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Gothic 3

Rock around the clock

„Mein Gott, siehst Du scheiße aus!“. Charmant kommentiert Sandra beim Aufstehen die Auswirkungen von sieben Tagen Gothic 3. Leider hat meine Frau in der Regel Recht, mit dem was sie sagt. Wenn mir ein Rollenspiel nicht einfach nur gut gefällt, sondern mich voll und ganz in seinen Bann zieht, dann neige ich zur Verwahrlosung. Gottseidank passiert das nicht oft. Zuletzt läutete 2002 der Veröffentlichungstag von Gothic 2 einen mehrwöchigen Rückfall in die Barbarei ein. Warum rasieren, warum kämmen, warum schlafen, wenn ich in dieser Zeit zocken kann? Zwei Wochen lang war ich damals ausschließlich im Spiel - oder im Internet auf der Suche nach Tipps dazu. Jeder wird also den Schauer von Erregung verstehen, der mich vor genau einer Woche durchfuhr, als mir der DHL-Mensch eine Gothic-3-Version in die Hand drückte. Die Vorgeschichte zu dieser Finalversion sollten die meisten Leser inzwischen kennen: eine erste Master-DVD enthielt nach über drei Jahren Entwicklungszeit noch massive Bugs, aber wurde von Koch Media Anfang September seltsamerweise trotzdem zum Pressetest freigegeben. Ein Spielemagazin nahm die Steilvorlage an, und titelte mit „Bug-Skandal“ und „Riesen-Enttäuschung“. Zu voreilig? Mit Sicherheit. Die Kollegen hätten die zweite, verbesserte Goldmaster abwarten sollen. Zwar enthält die Version, die am 13. Oktober in die Läden kommt, immer noch zahlreiche Fehler, aber Gothic 3 enttäuscht die hohen Erwartungen trotzdem nicht.

Ein weisses V in der Bildschirmmitte hilft Bogenschützen beim Zielen

Ein erster Eindruck, den wir bereits vor einer Woche veröffentlichten, hat sich vollends bestätigt: der jüngste Spross der Gothic-Reihe ist grandios geworden! Wer einen Rechner mit entsprechend leistungsfähigem Innenleben sein Eigen nennt, wird viel Freude und nur wenig Frust erleben. Da immer noch zwei Tage bis zur Veröffentlichung bleiben, und viele Fans jetzt verunsichert sind, haken wir die strittigen Punkte direkt zu Anfang ab: Erstens, die Performance. Ihr braucht RAM. Viel RAM. Mit weniger als 1 GByte wird das Spiel zur Ruckelpartie. Besser gleich 2 GByte oder vier. Dazu eine kräftige CPU um die 3 GHz und nach Möglichkeit eine Grafikkarte der aktuellen Oberklasse. Damit lässt sich Gothic 3 dann schön flüssig spielen. Auf Normal-PCs leider nur mit erheblichen Abstrichen bei den Grafikdetails. Zweitens, sogenannte A-Bugs. Gemeint sind Programmfehler, die so gravierend sind, dass die Spielbarkeit erheblich leidet. A-Bugs habe ich keine gefunden. Dafür aber einige B-Bugs, falls dieses Wort existiert. Die NPC-Wegfindung ist beispielsweise noch verbesserungswürdig, es gibt manchmal Gegner-KI-Totalaussetzer, und der eine oder andere Nebenquest lässt sich nicht korrekt abschließen. Auch mal Clippingfehler. Außerdem stürzt das Spiel gelegentlich ab - meiner Erfahrung nach durchschnittlich einmal pro drei Stunden. Ende der Liste. Mehr habe ich nach einer Woche Hardcore-Zocken nicht an Fehlern zu beanstanden.

Orks sind böse! Oder?

Während der Nachtstunden und in unterirdischen Verliesen leisten Fackeln wertvolle Dienste. Der Spielfluss leidet aber unter der aufwändigen Schatten-Berechnung.

Gothic 3 versetzt uns abrupt in ein blutiges Scharmützel zwischen einem Dutzend Orks und Menschen. Ein Popup-Fenster erklärt nach dem Spielstart in wenigen Sätzen, wie man die Waffe benutzt, und schon beginnt die Action. Kurzer Linksklick für Standardschlag, Rechtsklick für einen schnellen Stich. Dazu kann man noch Blocken (Rechtsklick halten) und besonders kräftig zuschlagen (Linksklick lang). Klingt recht einfach, hat aber so gut wie nichts mehr mit dem Vorgänger gemeinsam. Wen soll ich hier eigentlich bekämpfen? Orks sind böse – das weiß ich aus Gothic 2 -, also prügele ich in dem Durcheinander schnurstracks auf alles ein, was ein Fell hat. Solange ich mit meinem Schwert („Orktöter“) von hinten auf die Rücken der Viecher einklopfe, läuft tatsächlich alles glatt. Das ist ja einfach! Ich klicke völlig wahllos mit der Maus, mal links, mal rechts. Klick-klick. Die Orks brechen zusammen! Ich habe es voll drauf! Klick-klick-klick. Dann dreht sich doch mal einer der Orks in meine Richtung und holt mit seiner Axt aus. Keine Sekunde später liegt mein Held röchelnd am Boden. Als er wieder auf den Beinen steht, ist der Kampf schon gelaufen. Wirklich verstanden, was hier gerade ablief, habe ich nicht. Aber das macht nichts, ich habe gesiegt, und ringsum liegen haufenweise Orkwaffen, die ich bereits vergnügt summend in meinen Rucksack stopfe. Ich muss zugeben, dass ich mir den Einstieg in Gothic 3 anders vorgestellt habe, gemütlicher. Ein einsamer Wolf hinter Xardas Turm hätte für den Anfang auch gereicht, denke ich grimmig. Während ich alle toten Gegner ausplündere, verdränge ich den Gedanken. Noch keine 15 Minuten gespielt, und schon Beute im Wert von locker über 1.000 Gold zusammen? So kann es von mir aus weitergehen! Ich bin bereit!

Tiefenunschärfe. Man erkennt gut, wie die 3D-Engine weit enfernte Bauwerk unscharf erscheinen lässt. Der Effekt fördert die Atmosphäre enorm.

Nach dem hektischen Eröffnungskampf wird es ruhiger. Die perfekte Gelegenheit ausführlich mit allen NPCs des Dorfs zu plaudern, um ein aktuelles Bild der Lage zu kriegen. Selbige ist absolut düster. Während der Held mit seinen Kampfgefährten einige Monate auf der Ferieninsel Khorinis verbrachte, wurde das Königreich Myrtana von den Orks überrannt. Die Menschen wurden unterjocht und brutal versklavt. In der belagerten Hauptstadt herrscht zwar nach wie vor König Rhobar, aber ansonsten beschränkt sich der offene Widerstand auf im ganzen Land verstreute Rebellenlager. Je weiter man im Spiel vorankommt, umso komplexer wird das politische Gesamtbild. So gibt es etwa Menschen, die die Orks unterstützen, so genannte Ork-Söldner. Unter denen gibt es wiederum Untergrundkämpfer, die nur so tun als ob. Die Vertreter der dritten großen Fraktion, die Assassinen aus der Wüstenregion Varant, arbeiten der haarigen Besatzungsmacht zwar als Kopfgeldjäger zu, agiert sonst aber vollkommen eigenständig. Auch Magier Xardas ist zu einem späteren Zeitpunkt wieder mit von der Partie – aber, seltsam, warum unterstützt er jetzt die Orks? Dann wären da noch die Druiden, die Barbaren von Nordmar, die Diebesgilde und so weiter. Es ist nicht wichtig, gleich am Anfang zu verstehen, wer wen gut riechen kann. Kategorien wie Gut oder Böse sind in Gothic 3 ohnehin nebensächlich. Man kann aber grob gesagt einen von drei Storypfaden einschlagen, die zu unterschiedlichen Endsequenzen führen. Entweder man schließt sich den Rebellen, den Orks oder den undurchsichtigen Assassinen an. Es bleibt viel Zeit für diese Entscheidung, denn am Anfang teilen alle Fraktionen noch den selben roten Questfaden: unser früherer Weggefährte Lester begleitet uns nach dem Willkommens-Gemetzel weiter in das versteckte Rebellendorf Reddock, wo erste typische RPG-Aufträge warten. Wildschweine killen. Waffennachschub besorgen. Minecrawler kloppen. Bevor man sich versieht, ist das Questbuch gefüllt mit Aufträgen. Einige davon führen uns in benachbarte Siedlungen und Städte. Von dort aus ziehen sich die Questlinien wie Spinnenfäden immer weiter. Kreuz und quer durchs ganze Land.

Lauf Forrest, lauf!

Piranha Bytes hat beim Questsystem hervorragende Arbeit geleistet. Die mehreren Hundert Aufträge leiten den Spieler immer geschickt dorthin, wo es wieder etwas Neues zu entdecken gibt. Die durchgehende Story wird mit jedem erledigten Quest unaufhaltsam weiter gesponnen. Trotzdem hat man nicht das Gefühl, wie ferngesteuert zu agieren. Die Illusion vollkommener Handlungsfreiheit bleibt, gerade weil man viele Aufträge auch auf zwei oder mehr Varianten lösen kann. Geht man einen Quest zu früh an, so zeigt einem das zuständige Monster einfach, wo es langgeht: Bamm. Tot. Also Spielstand laden und nochmal zurück in Gebiete mit zahmerer Fauna. Hier besteht fast kein Unterschied zum Vorgängerspiel. Da Myrtana ein viel größeres Land ist als Khorinis, helfen Euch Teleportrunen, die Laufwege im erträglichen Rahmen zu halten. In jeder der über 20 Städte und Dörfer versteckt sich irgendwo einer, allerdings ist es nicht immer leicht, den begehrten Zauberstein zu finden. Trotz Teleportsystem bleibt Eure Hauptbeschäftigung der Dauerlauf. Dabei ist der neu hinzugekommene Ausdauer-Balken ein nützlicher Wegbegleiter. Ist dieser ausreichend gefüllt, so kann man durch Halten der Shift-Taste einen ordentlichen Sprint über mehrere hundert Meter hinlegen. Mir begegnete kein Monster, das einen sprintenden Helden einholen kann. Das klingt nach Easy-Going, anschießen, weglaufen, anschießen, weglaufen, anschießen, aber ganz so leicht ist es bei starken Kontrahenten dann doch nicht.

Informationen zu unserer Test-Philosophie findest du unter "So testen wir".

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