einmal bleibt euch die Möglichkeit, euch mit dem Hauptspiel zu vergnügen, das ab sofort erhältlich ist und eure Überlebenskünste auf die Probe stellt.