Hat Sherlock Holmes eigentlich jemals einen Fall richtig gelöst?
Das kommende The Devil's Daughter wirft da ein paar sehr elementare Fragen auf.
Hier ist eine kleine Idee für alle, die ein wenig im Literaturmarkt mitmischen wollen: Schreibt eine Serie an Büchern, in denen ihr einen Konkurrenten oder Gegenspieler von Sherlock Holmes erfindet, den bisher noch keiner kannte. Er erzählt dann die wahre Geschichte über den berühmtesten Detektiv und wie jeder seiner Fälle eine Farce ist, weil er immer die falschen Schlüsse zog. Holmes machte die Beobachtung, ging den Spuren nach, aber am Ende rekonstruierte er den Fall falsch und Unschuldige gingen jedes Mal ins Gefängnis oder an den Galgen.
Wie ich darauf komme? Nun, eine kleine Präsentation von Frogwares im Juni kommendem Sherlock Holmes: The Devil's Daughter zeigt, dass der Entwickler ganz klar seine Schiene weiterverfolgt. Ihr macht in einzelnen Szenen die Beobachtungen, folgt den Spuren und das Puzzle breitet sich vor euch aus. Zusammensetzen müsst ihr es aber noch selbst und es ist nicht so, dass es nur auf eine Weise zusammenzupassen scheint. Meine Entscheidungen jedenfalls schickten einen unschuldigen Mann direkt zum Henker, während Mr. Holmes gemütlich und zufrieden mit der Welt seine Pfeife rauchte und in 221b Mrs. Hudson terrorisierte, voller Vorfreude auf seine nächste Runde der Scharlatanerie.
Natürlich wird das nicht der Sinn des Spiels sein, die Unschuldigen anzuklagen, ihr sollte schon den Richtigen finden. Aber nicht nur geht es auch nach einer solchen Fehlleistung weiter, ohne dass ihr sicher sein könnt, den Fall gelöst zu haben - außer ihr benutzt den kleinen „Cheat"-Button am Ende eines Falles. Keine Sorge, euch wird nicht die Lösung verraten, nur dass eure es nicht war und ob ihr Hinweise übersehen habt. Wer nicht damit leben kann, es nicht zu wissen, muss sich also keine Sorgen machen.
Die Lösung wird durch einen zusätzlichen Faktor etwas schwerer gemacht. Bei vielen Details, die zuvor einfach nur beobachtet und als Fakt notiert wurden, gibt es nun Optionen für die Spekulationen, die Holmes darüber anstellt und die auf teilweise sehr unterschiedliche Bahnen führen können. Ist der Taschenspiegel eines Schauspielers nur ein Werkzeug für seine Arbeit oder ein weiteres Zeichen für einen möglichen krankhaften Narzissmus, der ein Motiv sein könnte? Wenn nicht, waren die anderen Hinweise möglicherweise falsch in Holmes' Hirn verortet und als Spieler will man etwas sehen, was vielleicht gar nicht da ist?
Die psychologische Komponente, die einem normalen Adventure sonst meist fremd ist - benutze Katze mit Handy erfordert nun mal keine Einblicke in die Seele, höchstens die des Entwicklers -, wird einen Schritt weitergetrieben. Dass ihr diese Spekulationen nun für euch fest in Form einer angeklickten Überlegungen verankert habt, lässt euch den Charakter in der Folge anders sehen. Diese Überlegungen lassen sich jederzeit ändern, aber das Spiel zwingt euch förmlich, euch mehr mit dem Motiven der Handelnden auseinanderzusetzen, statt brav nur den Screen nach Spuren abzugrasen. Es stellt die entscheidende Frage: „Glückwunsch, du warst in der Lage, mit dem Cursor einen Hotspot zu finden. Aber was bedeutet dieser deiner Meinung nach für die Geschichte?". Und ausgehend davon legt es nicht nur Spuren, die euch zur Lösung führen. Es legt - in dieser einen gesehenen Geschichte sogar geschickt ausgeworfene - Fallstricke, die Holmes vom Meister des Fachs in einen gefährlichen Scharlatan verwandeln, wenn ihr nicht euren eigenen Verstand offenhaltet und alle Möglichkeiten im Hinterkopf habt.
Das Sammeln der Hinweise und Spuren wiederum ist eine Mischung aus verschiedenen Adventure-Elementen und ein klein wenig Quick-Time-Action. Das Banalste ist das Herumrennen in einem Raum und das Anklicken von Hotspots. Die Detailsuche an diesen Punkten oder an NPCs, bevor ein Gespräch beginnt, ist dank der Spekulationsoptionen deutlich spannender und es ist nach wie vor so, dass ihr nicht alle Hinweise finden müsst, um weiterzuspielen. Ihr solltet es natürlich, weil es euch etwas über den Fall verrät und in Gesprächen mehr Optionen gibt. Aber wie auch bei der finalen Lösung könnt ihr euren eigenen Holmes hier sehr lax spielen, ohne dass euch das Spiel gleich mit Warnungen oder Schranken stoppen würde.
Da heute kein Spiel ohne eine Art Detektivsicht auskommt, gibt es in Devil's Daughter ein Element, das ich mal lose mit „Holmes Voraussicht" übersetzen würde - die kommende, komplett deutsche Übersetzung des Spiels denkt sich sicher etwas anderes aus. Ihr steht immer mal wieder vor einem kleinen Problem und Holmes plant im Geiste, wie er es löst. Ähnlich der Robert-Downey-Jr.-Filme setzt ihr damit eine Aktion zusammen und plant sie durch, analysiert ihre Schwächen und weitere Optionen, alles bevor auch nur eine Hand gerührt wurde. In diesem Fall war es eine Wache, die in einem illegalen Kleincasino in einem Hinterzimmer ihren Posten verlassen musste, ohne dass Holmes die Aufmerksamkeit auf sich selbst zieht. Ihr bemerkt den elaborierten Falschspieltrick bei einem der Kartenspieler und setzt in einer Art Schattenkabinett alle Schritte zusammen, bis ihr zu dem gewünschten Ergebnis kommt.
Im gezeigten Fall war das simpel - es war ja auch praktisch das Tutorial für dieses Element, es gab keine falsche Lösung und alles passierte genau wie erwartet. Aber das muss wohl später nicht immer der Fall sein, wenn ihr etwas falsch macht, und gelegentlich soll es wohl auch mehrere Lösungswege geben. Das würde das ganz niedliche Abklicken der Hotspots in ein interessantes Adventure-Element wandeln. Über die Quick-Time-Elemente breiten wir für den Moment gnädig den Mantel relativen Schweigens, vor allem, weil es die Präsentation auch tat. Holmes war immer eine Figur, die auch vor ein klein wenig physischer Action nie zurückschreckte, in diesem Falle war es das Balancieren über ein Hochseil, das ihr mit dem Herumrudern an beiden Analogsticks hinter euch bringt. Gibt Schlimmeres, tat nicht mehr weh, als es musste.
Die größere Sorge ist natürlich die Qualität der Fälle und darüber lässt sich nach der kurzen Vorführung sagen, dass die erste Runde sicher nur als Auftakt für eine größere Geschichte gesehen werden muss. Ein Attentatsversuch auf Holmes ist ja so was die Butter und Brot für größere Dinge, die da folgen, aber dank vieler neu geschriebener Holmes-Geschichten, sei es BBCs Sherlock oder Bücher namhafter Krimiautoren mit neuem Material, ist die Erwartungshaltung bei der Figur hoch. Potenzial ist im Setting und in den Figuren endlos vorhanden und da Frogware auch zuvor ordentliche Fälle für Holmes inzenierte, die die „reale" Figur sicher auch nicht als zu langweilig abgelehnt hätte, bin ich da insgesamt guter Dinge.
Überhaupt, das wird was. Die Technik wurde ein wenig verfeinert und die Welt ausstaffiert, auch wenn die Gesichter dank mehr Details nun aus dem tiefer werdenden Uncanny Valley heraus Postkarten verschicken. Die Spielelemente scheinen noch nahtloser als zuvor ineinanderzugreifen und vor allem habt ihr mehr Möglichkeiten, auf die falsche Spur zu kommen, und das Spiel sieht sich nicht dazu genötigt, euch unbedingt auf den richtigen Pfad zu zwingen. Ganz im Gegenteil und genau so, wie es sein sollte. Zu verhindern, dass Holmes dafür gefeiert wird, eine Reihe von Unschuldigen ins Unglück gestützt zu haben, und ihn stattdessen die richtigen Schlüsse ziehen zu lassen, dürfte wieder ein gutes Stück Arbeit sein. Aber was tut man nicht alles, um nicht derjenige zu sein, der Holmes bisher tadellose Reputation auf dem Gewissen hat?