Hatoful Boyfriend - Test
Auf dem schmalen Grat zwischen Dämlichkeit und Genialität.
Wenn ich anderen Personen davon erzähle, dass ich ab und zu eine Visual Novel spiele, erhalte ich im Gegenzug oft abwertende Blicke. "Visual Novels? Sind das nicht diese komischen Hentai-Spielchen?", gehört wohl zu den häufigsten Kommentaren, die ich mir unter anderem anhören durfte. Obwohl ich solche ignoranten Sätze gut nachvollziehen kann, bin ich sie trotzdem leid. Denn Visual Novels haben mehr als nur pornografisches Material. Ja, Romanzen bilden einen Großteil der behandelten Thematik, doch verbergen sich dahinter teils dramatische Geschichte mit tragischen Figuren.
Deswegen stand ich Hatoful Boyfriend zunächst ein wenig skeptisch gegenüber. Auf den ersten Blick scheint es nur eine überdrehte Parodie des Genres zu sein. Schließlich spielt ihr ein Mädchen, das eine Privatschule für Vögel besucht und während ihrer Schulzeit eine romantische Beziehung mit einem der fedrigen Wesen anstrebt. Zwar verhalten sie sich wie ganz normale Personen, doch ihr Äußeres ist das eines Vogels. Ganz ohne anthropomorphe Eigenschaften.
Es ist verrückt, absolut bekloppt und total bescheuert. Typisch japanisch eben, könnte man meinen und Hatoful Boyfriend daher schnell abstempeln. Doch es ist wesentlich cleverer und nutzt sein Setting nur als Köder. Man soll verwirrt sein und das Geschehen nicht ernst nehmen. Die perfekte Ausgangssituation, um später alles auf den Kopf zu stellen und euch sprachlos vor dem Monitor sitzen zu lassen.
Hatoful Boyfriend arbeitet in verschiedenen Phasen, in denen es seinen Ton mehrfach ändert und euch kleine Hinweise auf ein größeres Puzzle hinterlässt. In den ersten Minuten wirkt das Spiel vollkommen normal. Zumindest so normal, wie eine Dating-Simulation mit Vögeln sein kann. Ihr beginnt ein neues Jahr an der Schule, trefft auf die verschiedenen Charaktere und erhaltet einen kurzen Einblick in ihre absichtlich stereotypischen Persönlichkeiten. Ihr trefft kleine Entscheidungen und erhaltet sogar verbesserte Werte nach bestimmten Kursen.
In dieser Phase arbeitet Hatoful Boyfriend mit Genreklischees und macht sich öfter über bestimmte Konventionen lustig. Es möchte durch das übertriebene Setting auf die simple Struktur hinweisen und diese gleichzeitig mit abgefahrenen Szenarien zelebrieren. So folgt ihr beispielsweise einer Suche nach dem perfekten Pudding. Natürlich erwarten euch dabei eingestreute Rollenspielkämpfe. Warum? Weil man es kann!
Auf der anderen Seite verstecken sich ebenso nette Kurzgeschichten über tragische Momente im Leben eurer Klassenkameraden. Auch hier nutzt Hatoful Boyfriend die irre Ausgangssituation, um euch kalt zu erwischen. Niemand erwartet eine echte Charakterentwicklung in einem Spiel über Vögel. Aber sie existiert genauso wie die abgedrehten Geschichten. Es hängt eben davon ab, welchen Vogel ihr wählt und was für Entscheidungen ihr trefft. Jede Route dauert knapp zwei bis drei Stunden, bevor ihr das jeweilige Finale erlebt. Anschließend startet ihr das Abenteuer neu und verfolgt einen anderen Pfad.
Hatoful Boyfriend, zumindest in der Originalfassung von 2011, richtete sich an Freunde des Genres. Es rechnete fest damit, dass der Spieler sämtliche Routen verfolgt, weil er diese Strategie in jeder anderen Visual Novel auslebt. Das ist ein wichtiger Punkt, den nicht viele westliche Spieler nachvollziehen können. Und so beenden sie Hatoful Boyfriend nach zwei bis drei Durchgängen in der Annahme, alles Wichtige gesehen zu haben. Dabei hat der Titel gerade erst angefangen. Das wahre Ende, die einzig echte Route durch das Spiel, öffnet sich nur nach mehrfachen Durchgängen. Erlebt mit jeder Figur zumindest ein Ende und euch erwartet beim nächsten Mal ein komplett anderes Spiel.
An dieser Stelle will ich nicht zu viel verraten, da sich Hatoful Boyfriends wahre Intentionen erst an dieser Stelle zeigen. Plötzlich wählt das Spiel einen dunklen Pfad und treibt euch in eine unerwartet düstere Spirale der besten Sorte. Ich dachte zu diesem Zeitpunkt, schon alle Facetten und Ebenen des Titels erlebt zu haben. Doch Hatoful Boyfriend schaffte es zum wiederholten Mal, meine Erwartungshaltung gegen mich zu wenden.
Leider hat man diesen Twist nicht für das HD-Remake angepasst. Denn es spielt ausschließlich mit dem Verhalten der japanischen Fans. Neulinge dagegen werden kaum bis zum Ende bleiben und verpassen dadurch den besten Teil des Spiels, weswegen ich hier deutlich darauf hinweise. Warum muss ich erst alle Routen erleben, bevor das große Finale kommt? Die drastische tonale Wandlung erzielt bereits nach einem Durchlauf ihre Wirkung. In meinen Augen der größte Fehltritt der Neuauflage.
Ansonsten funktioniert Hatoful Boyfriend als grandioser Einstieg in das Genre. Man bezahlt den Eintritt für die unglaublich dämliche Prämisse und bleibt für die ständigen Überraschungen. Das Gameplay mag bis auf kleinere Ausnahmen nie vom trockenen Standard üblicher Titel abweichen, funktioniert auf diese Weise aber besser als Katalysator für die Dekonstruktion von Visual Novels. Eine gewisse Affektion zum simplen Ablauf reiner Textfelder mit mageren Zeichnungen benötigt man, um Hatoful Boyfriend zu genießen. Wer allerdings schon Bekanntschaft mit einem Phoenix Wright, Danganronpa oder Zero Escape gemacht hat, darf Hatoful Boyfriend als perfekten Übergang zu traditionelleren Visual Novels ansehen.
Und bitte, bleibt bis zum wahren Ende. Schnappt euch von mir aus eine Lösung und überspringt so ein paar der Routen. Es lohnt sich. Hatoful Boyfriend bringt euch zuerst zum Lachen, dann zum Mitfühlen und abschließend sticht es euch von hinten das Messer in den Rücken, wenn ihr es am wenigsten erwartet.
Wir bedanken uns bei gog.com für das Testmuster.