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Früher war alles besser

Wirklich?

Es gibt so ein paar Sachen, die kann man immer wieder in Foren, Kommentaren oder sonst wo im Internet lesen. In verschiedenen Variationen und speziellen Bezügen, aber doch mit einem gewissen Grundkanon an Thesen:

These 1: Früher gab es viel mehr Vielfalt, heute sind alles doch eh nur Shooter.

These 2: Früher waren Spiele viel kreativer und innovativer.

These 3: Früher hatten die Entwickler nicht nur Kommerz im Auge, sondern Liebe für die Spiele.

These 4: Früher war alles besser.

Früher war also alles besser, hm? Spiele waren ehrlicher, es gab nicht nur Shooter und so weiter? Innovation und Tiefgang an jeder Straßenecke und jeden Tag war es ein pures Vergnügen, diesem Hobby zu frönen?

Ich habe auch diese Tage. Aber hinterfragt man das Ganze auch nur für 5 Minuten, sieht die Welt plötzlich wieder sehr relativ und ganz normal aus. Nämlich, dass wir früher zwar einen Kaiser, aber dann später keineswegs jeden Tag ein Super Mario World oder Syndicate hatten.

Ich sehe, woher der Gedanke kommt, gerade jetzt, wo beliebte Franchises wie UFO oder Syndicate als Shooter eine Wiederauferstehung feiern. Jedes Jahr ein Call of Duty, jedes Jahr bringt die Konkurrenz welche raus und sie sehen sich, legt man mal Screenshots nebeneinander, doch recht ähnlich. Vor allem aber spielt sich einer wie der andere, zumindest in den allermeisten Fällen. Bewegt das Fadenkreuz auf ein Feind-Sprite, drückt Trigger. Ob es jetzt Killzone, Halo, oder CoD heißt, das Prinzip ist gleich.

Aber das gab es früher auch. Da sah für ein paar Jahre jedes Spiel erst wie Wolfenstein und später wie Doom aus. Erinnern kann sich keiner mehr an diese "Klassiker", weil sie Dutzendware waren und als solche auch vergessen wurden. Das ist ein Teil des Problems. Wir erinnern uns in erster Linie nur an die großen Highlights und blenden den Müll aus, mit dem wir einen Großteil der Zeit bestritten. Weil es eben historisch gesehen Ramsch war.

Das lässt sich weiter zurückverfolgen. Bevor es die Shooter waren, dominierten auf den Konsolen die Jump'n'Runs und sidescrollenden Prügelgames wie Final Fight. Ja, früher war es gut, weil es Marios und Sonics gab. Oder eben Final Fight. Die guten Sonics. An die wir uns gerne erinnern. Aber daneben erschien jeden Tag ein weiterer Hüpfer. Die Bubsys, Zools und wie sie alle hießen. Teilweise nicht mal schlechte Spiele. Und dann waren da noch die Hüpf'n'Shoots. Jeden, einzelnen Tag. Findet eine Spielezeitschrift aus der Zeit, in der nicht mindestens ein oder zwei sidescollende Games getestet wurden, in denen der Held mit einer wie auch immer gearteten Waffe von links nach rechts wanderte. Die waren keine Highlights. Von der Genre-Frequenz her die Shooter der 90er. Und sie waren oft genug noch viel langweiliger und dröger, als es selbst ein Durchschnitts-Shooter heute ist. Wir erinnern uns im Schnitt an den einen ASM-Mega-Hit und verdrängen leicht, dass dahinter jeden Monat ein ganzes Heft folgte.

Dass es heute weniger Innovation und Kreativität gebe, halte ich auch für ein Gerücht. Um die Jahrtausendwende gab es eine Phase, in der ich dem zumindest unter Vorbehalt zugestimmt hätte. War bis in die 90er hinein ein winziges, talentiertes und letztlich preiswertes Team genug, um konkurrenzfähig zu sein, wurde die Entwicklung eines Spiels, für das man Vollpreis verlangen kann, irgendwann einfach zu teuer. Die Erwartungshaltung stieg, Grafik und Sound waren nicht mehr optional, wenn man Breitenwirkung haben wollte. Große Teams müssen das stemmen. Fragt Bizarre.

Statt also auf Risiko zu spielen und große Investitionen zu gefährden, indem man unerprobtes Material loslässt, erschienen gefühlt immer mehr Spiele im AAA-Bereich, die man so oder ähnlich kannte und kennt. Das nächste Call of Duty riskiert nicht alles, was es hat, indem es mutig wird. Es hält seine Qualität und verfeinert sie. Wer das mag, gut. Ich zähle mich dazu. Aber gleichzeitig sehe ich natürlich die Notwendigkeit, auch mal was zu versuchen, ich will ja auf mein Angry Birds und Minecraft nicht verzichten. Und gerade deshalb leben wir in einem goldenen Zeitalter, in dem die Situation so ist, dass sie eigentlich nie besser war.

Auf dem PC sowieso und inzwischen auch auf den Konsolen haben sich Plattformen etabliert, über die auch kleine Projekte aus teilweise Ein-Mann-Schmieden eine echte Chance haben. Steam, XBLA, PSN oder notfalls auch nur eine Website mit ein wenig Facebook-Erfolg. Im Extremfall ist das dann ein Minecraft, Braid oder Binding of Isaac, es kann aber auch der eher experimentelle Titel eines großen Hauses wie From Dust von Ubisoft sein. Kleines Team, großer Publisher, dank DL-Release eine echte Chance für einen frischen Gedanken. Es auf ein 50-Euro-Packungs-Produkt aufzupowern haben sie sich nicht getraut, nötig war es eh nicht und dank der DL-Plattformen konnte es (hoffentlich) gewinnbringend an den glücklichen Spieler ausgeliefert werden.

Damals wäre es auch erschienen, keine Frage. Nur hätte es nicht 10 Euro, sondern 80 bis 140 Mark je nach Plattform gekostet. Insoweit war es früher nicht besser, es war vor allem teurer. Betrachtet man es genau, leben wir von dieser Warte in der besten aller Welten. Wer möchte, kauft die AAA-Titel, die auch günstiger sind, als es in den frühen 90ern der Fall war - Acclaim oder Activision nahmen bis zu 160 Mark für ein Super-Nintendo-Modul -, wer es frischer und experimenteller mag, durchforstet Steam, XBLA, PSN oder die Pad-Apps nach Schätzen. Jeder Geschmack wird bedient, für jeden Geldbeutel ist was dabei, der Nachschub deutlich hochwertiger, als es je der Fall war. Was genau war da früher noch mal besser? Die obskuren Public-Domain-Disketten oder später CDs als "Underground"-Vertriebsweg? Die Cracker-Demo-Coder-Party, auf der geswapped wurde?

Auch gibt es heutzutage weit weniger wirklich richtig schlechte Spiele. Durchforstet man Listen wie zum Beispiel auf Metacritic, fällt auf, dass der rot-markierte Bodensatz dünn ist. Die großen Publisher haben Qualitätskontrollen, durch die nur noch selten ein Amy durchrutscht. Das heißt nicht, dass alles Gold ist, was in einer Packung landet, aber selbst die Filmlizenz-Games haben einen gewissen Standard erreicht. Dass ich mal eine Lanze für das letzte Harry-Potter-Game brechen würde, hätte ich ja auch nicht gedacht, aber im Vergleich zu dem Lizenz-Crap, der in der 8- und 16-Bit-Phase den Markt überschwemmte, egal ob auf Konsole oder PC, sind das immer noch Perlen. Wer mal ein Wayne´s World oder Hudson Hawk oder selbst ein Terminator spielte, weiß, was er am nach heutigen Maßstäben durchschnittlichem Terminator: Salvation hat. Ein Spiel, das man gelangweilt durchzockt, das keinen bleibenden Eindruck hinterlässt, aber einen nicht verleitet, das Hobby ein für alle Mal an den Nagel zu hängen, weil man schon wieder Anti-Spaß für 100+ Mark kaufte. Die schlechten Spiele sind nicht ausgestorben, sie sind nur weit weniger schlecht. Und wir deshalb weit anspruchsvoller. Oder vielleicht auch nur verwöhnter.

Auch die Argumentation, dass heute ja im Gegensatz zu früher alles nur ein jährlicher Aufguss nach dem anderen sei, lasse ich nur zur Hälfte gelten. Ja, es gibt sehr viel jährlichen Neuaufguss ohne allzu große Änderungen. Aber das liegt zum einen im Auge des Betrachters - jeder FIFA- oder PES-Fan kann mich damit zu Tode langweilen, was dieses Jahr viel besser sei als letztes, für mich sehen die Games identisch aus - zum anderen ist das kein Vorrecht unserer aktuellen Periode des Gamings. Ein sehr populäres Beispiel dürfte Street Fighter sein. Fast jedes Jahr gab es Anfang der 90er ein Update, mal vier Kämpfer mehr, mal ein neuer Spielmodus, nie etwas groß anderes und für den Uneingeweihten faktisch nicht unterscheidbar. Mega Man, SSIs Gold Box Games, Worlds of Ultima und so weiter, sie alle erschienen in schnellen Abständen, sie nutzten teilweise identische technische Engines mit identischen Spielabläufen und teilweise wurden sie mit jedem Jahr sogar teurer! Street Fighter 2 kostete 100 Mark, Championship und Turbo lagen mit 130-140 Mark deutlich darüber. Wenigstens ist Capcom jetzt ehrlich genug, Street Fighter 4 Turbo für zwei Drittel des Preises von Teil 4 zu verkaufen...

Auch der Spruch, dass die Entwickler ja früher noch mit dem Herz bei der Sache waren und heute nur noch der Dollar regiert... Ich habe schlechte Nachrichten: Das war damals nicht anders. Und damit meine ich nicht fünf oder zehn Jahre zurück. Der real existierende Konflikt zwischen "ich mache alles, was ich programmieren und schaffen will, fuck the cost and fuck the rest" und "meine Miete zahlen zu können ist ne coole Sache" ist uralt und führt uns bis zu Atari zurück. Was wir hier hatten, war Anfang der 70er eine High-Tech-Nerd-Hippie-Kommune, in der die kreativen Schnellschüsse in Lichtgeschwindigkeit realisiert wurden. Und gleichzeitig eine Firma, die ein Dutzend Mal in drei Jahren nicht wusste, ob nicht schon morgen der Traum zu Ende ist, wenn alle erst mal auf der Straße sitzen. Für die Finanzierung des 2600er-Systems stieg dann Warner ein - auf Wunsch und mit Dankeschön von Atari - und man kann jetzt natürlich sagen, dass sie Atari zerstörten, als sie die alte Gleichung durch BWL ersetzten. Zu einem Teil sicher irgendwo, aber sie taten das nicht aus bösen Absichten, sie taten einfach das, worin sie gut waren und von dem sie glaubten, dass es nötig war. Womit sie wahrscheinlich richtig lagen.

Die Welt ist nie schwarz-weiß, beide Seiten hatten recht, nur muss die Balance gefunden werden. Manchmal klappt das, manchmal nicht und ich will sicher auch nicht alle Auswüchse verteidigen, die sich bei Arbeitszeitregelungen in einigen Konzernen - glücklicherweise meist vorübergehend - breitmachten. Aber Geld mussten sie irgendwo alle verdienen. Immer. Das musste EA Anfang der 80er schnell verstehen, das hätte Ion Storm Ende der 90er berücksichtigen sollen und das Herz bei der Entwicklung des letzten Final Fantasy war sicher bei den Kreativen auch am rechten Fleck. Aber gleichzeitig wollen sie halt auch morgen noch die Miete zahlen. Es ist eine Balance. War es immer, wird es immer sein. Aber ich denke nicht, dass der Entwickler eines AAA-Produkts heute deshalb automatisch seiner eigene Schöpfung keine Liebe entgegenbringt.

Was ich mit all dem sagen will? Dass mir diese ganzen Postings und Kommentare, die gebetsmühlenartig oben genannte Thesen an die Foren-Wände nageln, ziemlich auf den Kranz gehen. Früher war nicht alles besser. Es war meistens nicht einmal anders. Manchmal sogar deutlich mehr zum Kotzen, um eine scheinbar in Bezug auf aktuelle Spiele populäre Beschreibung zu nutzen.

Ich kann bis zu einem gewissen Grad verstehen, woher diese Einstellung kommt, aber hauptsächlich, wenn es aus meiner eigenen Gamer-Generation schallt. Mit meine besten Spielerinnerungen sind eben Syndicate, Ultima III, Final Fantasy IV, das erste Quest for Glory - auf einem Hercules-Monitor... - und Sid Meier´s Covert Action. Nicht, weil diese Spiele unendlich besser wären, als alles, was es heute gibt. Sondern weil es Kindheitserinnerungen sind, die ich aus diesem Hobby, dem ich seit 1985 die Treue halte, mit mir herumtrage. Aus genau dem gleichen Grund ist das erste Fiddler's-Green-Album viel besser als alles, was die Band heute macht. Es sind glückliche Jugenderinnerungen, dagegen kann die neue Scheibe genauso wenig anstinken wie so mancher neue Spieletitel.

Man sollte sich von diesem Ballast befreien, ohne diese Erinnerungen aufzugeben. Das ist der einzige Rat, den ich geben kann. Anderenfalls verwandelt man sich vor seiner Zeit in alte, grumpelige Nörgler, die den ganzen Tag erzählen, wie viel besser früher alles war. Als wir noch einen Kaiser hatten.

Das wäre eine meiner üblichen Zeilen, um zu enden, aber ich bin noch nicht fertig. Ich habe diese Thesen schon zu oft von Leuten gehört, die 15 Jahre jünger sind als ich und das fand ich befremdlich. Oder eigentlich nicht. Ich war auch so. Irgendwie. Vor 15 Jahren. Nur halt nicht bei Spielen. "8-Bit-Retro ist das einzig Wahre", "Indie ist alles" und so weiter. Ich hörte mit 20 echt komische Indie-Mucke, Kino kam nur von Arthaus, und wenn der Autor eines Buches kein drogenzerfressener Franzose mauretanischer Abstammung mit kommunistischem Hintergrund war, fasste ich es nicht an. Das war einerseits, wie ich inzwischen überzeugt bin, prätentiös, so wie ich auch glaube, dass es wichtig war, sich mit solchem Material zu einem Zeitpunkt im Leben auseinanderzusetzen. Ganz von dem direkten Druck humanitärer Schulbildung befreit und mit selbstinduzierten Spezial-Wirkstoff-Reaktionen im Kopf angereichert seinen Horizont erweiternd. Das kann auch ein wenig für Spiele gelten. Jeder Idiot spielt Gears, ich dagegen - Kinn und Nase hoch - nicht mal Limbo, weil das zu Mainstream ist.

Wenn jemand gerade in dieser Phase/Stimmung/Lebenseinstellung ist: super. Fühlt sich gut an. Ganz ehrlich, ich applaudiere vielleicht nicht, aber seid sicher, ein wenig neide ich es auch. Denn dieses goldene Zeitalter aller Möglichkeiten spielerischer Experimente über tausend Vertriebswege ermöglicht es, das in allen Facetten auszuleben.

Aber man sollte nicht im gleichen Atemzug erzählen, dass früher alles besser war, als noch "richtige" Spiele erschienen. Scheinbar hat so mancher nie erfahren oder sehr weit verdrängt, wie scheiße diese "richtigen" Games früher sein konnten und ein sehr hoher Prozentsatz auch war. Früher war eine Menge, aber sicher nicht alles besser.

Vieles nicht mal groß anders.

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Martin Woger Avatar
Martin Woger: Chefredakteur seit 2011, Gamer seit 1984, Mensch seit 1975, mag PC-Engines und alles sonst, was nicht FIFA oder RTS heißt.
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