Gravity Rush 2 - Test
"Seht ihr die Wolken da drüben? Dort könnt ihr hin."
Wenn Gravity Rush 2 nächsten Mittwoch für die PS4 erscheint, erinnert das an zwei Dinge: Erstens gibt es gibt einen Vorgänger, den erst auf der PS Vita und danach auf der PS4 keiner wollte. Zweitens ist Erstens ziemlich tragisch. Der Teil mit dem "nicht wollen". Nicht, dass es die Spiele gab. Ihr wisst, was ich meine. Egal, es folgen noch eine ganze Reihe weiterer Punkte, die etwas gehaltvoller sind.
Teil eins ist ja doch die Art schüchterner Herzensbrecher, an die man nicht jeden Tag denkt, aber im Fall der Fälle kommt einem alles, nur nichts Böses in den Sinn. Eine Geschichte um ein Mädchen namens Kat mit der Kraft, die Gravitation um sich herum zu ihren Gunsten zu verlagern. Sie kann in eine beliebige Richtung fliegen und die Wolkenstadt, in der sich das Meiste abspielt, wie ein dreidimensionales Schaubild erfassen, von oben und unten, im Steig- oder Sturzflug, parallel zur Außenmauer wilde Purzelbäume schlagend oder klassisch zu Fuß (was die wenigste Zeit passiert). Dazu ein einfaches Kampfsystem, um den "Nevi" genannten Monstern gewachsen zu sein, Nebenmissionen und Sammelhurra. Teil zwei hat das auch. Weiter zum nächsten Punkt.
Drittens: Eine nahtlose Fortsetzung - wieso nicht? Nur fällt diesmal alles noch größer aus. "Verbessert" vielleicht nicht in jeder Hinsicht, zumindest aber im Geiste der Bewegungsfreude und durchaus protzig in seinen Dimensionen. Wo Gravity Rush 2 handlungsbedingt im Fahrwasser des Vorgängers schwimmt, mit all den Namen und Orten und ohne sie Neulingen großartig zu erklären, öffnet es nach dem zähen Tutorial eine für jeden begreifbare Welt in stratosphärischer Höhe. "Begreifbar" spätestens, wenn man das erste Mal eine Kante übertritt und sich einfach treiben lässt. Grundlage ist ein Verbund zueinander in der Höhe versetzter Stadtviertel voller schwebender Inseln, eine nicht nur in der Breite, sondern in sämtlichen Richtungen erfahrbare Open-World, wie man sie nicht alle Tage sieht. Hinter Wolkenfeldern zeichnen sich Turmbauten ab und über einen so traumhaften Sonnenuntergang muss man keine unnötigen Wörter verlieren.
Solche Eindrücke gehen nur schwer an der Vorstellung vorbei, wie Zelda: Skyward Sword hätte aussehen können, wäre die Wii technisch dazu in der Lage gewesen. Es ist nicht nur die Horizontale, sondern auch, was in der Vertikale passiert. Anfangs war ich darauf eingeschossen, dass es "nur" die begehbaren Bereiche des Startgebiets gibt, merkte beizeiten aber, wie weit sich die Kartenansicht herauszoomen lässt. Jirga Para Lhao heißt das komplette Areal und besteht aus mehreren nochmals in kleine Inseln zersplitterten Distrikten. Wenn man kopfüber aus den noblen Bereichen runterstürzt, durchdringt man irgendwann eine staubgraue Schicht. Die Umgebung darunter wird trist, die Musik ebenso bedächtig wie der einsetzende Regen nass, die Stimmung kippt. Die erste Ankunft in den Slums erinnerte mich an den Anime Battle Angel Alita und seine geteilte Gesellschaft. Auch hier geht es um Wohnraum in Wolkennähe und auch hier rieselt der Dreck von oben herunter, fallengelassen von den Sorglosen, direkt auf den Kopf derer, die nichts haben.
Viertens: Manche Spiele mögen es nicht zu nicht brüllen. Das ist eines davon. Sony Japans Fortsetzung behält die Nähe zum Vorgänger und zeigt Dialoge in comichaften Standbildern. Gesprochenes Wort ist selten, und wenn, dann in den wenigen Zwischensequenzen. Kat als Hauptcharakter an sich, nun, sie hat dem vermittelten Rollenbild der Frau in Videospielen nichts Relevantes hinzuzufügen. Geht es nicht gerade um existenzielle, alles bedrohende Dinge, präsentiert sie sich als Laufbursche und artig nickendes Bindeglied zwischen Spieler und Welt.
Ob man dabei so unterwürfig auftreten muss, das kann man gern zur Diskussion stellen. Ablehnung zu zeigen heißt bei ihr, hinter dem Rücken die Zunge rauszustrecken. Auf sie abgewälzte Besorgungen nimmt sie mit einem Seufzen und geht irgendwas schief, fragt sie noch dreimal nach, ob das jetzt ihre Schuld war. Gravity Rush 2 brüllt auf eine andere Weise ebenso wenig. Es fühlt sich nicht angehalten, euch mit aufblinkenden Symbolen samt Pfeil aus dem Fluss zu reißen, außer ihr seid in unmittelbarer Nähe, während einer Mission oder setzt einen händischen Wegweiser. Ansonsten: losfliegen und danach erst gucken, wohin eigentlich.
Fünftens: Open-World-Spiele dürfen sich ihrer Ausmaße gern bewusst werden. Und zwar in Sachen Bewegung und Raum. Jeder kennt das ähnlich: Showdown auf dem Dach, der Obermacker kippt vornüber, und wo geht es nun weiter? Viele Spiele folgen ihren Gesetzmäßigkeiten und bringen einen nur von hier zu bedienenden Lastenzug oder so was an. Zuletzt gesehen in The Division. Was eben mit Blick auf Setting und Spielart Sinn ergibt, will man keinen Bruch durch eine Zwischensequenz erzwingen. Und es gibt die anderen, nicht vorbereiteten Spiele.
Sie brauchen nichts als ihre Kernmechanik, insbesondere wenn diese schon vor den prächtigen Bauten, Straßenzüge und Kreuzungen stand. Gravity Rush ist eines von diesem Schlag, Sunset Overdrive ein anderes. Auch Insomniacs grelle Mutantenkeile ist insofern systemisch süchtig machender Selbstläufer, als dass sich die Stadt den Bewegungsmöglichkeiten beugt, nicht umgekehrt. Man saust auf Geländern entlang, nutzt Autodächer als Katapult zu Oberleitungen, lässt sich auf Bahnschienen fallen und findet immer Halt, den Flow nicht unterbrechen zu müssen. Wo das Auge Straßen und Dächer sieht, abstrahiert das Hirn sie zu Kanten und Leveldesign-Objekten. Irgendwann ist es ein uncooles Zeichen von Nachlässigkeit, auf dem Weg von A nach B den Boden zu berühren. Fast wie ein Minispiel innerhalb des großen, ohne als solches abgenabelt zu sein.
In Gravity Rush 2 ist es ähnlich, nur ohne Schienen. Ähnlich uncool, zu Fuß unterwegs zu sein, wo doch der ganze Himmel offensteht. Ähnlich kinetisch, solange das Hin und Her nicht langweilig wird. Und ähnlich ärgerlich, wenn der Fluss unterbrochen wird. Häuserdächer erscheinen als Plattformen für einen Zwischenhalt, die Schluchten dazwischen als Bahnen. Alles lässt sich auf seinen Zweck als Bindeglied im Leveldesign zurückführen, in dem es um Bewegung geht, die ihr zugrundeliegende Freiheit. Man startet sinnlose Routen der Aussicht und des Körpergefühls wegen, oder auf dem Weg dorthin, wo anderen Open-World-Ansätzen die Puste ausgeht, wenn sie nicht GTA5 heißen und sich von U-Boot bis Kampfjet sämtliches Rüstzeug leisten können.
Es sind Momente bedenkenloser Allmacht, aus hundert Höhenmetern gen Marktplatz zu trudeln und in einer aufgescheuchten Menge zu landen. Man fühlt sich diesen Leuten im Alltag überlegen, und das nicht nur, weil diese Leute im Alltag keine schwarzen Teermonster mit rot blinkenden Schwachstellen bekämpfen müssen. Ähnlich wie in Sunset Overdrive ist das körperliche Bewegungsspektrum Teil des Kampfes, was uns zum nächsten Punkt bringt.
Sechstens: Ragdoll-Effekte sind immer besser. Das ist eine sehr generelle Aussage und so pauschal stimmt sie wahrscheinlich nicht mal (für mich schon). Bei Gravity Rush auf jeden Fall. Kurze Erklärung: Kat hat nicht nur Bodentritte oder ein Gravitationsfeld, um nahe Objekte wie Blumenkästen, Behälter oder Schilder anzuheben und zu schleudern, was ein ähnliches Machtgefühl verschafft wie der Protagonist in The Force Unleashed. Sie hat auch einen Angriff, mit dem sie ansatzlos aus dem Schweben heraus in alle Richtungen schnellt. Mit den Füßen vorneweg natürlich, wie bei einem Sprungkick und mit einer die Körper meterweit pfeffernden Wucht. Versehen mit Ragdoll-Körperphysik hätte sich dieses Spiel für mich emotional auf ein noch höheres Level befördert. Kein Witz. So bleibt es bei vorgefertigten Animationen eines funktionalen Kampfsystems. Annehmbar, ganz witzig, mit ragdol.
Siebtens: Kaputthauen geht trotzdem. Was keinen davon abhalten sollte, das erstbeste greifbare Zeug wild in die Menge zu feuern. Probiert es aus: Stasisfeld mitten in der Einkaufsmeile und schon holzt man Stände weg, bis alles im splitternden Durcheinander endet. Siehe Bild. Hier fliegt wirklich eine ganze Menge Holz durch die Gegend und zurück bleibt nur eine Schneise der Verwüstung. Es ist die einzige Begebenheit, in der man sich der "normalen" PS4-Hardware bewusst wird (gelegentliche Slowdowns, sonst alles prima), aber wer macht denn so was auch, einfach rein und den nicht vorhandenen Granatwerfer auspacken?
Achtens: Nie ohne Äpfel. Als Kulisse besteht die Welt für den Moment des Vorbeifliegens, und das ist völlig in Ordnung. Einem flüchtigen Blick hält sie stand, mit schlendernden Passanten und all dem. Als ich das erste Mal aus großer Höhe vor einem Händler aufschlug, klatschte er. Mir war zunächst nicht klar, dass es eine seiner normalen paar Gesten ist, mit denen er jeden Tag Leute zu seinem Stand lockt, aber ein netter Moment dennoch. Bemerkenswert übrigens, wie viele Äpfel die Leute hier futtern. Welchen Kistenschlepper man auch anrempelt, es fallen immer Äpfel heraus und kullern die Straße runter. Nach einem kurzen Moment der Entrüstung mischt sich der Geschädigte wieder unter die Leute und... läuft einfach irgendeine Route entlang. Keiner von denen holt sich eine neue Kiste oder so. Ich weiß das, denn ich habe den Erstbesten zwanzig Minuten lang verfolgt. Trotzdem sind diese Äpfel überall.
Neuntens: Online-Zusätze können Spaß machen. Gravity Rush 2 verknüpft Einzel- und Mehrspielerfunktionalitäten ziemlich nett, vor allem bei den Collectables. Mit einer Kamera könnt ihr etwa Fotos von einer Schatztruhe schießen und anderen Leuten anhand geschickt ins Bild gerückter Baukräne und diverser auffälliger Wahrzeichen die Suche erleichtern. Oder ihr erstellt Strecken als Zeitherausforderung. Oder spielt einfach die vielen Nebenmissionen abseits der Geschichte, zum Beispiel die, in denen ihr mithilfe der Fotografie eines Ortes eine bestimmte Person finden sollt. Befragte Personen reagieren entweder mit Schulterzucken oder indem sie euch allmählich mit einer Handbewegung die Richtung weisen. Ohne vorweggenommenen Pfeil, nur durch Auseinandersetzung mit der Umgebung erschließt man Schritt für Schritt das Ziel, was ich immer wieder gern getan habe. Manchmal muss man auch nur ganz banal Enten finden.
Später dann, ein paar überfürsorgliche Tutorials sind vorüber, bekommt Kat einen zweiten, jederzeit wechselbaren Anzug. Der ist fantastisch. Unter anderem, weil er zu wahnsinnigen, absurd viele Meter überbrückenden Sprüngen ermuntert. Man fühlt sich fast wie in Realtime Worlds' Xbox-360-Frühwerk auf dem Weg vom Agency-Turm nach irgendwo, spätestens beim bogenförmigen Anflug auf felsige Himmelskörper wie in Super Mario Galaxy.
Und ähnlich wie in Nintendos Sternenmär geht es auch hier um Bewegung, Geschwindigkeit und das in allen Richtungen nutzbare Spielfeld im dreidimensionalen Raum. Wo sich im GTA-Umfeld niedergelassene Open-World-Spiele damit messen, was sie auf einmal aufbieten können, wie viele Features sie haben, ist Gravity Rush 2 eines darüber, was ihm fehlt: jegliche Grenze auf dem Weg von A nach B. Mit einfacher Grundidee und in langsamer Gangart überbrückt es Kilometer und irgendwann sogar die zäh heruntergeleierten Tutorials. Wenn dann auf dem Weg durch die Wolken noch bessere Missionen rausspringen als beim Vorgänger, gibt es wenig zu sagen, außer vielleicht:
Zehntens: Es wäre schade, würde Gravity Rush unter den Banalitäten des Tagesgeschäfts verschwinden, wie es schon einmal passiert ist.
Entwickler/Publisher: Sony Japan/Sony - Erscheint für: PS4 - Preis: ca. 60 Euro - Erscheint am: 18. Januar 2017 - Sprache: Deutsch - Mikrotransaktionen: Nein