Grow Home - Test
Ein Roboter und seine Bohnenranke.
Ich bin noch nie so tief gefallen. In keinem Spiel, das ich jemals gespielt habe, bin ich so tief gefallen wie in Grow Home. Ganz weit nach unten, wild piepsend und dann doch zerschellend an der Oberfläche, auf die ich getroffen bin. Dabei habe ich versucht, mich an meiner Ranke festzuhalten. Ist mir aber nicht gelungen. Das ganze Dilemma habe ich mir selbst eingebrockt. Als ich begonnen habe zu spielen, war der Roboter, den ich verkörpere, noch völlig ohne Auftrag. Nur eine Pflanze inmitten der kantigen Spielwelt schrie irgendwie nach Interaktion.
Also ging ich hin. So gut ich eben konnte, denn mein Roboter kann kaum geradeaus gehen, er stolpert, fällt hin, steht wieder auf und kuckt in seltenen Momenten verwirrt in die Kamera. Aber dann war ich da und kletterte hoch: rechter Trigger, rechter Arm, linker Trigger, linker Arm. Und rechts und links und rechts und links und rechts und links und rechts und links. Einfaches Drücken nach oben zählt nicht, bei Grow Home wird für die Fortbewegung gearbeitet.
Als ich zum ersten Mal eine Knospe fand, war das ein ziemlich schöner Moment. Das klingt beinahe sexuell: Ich setzte mich auf die Blüte, betätigte den X-Knopf und sah zu, wie das Ding wuchs. In irgendeine Richtung. Später stellte ich fest: Die Richtung lässt sich beeinflussen. Je nachdem, wie ich den linken Analogstick bewege, bewegt sich auch der neue Trieb: nach oben, nach unten, nach links, nach rechts, im Kreis. Am glücklichsten wird mein Roboter, wenn der Trieb auch noch irgendwo andockt. Am besten an bestimmte leuchtende Inseln in der Spielwelt, denn wenn davon genug an die Hauptpflanze angeschlossen werden, entwickelt sie sich weiter. Wächst in neue Sphären, zu neuen, schwebenden Inseln, die ihrerseits zur Erkundung einladen. Es warten Wasserfälle, riesige Pilze, dunkle Höhlen, Bäume, kleine Wälder sogar.
Ist das Gewächs weit genug nach oben geschossen, heißt es vor allem Klettern. Wieder mit den Triggertasten: Rechter Trigger, rechter Arm, linker Trigger, linker Arm. Mein Gamepad begann beinahe zu quietschen, während ich meinen Roboter Zentimeter um Zentimeter nach oben bewegte. Manchmal fiel der Roboter zurück, weil ich keinen Halt bekam, dann half es, kurz eine der eingesammelten Gänseblümchen als Segel zu benutzen. Manchmal half auch ein Blatt. Wenn ich keine Hilfsmittel hatte, bin ich eben gefallen. Tief. Manchmal bin ich dabei kaputt gegangen und wurde bei einem der Checkpoints neu gebootet. Ein Teleportationssystem half mir irgendwann, die Kletterarbeit einzuschränken: Auf Knopfdruck kann der Roboter neun verschiedene Stationen des Spiels ansteuern, eine höher als die andere.
Dabei entwickelt sich der robotische Protagonist auch selbst. Sein Stolpern und das Purzeln über die Klippe ist erst herzerweichend niedlich, dann Teil des Spielfortschritts. Zur Tollpatschigkeit des Protagonisten gesellt sich bald ein Jetpack, weitere Fähigkeiten sind von der Anzahl der gesammelten Kristalle abhängig. 100 davon hat das Ubisoft-Studio Reflections über diese Welt verteilt, die sich wie in kaum einem anderen Spiel nicht in die Breite streckt, sondern in die Höhe. Oder von oben betrachtet eben in die Tiefe.
Was mich an Grow Home wirklich beeindruckt, ist seine Welt. Während ich mich Stück für Stück nach oben vorarbeite, hinterlasse ich ein Netzwerk von Ranken, darauf zurückzusehen, wirkt enorm befriedigend. „Diesen Trieb hab' ich zu einem Ast werden lassen", denke ich. „Diesen Ast habe ich in diese Richtung überhaupt erst getrieben." Wenn ich dann einmal mehr abrutsche und falle, ist es ein Glück, dass ich auf einem dieser Äste hängen bleibe. Einem meiner Äste.
Bei Grow Home fühlt sich die Welt an, als hätte ich sie selbst konstruiert. Mein Ast, mein Trieb, mein Weg zur nächsten schwebenden Insel. Die Welt in Grow Home wächst organisch und steht damit im krassen Gegensatz zu ihrem robotischen Protagonisten, der darin immer ein wenig wirkt wie ein Fremdkörper. Meine Aufgabe als Spieler ist es, eben diesen Gegensatz zu überbrücken, indem ich klettere, falle und neue Triebe wachsen lasse.