Hello Neighbor - Hitchcock lässt grüßen
Home-Invasion-Horror mal andersrum.
Es ist eine spannende Verkehrung, die sich Hello Neighbor traut: In Dynamic Pixels Survival-Adventure ist man kein Abenteurer auf der Suche nach dem Ausweg aus einer undenkbar schrecklichen Lage, aus einem Spukhaus, einer Raum- oder Unterwasserstation. Man begibt sich aus freien Stücken in die Höhle des Löwen. Dieser Löwe, das ist euer neuer Nachbar. Direkt nach eurem Umzug in einen pittoresken Vorort ist euch klar: Der Typ, der auf der anderen Straßenseite in dem extravaganten und windschief übereinandergeschichteten Sesamstraßenturm wohnt, hat etwas Finsteres zu verbergen. Und ihr setzt Leib und Leben aufs Spiel, um herauszufinden, was das ist.
Wenn es eine Erklärung dafür gibt, warum die vom Spieler in der Egosicht verkörperte Hauptfigur nicht die Polizei ruft oder nach den ersten albtraumhaft-surrealen Erkenntnissen nicht direkt wieder die Zelte abbricht, dann habe ich sie noch nicht gehört. Aber die Neugier hat einen dann eh schon längst am Kragen und man will wissen, was in jedem Raum der wie von einem bösen Clown gebackenen, grotesken Hochzeitstorte von einem Haus vor sich geht. Das Home-Invasion-Thema wird also mal eben umgedreht: Ihr seid der Eindringling. Der Bewohner weiß im besten Fall nichts von euch, während er autonom und auf Geräusche und Sichtkontakt reagierend durch sein Haus streift, und gerät - sobald er merkt, dass ihr die Nase in seine Angelegenheit steckt - zur lebensbedrohenden Naturgewalt, die euch unaufhaltsam, aber abhängbar nachstellt.
Das erzeugt schon bald eine Fenster-zum-Hof-artige Spannung, während man die zahlreichen Werkzeuge erst beschaffen und dann nutzen muss, um tiefer in die Architektur gewordene Extravaganz vorzudringen. Etwa einen Hammer, um eine verrammelte Tür zu öffnen. Und dann sind da die Fallen, die der berechtigterweise paranoide Nachbar mit dem markanten Schnäuzer in seinem Anwesen platziert. Herzhaft zuschnappende Bärenfallen sind da nur der Anfang. Mein Liebling aktuell: der Fußboden eines Zimmers im ersten Stock, der als Haifisch-Pool angelegt ist. Wie man da vorbeikommt? Die Wasserheizung im Erdgeschoss abstellen, damit dem aquatischen Sägezahn sein Reservat zufriert.
Die größte Stärke von Hello Neighbor ist zweifelsohne, wie es trotz der prinzipiell freundlichen, ein bisschen nach Double Fine aussehenden Grafik ein permanentes Unwohlsein verströmt. Stets spielt das Gefühl mit, dass man eigentlich nicht hier sein sollte. Ist man am Ende selbst das Problem? Aber was hat er dann zu verbergen und verbarrikadieren? Und warum zur Hölle schlängeln sich ein riesiges Fallrohr und eine automatisierte Eisenbahn um die oberen Stockwerke herum? Das Spiel, seine Umgebung und nicht zuletzt die Vorkommnisse dort inszenieren sich schräg und stellenweise beinahe Lynch-esk surreal. Irgendwann sind die Ereignisse schlicht mit einem kriminellen Geheimnis des Nachbarn nicht mehr zu erklären, was einen nur noch tiefer in diese absurde Exkursion hineintreibt.
Spielerisch ist es eine seltsame Mischung aus verschwiegenem Walking-Simulator, simplem Versteck- und Weglauf-Stealth der Marke Amnesia und ein paar verdammt gut gemachten, prozedural aus dem Verhalten der KI entstehenden Schockeffekten. Wird man erwischt, fängt man in seinem Haus mehr oder weniger von vorne wieder an, allerdings verändert sich das eine oder andere am Nachbarshaus und man behält schon mal ein Objekt aus dem letzten Durchgang, gewisse Türen bleiben offen, bestimmte Anlagen deaktiviert. Allerdings liegen im Falle eures Ablebens hier und da auch neue Bärenfallen herum und einige Fenster und Türen, die zuvor noch offen waren, sind beim nächsten Anlauf verrammelt.
Die vielen herumliegenden Gegenstände ausprobieren, erwischt werden, noch mal versuchen, oder es beim ersten Mal richtig machen. Schleichend vorgehen, ein Nickerchen des angeblichen Bösewichts abwarten, um den Schlüssel von seinem Gürtel zu stibitzen, hier und da für Ablenkungen sorgen (Fenster kaputtmachen, einen Wecker klingeln lassen), um an anderer Stelle einzusteigen, und immer schön auf die klanglichen Signale achtgeben, die von der Anwesenheit des Nachbarn künden. Das ist der Rhythmus, mit dem man sich durch die diversen Stockwerke puzzelt. Technisch ist das alles immer noch ein bisschen krude und in der Handhabung manches Mal ungelenk, wenn mal wieder Interaktionen nicht ganz leicht von der Hand gehen. Das Rätseln und das vage Mysterium hinter dem Nachbarsgeheimnis hat aber schon jetzt einen guten Dialog in der Community über den Titel des russischen Indie-Entwicklers entfacht.
Vorbesteller könnten aktuell die vierte Alpha des Titels herunterladen und wer auch nur geringes Interesse an diesem Spiel hat, der sollte eher darüber nachdenken oder bis zum Release warten, als sich die Demo anzuschauen, die sowohl auf Steam als auch auf gog.com zu haben ist. Die ist eine der übleren, die mir in der jüngeren Vergangenheit untergekommen ist. Technisch, spielerisch und gestalterisch noch um Meilen der Alpha 4 hinterher und gleicht dem Spiel, das uns hier in Bälde erwartet, so gut wie gar nicht mehr. Interessant ist in dieser Hinsicht übrigens auch, wie sich das Spiel über all die vergangenen Alphas gewandelt hat. Sowohl das eigene als auch das Haus des Nachbarn wurden jedes Mal fast komplett neu gestaltet, was im Falle des Hauses auf der anderen Straßenseite auch komplett andere Rätselanordnungen und eine veränderte übergeordnete Handlung - wenn man denn davon sprechen möchte - bedeutet.
Ein bisschen Sorge bereitet mir noch, dass Wegrennen und Verstecken eventuell noch ein etwas zu erfolgversprechender Weg ist. Ich spiele Hello Neighbor mit zusammengebissenen Zähnen, angehaltenem Atem schleichend und um jede Ecke lunzend. Andere Leute, wie man aktuell gut auf Youtube beobachten kann, ziehen ihr Katz-und-Maus-Spiel eher als Tom-und-Jerry-Wettrennen auf und hier geht für mich persönlich ein wenig die Spannung verloren. Dynamic Pixels war sich in der Vergangenheit aber schon nicht zu schade, Ablauf und Regelwerk umfassend umzubauen, insofern ist hier wohl noch nicht das letzte Wort gesprochen.
Auf jeden Fall einer der interessanteren Indie-Titel, die sich gerade in der Entwicklung befinden. Die Entwickler spielen ausgezeichnet mit der Angst vorm Ertapptwerden und der Stil macht die technische Simplizität in einem Handstreich vergessen. Ein gekonnter, gar nicht bequemer Thriller mit einem ausgeprägten Sinn für absurden Humor. Dranbleiben!
Entwickler/Publisher: Dynamic Pixels/Tiny Build - Erscheint für: Xbox One, PC - Geplante Veröffentlichung: 29. August