Hitman: Erste Season - Test
Und wieder von vorn. Diesmal mit der Kloschüssel.
Die erste Staffel des neuen Hitman lässt sich in zwanzig Minuten beenden, im Sinne von "alle Missionen erledigt, Zielpersonen auch". Ich habe nach Abschluss jeder Episode in die Bestenlisten gesehen, und Junge, Junge. Der Italien-Abschnitt Sapienza, den ich im vergangenen Frühjahr als vielleicht besten Hitman-Level der Reihe bezeichnete: geschafft in weniger als zwei Minuten, nur die beiden Zielpersonen erwischt, kein Alarm, kein Mucks. Schnell rein und raus. Mir qualmt immer noch der Kopf allein von der Vorstellung.
Inzwischen sind die sechs Episoden plus eine Bonusfolge als erste Staffel im Handel erhältlich. Es ist ein Wettbewerb geworden unter Tüftlern, die den glatzköpfigen, im Genlabor geborenen Attentäter Nr. 47 alle auf ihre Art verkörpern. Solange man online spielt, heißt das, sonst gibt es keinerlei Punkte, Bewertungen oder Leaderboards. Darunter ist es aber auch eines der gemütlichsten und bedachter Gangart verpflichteten Spiele, in denen Menschen durch Waffen sterben. Sie können ebenso gut durch Kaffee, Kronleuchter, explodierende TV-Kameras, Lautsprecher oder ein unfreiwilliges Besäufnis mit dem Kopf in der Kloschüssel umkommen. Was die ausladenden Umgebungen beim Erschlagen von oben, plumpen Erstechen oder kunstvoll in Szene gesetzten Unfall hergeben.
Das neue Hitman ist bepackt mit einer Ladung Systeme, der vielleicht komplexeste Teil seiner Reihe, mehr eine Art "Wie-probieren-wir-es-heute"-Simulator, dem man jedes Mal aufs Neue kleine Geschichten abgewinnen kann. Auf dem Weg durch die wunderbar verwinkelten Level könnt ihr verstohlen durch Wandlöcher spähen oder einen Sprengsatz vor dem Gefilztwerden in einem Papierkorb bunkern. In Bangkok könnt ihr das Hotelpersonal telefonisch aufs Zimmer zitieren, um eine entsprechende Uniform zu erbeuten. Wer nicht aufpasst, wird in gesperrten Bereichen von Überwachungskameras gefilmt und kann die Aufnahmen sogar vernichten, im richtigen Raum natürlich nur, und an Räumen gibt es in jeder Location ein paar Dutzend.
Das Erlebnis besteht aus solchen Versatzstücken und vielen anderen. Wie es dazwischen weitergehen kann, nachdem der Gärtner als Beobachter am falschen Ort in einer Kiste landete, das liegt komplett in eurer Hand. Der größte Reiz ist die freie Spielweise, wie sie sich von Moment zu Moment ergibt, die Dinge nehmen zu können, wie sie kommen. Viele NPCs, egal ob Zielperson oder nicht, laufen in den Abschnitten herum, mal auf den Balkon zum Rauchen, mal auf die Toilette, wo man den Bankpraktikanten gerade in eine Kabine schleifte. Seine Schuld. Er stand im Weg und sein Outfit schien vielversprechend, um in die besser gesicherten Gebäudebereiche gelangen zu können.
Entwickler Io Interactive, das darf man noch mal unterstreichen, hat sein Versprechen der kompakt gebauten Sandbox-Level statt eines linearisierten Ablaufs wie in Hitman: Absolution nicht nur gehalten. Sie hätten es auch ohne Probleme Blood Money 2 nennen können, so sehr erinnert dieses Reboot an die große Freiheit.
Regeln kennt Hitman nur die automatisch aus dem Spielrahmen hervorgehenden. Erlaubt ist, was die Entwickler möglich machen. Sie erteilen lediglich eine Empfehlung dahingehend, sich langsam zu bewegen und wenig Aufsehen zu erregen. Nicht nur, weil Hitman als Shooter eine ungelenke Figur abgibt, oder besser gesagt: auf diese Art nur mit Abstrichen spielbar ist (KI doof, 47 kippt nach wenigen Treffern vornüber). Vor allem deswegen, weil Hitman seit jeher an euer Gefühl für Eleganz und analytischen Auges geplante Abläufe appelliert. Für jeden Ausreißer abseits der getöteten Zielperson - jemand anderes erwischt, dabei beobachtet worden, Alarm - hagelt es Punktabzug. Außerdem ist es einfach schön, die selbstgelegte Falle zuschnappen zu sehen.
Neuversuche sind fest mit einberechnet. Die Spielsysteme erschöpfen sich nicht im Schleichen und Ballern. Selbst in Verkleidung eines Sicherheitsmannes habt ihr keinen Zugang überall hin. Zur geheimen Sitzung des Spionagerings im Obergeschoss einer Pariser Vernissage dürfen nur geladene Gäste und die Tür- bzw. Treppensteher sind bestens instruiert. Sogar ihre Sprüche ändern sich je nachdem, in welcher Verkleidung man es probiert. Außerdem erkennen höhergestellte Aufpasser, wenn jemand Amtsanmaßung in ihren Reihen betreibt.
Derlei Freigabestufen ergeben zusammen mit dem Lärm - beim ablenkenden Wurf einer Dose oder Flasche - und dem Unterschied zwischen sichtbarer und versteckter Bewaffnung ein spielerisch reizendes Gebilde, über das ich vor einem Jahr im Test des Hitman-Intro-Packs zur Genüge sprach. Seht den Text als Ergänzung hierzu, denn in späteren Abschnitten ändert sich daran nichts. Io bildet nach wie vor kleine geschlossene Kosmen ab. Nicht nur mit teils Hunderten NPCs, die sich in Marrakesch zu einem atemberaubenden Lynchmob zusammenfinden, auch mit der Einbindung ihrer Unterhaltungen.
Es ist ein Genuss, drei Meter hinter den Zielpersonen mitzulaufen, ihren Launen beizuwohnen und sich die Hände zu reiben in Gedanken daran, wo man überall neckische Tretminen platzieren könnte. Bleiben wir kurz bei den Menschen, haben wir auch eines der größten Probleme: Klone. Es wirkt schon komisch, wenn zweimal dieselbe Frau nebeneinander steht, mit der gleichen Kleidung, nur in anderer Farbzusammensetzung. Einem flüchtigen Blick hält das stand, aber keinem genaueren. Man kann wohl nicht 200 verschiedene Personen für einen Abschnitt gestalten.
Und ganz generell. Wie schon beim Intro-Pack festgestellt, muss man nicht extra nach Fehlern suchen. Sie sind da und sie werden auch nicht verschwinden. Dafür ist es als Spiel, das im weitesten Sinne menschliches Verhalten nachstellt und dafür die erwähnten Systeme konsultiert, schlichtweg zu komplex. Darunter leidet schlimmstenfalls die harte Logik der Welt, in einem Rahmen jedoch meist, den ich hinzunehmen bereit bin. Als kleines Beispiel: In einer Episode stürmte ich mit gezogener Waffe auf die Zielperson und ihre Bodyguards. Klappte so weit auch prima. Ich erwischte alle und als Alarm ausbrach, schnappte ich mir eine ihrer Uniformen. Personen in der Umgebung brauchen eine Weile, bis sie sich in Bewegung setzen. So konnte ich den Status "Jagd" (Wachpersonal greift sofort an) auf "Suche" senken (halten ein Auge offen), durch einen weiteren Wechsel schließlich auf "Weiße Weste" - was nicht wirklich so heißt, aber am Ende der Fall ist.
Das kann wiederum auch ganz cool sein, ist man schnell genug aus dem Staub. Auf der anderen Seite der Hotelanlage grüßen mich zwei Angestellte noch freundlich mit dem Namen desjenigen VIPs, von dem ich das Outfit klaute, weil sich der Tumult bislang anscheinend nicht bis hierher ausgebreitet hat. Hitman ist auch ein Spiel, das mit lebendigem Verhalten verblüffen kann. Etwa wenn ein Zeuge aufgebracht zum Polizisten um die Ecke eilt und ihm sehr anschaulich beschreiben kann, was er gerade auf der Toilette gesehen hat.
Immer wieder zappelt ein NPC komisch durch die Gegend oder bleibt irgendwo hängen. Wachen unterhalten sich über eine Zielperson, die gerade unweit von ihnen in die Luft flog. Ein Mann vom Toilettenpersonal erwischt mich beim Hineinwuchten einer Leiche in einen Schrank und sagt "Du kannst mit einem Kadaver nicht einfach tun, was du willst. Es gibt Gesetze, weißt du?", bevor er kreischend die Flucht ergreift. Allein dass er ein überlaufendes Waschbecken durch zwei geschlossene Türen hindurch bemerkt und dem nachgeht, ist im besten Fall eine süße Skurrilität. Immer wieder konfrontiert euch Hitman mit derlei Brüchen im Dienste der Spielmechanik. Und wen juckt's, wenn jeder Einsatz auch beim fünften, sechsten Mal noch spannend bleibt?
Das Erkunden der öffentlichen und abgeriegelten Bereiche ist nicht bloß eine Freude, weil manche Nebenzimmer verschwenderisch mit Objekten eingerichtet sind - auf die Gefahr hin, dass sie nur wenige Spieler zu Gesicht bekommen. Sondern auch deshalb, weil 47 ebenso mobil ist, wie die Umgebungen auf strukturelle Vielfalt ausgelegt. Neben normalem und schleichendem Gang kann er Regenrinnen erklimmen oder an Balkonen entlangkraxeln, um Leute hau-ruck-mäßig in die Tiefe zu ziehen. Er kann durch offene Fenster hüpfen und in Schränken die heiße Phase aussitzen. Man hat immer das Gefühl, nach Gusto auf die derzeitige Situation reagieren zu können. Nehmen wir das händische Auslösen eines Feueralarms: Die Zielperson macht sich auf den Weg Richtung Schutzraum und man muss bloß eine Annäherungsmine auf die Kellerstufen legen. Zack, das war es. Nicht ohne Kollateralschäden zwar, aber sie fliegen doch alle so herrlich. Ich könnte ewig solchen Blödsinn anstellen.
Und eigentlich kann man das, selbst nach dem Absolvieren aller Herausforderungen in sämtlichen Episoden. Io möchte Hitman als beständige Plattform positioniert sehen, mit stetigem Nachschub, der sich aus seiner Mechanik ergibt. Eine Sache sind spielererstellte Einsätze. Ihr könnt mehrere Zielpersonen in einer Episode festlegen, die andere Leute nach bestem Können jagen und zur Strecke bringen müssen.
Einen Schritt weiter gehen die Elusive Targets (Deutsch: schwer zu fassende Ziele). Hier erhält man ein Briefing nebst Foto und kleiner Hintergrundgeschichte des Gejagten. Mehr nicht. Speichern könnt ihr ebenso vergessen wie eine farbliche Zielmarkierung oder einen Neuversuch, sollte der geplante Schraubschlüssel statt in den Kopf nur in die Hose gehen.
Das ist gleichzeitig der größte Reiz am neuen Hitman. Es war schon immer ein Gradmesser der Planung und Geduld nach eigenem Vermögen, manchmal auch der zerstörerischen Spielernatur. Ihr könnt euch durchschlawinern und dem widerlichen Winkeladvokat einen schnellen Kopfschuss reindrücken, wenn die Gelegenheit günstig scheint. Das Geschehen kann mit der Schrotflinte im Anschlag völlig entgleisen oder in gelenkten Bahnen verlaufen, nimmt man sich Zeit, die verführerisch mit Möglichkeiten eingedeckten Umgebungen zu erkunden.
Und ungeachtet der vielen zum Unfall hingebogenen Attentate, die sich hier teils mühevoll inszenieren lassen, hat man so schnell nicht alles gesehen. Mir käme derzeit kaum ein besseres Spiel in den Sinn, es immer wieder voller Elan zu probieren.
Entwickler/Publisher: Io Interactive/Square Enix - Erscheint für: PC, PS4, Xbox One - Preis: 60 Euro - Erscheint am: 31.01 - Sprache: Deutsch (Untertitel), Englisch (Sprachausgabe) - Mikrotransaktionen: Nein