Grand Theft Auto Online testet mich
Los Santos als Spiegel der Psyche: Bin ich echt so rachsüchtig, schießwütig und vergnügungssüchtig?
Ich will ja nicht angeben, aber ich bin ein Ass im Armdrücken. Zumindest in Grand Theft Auto Online. Mittlerweile habe ich meine zwölfte Partie in Folge gewonnen. Bislang ungeschlagen. Vielleicht liegt es daran, dass mein Charakter laut seiner Biografie acht Stunden täglich Gewichte stemmt und genug Schlaf bekommt. Ein kerngesundes Kraftpaket hab ich mir da gezüchtet. Vermutlich verschafft mir auch mein Rütteltraining in den 80ern einen Vorteil. Ich sag nur C64, 'Summer Games', Competition Pro Joystick. Das schafft Reflexe, die fürs Leben bleiben. Die Steuerung beim Armdrücken in GTA Online ist dieselbe.
Fakt ist auch, dass mir eben der Verlierer des letzten Matches mit einer Pumpgun in den Rücken geschossen hat. Find ich irgendwie unsportlich. Hätte es in den 80ern eher nicht gegeben. Vielleicht verrät GTA Online in solchen Momenten mehr über unsere moderne Gesellschaft, als den Machern und Spielern bewusst ist. Widerstehen wir dem Teufelchen auf unserer Schulter und dem geladenen Feuerstab in unserem Inventar? Oder halten wir drauf, weil unser Gegenüber kurz darauf eh respawnt? Selbst wenn der ein Kopfgeld auf uns aussetzt (ja, das geht bei Lester), bleibt eine bleihaltige Retourkutsche folgenlos. Und ist der nicht sowieso selbst Schuld? Hätte ja auch den Passivmodus aktivieren können (dazu gleich mehr). Macht mich das jetzt zum schlechten Verlierer, wenn das letzte Wort die Uzi spricht? Wie war gleich die Adresse von Michaels Therapeuten? Wie auch immer. Ich will jetzt nicht ins Philosophische abdriften. Manchmal ist eine Pixelpumpgun nur eine Pixelpumpgun. Und der Mehrspielermodus von GTA 5 ist auf jeden Fall eine Gaudi. Wenn er denn funktioniert.
Aller Anfang ist Murks - oder auch nicht.
Im Moment überschlagen sich die Forenthreads und Meldungen im Netz wegen der Probleme beim Start von Grand Theft Auto Online. Zuerst kamen die Leute nicht auf die Server, dann nervten ewig lange Ladezeiten, Lagging macht auch jetzt noch diverse Mehrspieler-Partien zur Tortur, es gab und gibt Zeitgenossen, die sich ihre virtuellen Konten durch Exploits füllen. Besonders schwer wog zuletzt, dass zahllose Charaktere auf Nimmerwiedersehen mitsamt Geld, Immobilien und fahrbaren Untersätzen im Nirvana verpufften. Wenn ein Speicherstand von den Cloudservern verschwindet, ist das für einen Spielehersteller der GAU. Grund genug, dass sich Rockstar genötigt sah, einen Workaround zu veröffentlichen, wie man sich im Falle eines scheinbar gelöschten Charakters verhalten solle. Mit Patches und Durchhalteparolen versucht man derweil, die wütenden Spieler zu besänftigen und die Probleme zu beheben.
Allein, ich bekam vom Gemurkse in den letzten Tagen kaum etwas mit. Auf meiner Xbox funktionierte GTA Online - bis auf ein paar kleinere Aussetzer - überraschend stabil. Einmal wartete ich geschlagene acht Minuten nach einem Einsatz, um wieder ins Spiel zu kommen, ein anderes Mal landete ich unversehens wieder im Solo-Modus, zweimal waren die Server down und erst eine halbe Stunde später wieder zugänglich. Mehr nicht. Ich klopfe auf Holz und hoffe, dass es so bleibt. Mein Eindruck des Mehrspielermodus ist dementsprechend positiv. Wenn es funktioniert, strotzt GTA Online vor großartigen Momenten mit anderen Spielern, für die ein Drehbuchschreiber in Hollywood entweder mit Preisen überschüttet oder in eine geschlossene Anstalt gesperrt werden würde. Die Missionen sind dabei nur der Katalysator. Den Rest erledigt die gelungene Verbindung zwischen Mehrspielermodus, Sandbox und menschlicher Natur. Pumpgun, Baby!
Genetik, Raubüberfälle, Gurus und Rachegelüste.
Schon die Charaktererstellung verläuft anders, als ich das erwartet hätte. Im Biounterricht gut aufgepasst? Das könnte hilfreich sein.
Schon die Charaktererstellung verläuft anders, als ich das erwartet hätte. Im Biounterricht gut aufgepasst? Das könnte hilfreich sein. Ihr bestimmt das Aussehen eures Charakters nämlich, indem ihr aus einer Reihe Großmüttern und -Vätern Paare bildet, deren Aussehen sich auf die Eltern vererbt. Dadurch wiederum wird indirekt das Gesicht eures Alter-Egos berechnet. Doch damit nicht genug. Indem ihr festlegt, wie viele Stunden euer Schützling im Bett, im Fitnessstudio, auf der Fernseh-Couch, mit der Familie, bei Partys oder im (legalen und illegalen) Job verbringt, bestimmt ihr sowohl seine Statuswerte als auch sein Äußeres. Acht Stunden in der Muckibude? Das Schreit nach Jogginghosen und Muskelshirt. Stubenhocker auf dem Sofa? Dann gibt es siffige Hip-Hop-Klamotten mit Käppi. Ein Job als Gangster? Das hinterlässt unschöne Spuren in Gesicht und Outfit. Umgekehrt trägt einen spießigen Anzug, wer den größten Teil seines Tages im Büro zubringt.
Mit eurem frischgebackenen Charakter geht es ab in die Sandbox von Los Santos. Dort werdet ihr am Flughafen von Lamar in Empfang genommen, der euch nach einer kurzen Einleitungssequenz ins erste Straßenrennen schleust. Das ist nur ein Weg, um an Cash und Erfahrungspunkte für den Stufenanstieg zu kommen, durch den ihr neue Outfits, Waffen und Beschäftigungen freischaltet. Zusätzlich zu den typischen Minigames, die man aus dem Einzelspielermodus kennt und die für GTA Online extra um eine Mehrspielerkomponente erweitert wurden, sind es drei Modi, in denen ihr euch tummeln dürft: Rennen, Deathmatch und Missionen. Daneben könnt ihr Raubüberfälle verüben oder den anderen 15 Spielern während einer Online-Partie auf die Nüsse gehen. Ein Blick auf die Karte, ins Hauptmenü oder auf das Smartphone genügt, um Ruckzuck eine kurzweilige Beschäftigung für den Abend zu finden.
Ich versuche es zunächst mit Raubüberfällen (lässt das tief blicken? Keine Ahnung). In einem Laden am Pier kaufe ich mir eine Hockeymaske, damit ich das Zielobjekt später noch mal betreten kann. Dann klaue ich mir noch schnell einen Fluchtwagen, den ich in Los Santos Customs aufmotzen und mit Versicherung und Peilsender an meinen Charakter binden lasse - so steht beim Respawn das Gefährt immer in Reichweite und wird per GPS auf der Karte markiert. Ich fahre an eine Tankstelle am Rande der Wüste, ziehe die Maske an, marschiere in den Laden und richte meine Pistole auf den Kassierer. Der versteht sofort, öffnet panisch die Kasse und füllt die Scheine in eine Plastiktüte. Mein Radar blinkt rot und blau - die Cops sind unterwegs. Jetzt könnte ich den Typ per Headset anbrüllen, dass er schneller packen soll. Er ist fertig, ich renne raus zum Auto. Die Polizei fährt gerade ein. Ich werfe mich hinters Steuer, rase los, in Richtung Wüste. Klar schüttle ich die Gesetzeshüter ab - hat man ja im Hauptspiel perfektioniert.
Ich bin tot und bekomme von Sektenguru Cris Formage im Jenseits eine Einführung in die Vorzüge des Passivmodus.
Blöd nur, dass ein anderer Spieler den Budenzauber beobachtet hat und meinem Punkt auf der Karte gefolgt ist. Er rammt meinen Wagen, ich überschlage mich, rutsche eine Düne hinunter. Benommen steige ich aus, die Waffe im Anschlag. Er zieht schneller. Ich bin tot und bekomme von Sektenguru Cris Formage im Jenseits eine Einführung in die Vorzüge des Passivmodus. Während der Typ im hellblauen Jogginganzug vor blauem Himmel und Schäfchenwolken schwebt und erklärt, dass man für 100 Dollar im Optionsmenü außerhalb der Missionen nicht von anderen Spielern beschossen werden kann, grüble ich derweil, wie ich den Typen wiederfinde, der meinen Raubzug versalzen und mein Bargeld geklaut hat. Der dürfte in der Kontaktliste meines Smartphones stehen (man kann andere Spieler tatsächlich darüber kontaktieren), sofern er nicht das Spiel verlassen hat. Auf jeden Fall sollte ich meinen Cash-Vorrat schleunigst zur Bank bringen. Vom Konto kann dir keiner die Ersparnisse klauen (zumindest in GTA). Der nächste Automat nach meiner Wiederbelebung steht im Stripklub. Ja, auch den gibt es in GTA Online - jedoch in einer leicht entschärften Fassung. Die Damen lassen weniger Hüllen fallen. Aber egal. Ich will Rache. Doch leider hat der Kollege schon das Weite gesucht. Das Adrenalin kocht. Beschäftigung muss her.
Hippie-Hasch und Selbstüberschätzung
Ich greife zum Smartphone, suche offene Missionen. Keine Treffer. Macht nichts - erstelle ich selbst eine Partie. Das System sucht für mich zuverlässig geeignete Mitspieler. Meine gewählte Mission: zwei Teams, ein Hippie-Caravan mit Hasch. Wer den zuerst erobert und beim Zielpunkt abliefert, bekommt die Kohle. Ich wähle als Host den frühen Morgen und strahlenden Sonnenschein als Wetterbedingung, sorge für ausgeglichene Teams. Außerdem wette ich hundert Dollar auf meine Leute. Kurz darauf geht es los. Ich springe auf den Beifahrersitz meines Kollegen, die Knarre im Anschlag.
Wir rasen zum Drogenbus. Die andere Seite ist schon da. Mein Teamkamerad wird erschossen, ich springe aus dem Wagen in Deckung, eröffne das Feuer, bis der Rest meiner Leute eintrudelt. An dieser Stelle muss ich erwähnen, dass das Autoaim aus der Deckung heraus auch im Mehrspielermodus funktioniert. Wer seine Skills auf die Probe stellen will, wird mit GTA Online nur glücklich, wenn er solche Hilfen in den Einstellungen deaktiviert - ob die Gegenseite derartigen Verzicht übt, sei mal dahin gestellt. Klar ist: Hier geht es um Spaß, nicht um ernsthaften Wettbewerb.
Das Autoaim funktioniert auch im Mehrspielermodus. Hier geht es um Spaß, nicht um ernsthaften Wettbewerb.
Ein paar Kugeln später ist der Bus erobert. Ich fahre als Geleitschutz in einem geklauten Jeep hinterher, während ein Teammitglied das Hippie-Vehikel ins Ziel steuert. Die Gegenseite nimmt uns unter Beschuss, drängelt, ich rase über eine Leitplanke und bin kurz außer Gefecht. Doch wir gewinnen. Die Kohle aus dem Auftrag wird geteilt, die Reputationspunkte (RP) steigern meine Stufe. Nach dem Match bewerten wir die Missionsqualität und stimmen ab, welcher von sechs Einsätzen es als nächstes sein soll. Last Team Standing? Deathmatch? Rennen? Ich klinke mich aus. Will wieder ein bisschen Solo spielen.
Ein Einsatz von Simeon für ein bis zwei Spieler kommt mir da gerade Recht. Ich soll eine Karre aus Ganggebiet zurückholen. Blei liegt in der Luft, während ich mit der pinken Familienkutsche zurück zu Simeons Gebrauchtwagenladen fahre. Kein Problem. Auch eine Drogenklau-Mission von Lamar für bis zu vier Spieler ist allein zu meistern, wenn man genügend Munition und im Gepäck trägt und in Deckung bleibt. Doch dann werde ich übermütig. Simeon lässt mich zwei Autos hinterherjagen, die munter im gesamten Gebiet von Los Santos und Umgebung herumkurven und sofort aufs Gaspedal treten, wenn sie mich sehen. Mit einem Team wäre das kein Problem, doch ich bin alleine unterwegs. Egal ob mit Waffeneinsatz oder Straßenblockade - die Typen entwischen mir immer wieder aufs Neue. Die KI mag sonst nicht helle sein, hier funktioniert sie prächtig. Und dann schalten sich auch noch die Cops ein, weil ich herumgeballert habe. Entnervt gebe ich auf. Ein Hinweisfenster gemahnt mich, dass ich das nicht häufiger machen sollte, wenn ich nicht als "Spielverderber" mit anderen chronischen Abbrechern in eine Partie gesteckt werden will.
Mario Kart für Kleinkriminelle
Ich beschließe, den Abend mit einem Rennen ausklingen zu lassen. Es gibt etliche Rundkurse und Strecken zu befahren. Neben Autorennen stehen auch Motor- oder Fahrräder zur Auswahl. Für mich darf es jetzt ein klassischer Rundkurs durch die Innenstadt sein. Aus mehreren Fahrzeugen wähle ich einen Rennboliden nach meinem Gusto und warte, bis die Konkurrenz ihre Einstellungen gemacht hat. Ich setze ein paar Kröten auf den Gegenspieler mit dem höchsten Level.
Was folgt, ist ein Rennen, wie es sein sollte. Die solide Fahrphysik, die Martin in seinem Test gelobt hatte, kommt hier so richtig zur Geltung. Das Fahrgefühl ist erste Sahne, das Handling während der Rennen, die Nav-Punkte und die Einstellmöglichkeiten (Gegenverkehr, Uhrzeit, Wetter, Waffengebrauch) erfüllen Ansprüche, die ich sonst an reinrassige Rennspiele stelle. Ich jedenfalls stecke vorerst kein anderes Rennspiel ins Laufwerk. Rümpft ruhig die Nase, liebe Gran-Turismo-Experten und Need-For-Speed-Jünger. Allein die Spezialwaffen wie Raketen (Icons auf der Strecke!) oder die Möglichkeit, meinen Widersachern die Reifen zu zerballern, lassen GTA Online zum Mario Kart für Nintendo-Verächter werden. Mir macht es Spaß!
Es gäbe noch unzählige Kleinigkeiten, von denen ich schreiben könnte. Die gepflegte Partie Darts, die ich mit einem Teenager aus Kanada spielte, der keine Ahnung von Double-Out hatte und so dankbar für meine Erklärung war, dass er mir ein paar virtuelle Dollar als Dankeschön schenkte. Oder ein Wettschießen auf dem Stand bei Ammu Nation, das später in einem privaten Shootout im Deathmatch mündete, was unsere Mitspieler sehr verwirrte. Nicht zu vergessen die diversen Features mittels Rockstars Socialclub und die eigenen Crews. Die Featureliste sprengt jeden Artikel.
Obwohl die Modi und Missionen hier und da (noch) die Kreativität des Hauptspiels vermissen lassen - die Freiheit der Sandbox macht vieles wieder wett und liefert einen brillanten Moment nach dem anderen. Demnächst soll man auch eigene Einsätze zusammenklicken können - darauf bin ich sehr gespannt. Sobald Rockstar die sonstigen Startschwierigkeiten ausgeräumt hat, ist der Mehrspielermodus ein Sahnehäubchen, das den GTA-5-Kuchen perfekt veredelt. Nur wegen des Onlinemodus würde ich mir das Spiel vielleicht nicht kaufen. Doch GTA Online ist definitiv der Grund, weshalb die Disk noch lange im Laufwerk bleibt, obwohl man das Hauptspiel schon beendet hat. So. Ich geh jetzt wieder Armdrücken.